Die Antwort ist einfach
Die Antwort ist wirklich einfach, denn wir alle kennen solche Fotos. Sie wecken unsere Neugierde, indem sie etwas Unbekanntes zeigen, oder etwas Bekanntes auf besondere Weise. Sie regen unsere Phantasie an. Sie berühren uns emotional. Sehenswerte Fotos sprechen für sich selbst:
© Nick Ut, The Horror Of War, 1972, Quelle: Wikimedia
© Yongqing Bao, The Moment, 2019, Quelle: Natural History Museum, London
Je mehr sie dies tun, desto weniger müssen sie perfekt sein. Ihre Urheber/innen müssen auch nicht viele Worte hinzufügen - was nicht bedeutet, dass zusätzliche Informationen überflüssig sind. Auch wenn sie für die Bildwirkung nicht unbedingt erforderlich sind, sind sie dennoch oft nützlich. Bemerkenswerte Bilder sind solche, die besondere Aufmerksamkeit, Bewunderung oder Lob hervorrufen. Sie gehen uns direkt unter die Haut. Hier ist ein weiteres Bild, das ich vor einem Jahr in der Ausstellung The Family of Man in Clervaux (Luxemburg) gesehen habe:
© Wayne Miller, The universe resounds with the joyful cry I am, 1946
Ist das für uns überhaupt wichtig?
Jetzt werden einige womöglich denken: "Das ist eine Nummer zu groß für mich! Ich bin nur ein Hobbyfotograf, kein Profi". Und wie Tanja Loughcrew in ihrem Kommentar zu meinem Artikel "Was ist ein gutes Foto?" hervorhob: Viele sind nur bei ipernity, um sich zu vernetzen und mit anderen zu kommunizieren - "... mit Fotos, die einem selbst etwas bedeuten, und von denen man erhofft, sie würden/werden auch Anderen zusagen, in welcher Art auch immer."
Für uns als selbstorganisierte Interessengemeinschaft gibt es jedoch einen wichtigen Grund, uns mit diesem Thema zu befassen:
Es ist entscheidend für die Zukunft unserer Gemeinschaft!
Besucher/innen aus dem World Wide Web erkunden unsere Website in der Regel über den Explore-Button auf unserer Homepage:
© ipernity, 2022, Quelle: Homepage Proof #1477
Von dort werden sie zu unseren 'Schaufenstern' geleitet: zu unserer Präsentation ausgewählter Gruppen, zu unserer Galerie mit den beliebtesten kürzlich hinzugefügten öffentlichen Fotos, sowie zu unserer Präsentation der sehenswertesten Fotos unserer Gemeinschaft.
Wir befinden uns also in einer ähnlichen Situation wie ein/e Ladenbesitzer/in, der/die das Schaufenster seines/ihres Geschäfts dekorieren möchte: Was soll man ausstellen? Die Antwort ist ebenfalls einfach: alles, was den Blick von Passantinnen und Passanten anzieht:
© seise, 1(560)...austria vienna...street, 2020, Quelle: seise@ipernity
Was ist ein Blickfang?
Keinesfalls das Normale, das Alltägliche. Auch wenn man ein Geschäft für Dinge des täglichen Bedarfs hat, wird man nur solche Dinge ins Schaufenster stellen, welche Passantinnen und Passanten dazu bringen, stehen zu bleiben, genauer hinzuschauen und bestenfalls gleich Ihren Laden zu betreten. Schaufenster sind nicht für Stammkundinnen und Stammkunden gedacht, die wissen, was sie wollen und wo sie es bekommen, sondern für Laufkundschaft. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Stell Dir vor, Du betreibst ein Geschäft für Unterwäsche. Was gehört in ihr Schaufenster? Sicherlich nicht die alltägliche weiße Feinripp-Unterwäsche, sondern attraktive, modische Unterwäsche, die man vielleicht nicht kauft, aber gerne anschaut:
© Bergfex, Photo walk in my home village, 2020, unpublished yet
Und was ist mit unserer Galerie?
Leider zeigt unsere Galerie nicht nur besonders sehenswerte Fotos, sondern auch viele Alltagsfotos. Das müssen keine schlechten Bilder sein. Sie können sogar einmalig sein, sind aber nicht zwangsläufig immer ein Blickfang.
Zwei weitere Schwächen unserer Galerie sind: Sie zeigt nur die neuesten Bilder und nur die populärsten, die gleich nach dem Hochladen die meisten FAVs und Kommentare bekommen. Das sind aber nicht immer die bemerkenswertesten Bilder, auch wenn es jeder und jedem von uns schmeichelt, eines unserer Bilder dort zu finden. Vielleicht ist Dein Bild sogar an die Spitze der Galerie gelangt, weil Du sozial gut vernetzt bist? Herzlichen Glückwunsch! Das ist völlig in Ordnung. Dafür ist ipernity ja da. Aber leider ist die Bewertung durch Freundinnen oder Freunde selten objektiv, und für externe Besucher/innen ist sie völlig irrelevant.
Was ist für externe Betrachter/innen attraktiv?
Unvoreingenommene externe Betrachter/innen nehmen ein Bild immer aus drei Blickwinkeln wahr:
1. Aufmerksamkeit
Vor kurzem habe ich den Dokumentarfilm "Terra X, Abenteuer im Winter - Tiere im Schnee" gesehen. Darin geht es um den Einsatz von Hightech-Miniaturkameras in realistischen Tierrobotern oder künstlichen Schneebällen. Das sieht dann so aus:
Beim ersten Kontakt mit der Schneeballkamera waren die Eisbären außerordentlich interessiert. Konnte man sie fressen, oder war sie gefährlich? Nach kurzer Zeit interessierten sich die Bären jedoch überhaupt nicht mehr für die Kugel. Sie konnte nun ungestört um die Bären herumrollen. Sie wurde ignoriert und konnte tun, wozu sie gedacht war: Nie zuvor gesehene Filmaufnahmen von Eisbären in freier Wildbahn machen.
Warum ich das zitiere? Weil wir Menschen uns nicht anders verhalten als die Tiere. Unbekanntes erregt immer unsere Aufmerksamkeit. Das Vertraute hingegen zieht uns weniger an:
Beim Betrachten von Bilderserien haben wir eine fluktuierende Aufmerksamkeit. Sie variiert von Bild zu Bild. Um die Reaktion auszulösen, ein Bild genauer betrachten zu wollen, muss eine gewisse Reizschwelle überschritten werden. Diese Schwelle ist von Mensch zu Mensch verschieden und hängt auch stark von unserer Ermüdung ab. Wir kennen das: Wenn wir uns nach Feierabend durch die ipernity-Galerie klicken, lässt unsere Aufmerksamkeit meist schon nach wenigen Übersichtsseiten nach.
Unseren Besucherinnen und Besuchern geht es beim Betrachten der sehenswertesten Bilder von ipernity kaum anders. Wenn wir also die Aufmerksamkeit der Betrachter/innen gewinnen wollen, tun wir gut daran, Motive zu präsentieren, die unbekannt, selten oder instinktauslösend sind. Weniger geeignet sind Motive, die man schon oft gesehen hat, oder die Alltäglichkeiten zeigen.
Im heutigen Medienzeitalter sind wir alle mit Eindrücken übersättigt. Es braucht schon etwas Besonderes, um Betrachter/innen hinter dem Ofen hervorzulocken. Außer einem besonderen Motiv kann es auch das Glück sein, eine einzigartige Situation einfangen zu können. Sie muss nicht so außergewöhnlich sein wie der Kuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker. Auch kleine Begebenheiten wie sich paarende Schnecken können einzigartig sein.
Das Problem ist nur: Seltene Motive oder Situationen sind selten. Das liegt in ihrer Natur. Vieles ist schon bekannt. Aber vielleicht noch nicht so, wie Du es fotografiert hast? Möglicherweise hast Du eine besondere Perspektive gewählt, eine besondere Lichtsituation ausgenutzt oder warst auf andere Weise kreativ, was zu einem wirklich einzigartigen Ergebnis geführt hat? Hier können wir alle unser kreatives Talent und unser Können als Fotografen ausspielen, auch wenn wir nur Amateure sind.
2. Fantasie
Auch diesen Blickwinkel möchte ich anhand eines Beispiels verdeutlichen. Was sehen wir hier?
© Heidiho, speechless, 2015, Quelle: Heidiho@ipernity.com
Frauen in Burkas, eine Backsteinmauer mit einem vergitterten Fenster, alles bei hochstehender Sonne fotografiert. Wenn man genau hinschaut: Nur die Frau ganz rechts scheint zu gehen. Die anderen stehen still. Und jetzt? Welche Geschichte erzählt Dir das Bild? Oder besser gesagt: Was flüstert Dr Deine Fantasie zu? Was auch immer es ist, es ist mit 99,999%iger Wahrscheinlichkeit falsch. Heidiho hat die wahre Geschichte unter das Bild geschrieben. Lies sie selbst.
Die oft verwendete Metapher: "Ein gutes Bild erzählt eine Geschichte" ist linguistischer Unsinn. Kein Bild erzählt jemals etwas. Was wir zu sehen glauben, spielt sich nur in unserer Fantasie ab. Unser Gehirn denkt es sich aus:
Dabei spielen viele Aspekte eine Rolle: kulturelle Prägungen, Wünsche, Vorstellungen, private Erfahrungen, innere Landkarten, Interessen, Erinnerungen, Überzeugungen und mehr.
Richtig ist jedoch, dass man als Fotograf/in im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten steuern kann, welche Fantasien man bei den potenziellen Betrachterinnen oder Betrachtern hervorruft. Das ist die große Spielwiese unserer fotografischen Kreativität. Und wahr ist auch: Ein sehenswertes Bild sollte immer eine Menge Fantasie wecken. Das befriedigt die Betrachter/innen nämlich, weil ihr Gehirn angeregt wird. Bilder, die keine Fantasie anregen, sind nur Abbildungen.
3. Emotionen
Zu diesem letzten Punkt gibt es eigentlich nicht viel zu schreiben. Wem würde es bei diesem Foto nicht warm ums Herz werden?
Bilder mit Kindern sind fast immer emotional berührend. Aber auch andere Aufnahmen können es sein. Ein herbstliches Landschaftsbild kann Melancholie auslösen, das Makro eines Insekts kann Ekel hervorrufen, das Foto eines Obdachlosen in New York kann Traurigkeit oder Empörung hervorrufen.
Anstatt mich in einer Liste zu verlieren, verweise ich auf den entsprechenden Wikipedia-Artikel 'Emotion', aus dem ich das Rad der Emotionen entnommen habe:
Genau wie bei der Fantasie hängt die Art oder Intensität einer emotionalen Reaktion stark vom einzelnen Betrachter ab. Generell lässt sich nur sagen, dass ein Bild mit einer emotionalen Wirkung eher wahrgenommen wird und besser in Erinnerung bleibt.
Und was ist mit der 'Bildqualität'?
Wie bereits erwähnt, ist die 'Bildqualität' für Fotos, die besonders sehenswert sind, weniger wichtig. Aber solche Fotos sind in unserer Gemeinschaft eher die Ausnahme. Für uns gilt eher, dass eine mäßige Bildqualität das prächtigste Foto verderben wird. Vor allem, wenn typische Amateurfehler gemacht wurden (schiefe Horizonte, Sensorflecken, ungünstiger Schärfeverlauf, etc.).
Manchmal lässt sich die Qualität eines Fotos durch Nachbearbeitung verbessern, wie bei dem bereits oben erwähnten Schneckenfoto, bei dem sich der Fotograf mit den gegebenen Umständen abfinden musste. Ansonsten ist eine bescheidene Fotoqualität nur bei wirklich außergewöhnlichen Aufnahmen akzeptabel, da unsere Botschafterbilder eine Art Aushängeschild für unsere Gemeinschaft sind. Normalerweise sollten die Beiträge eine Qualität von ❻ oder besser haben, gemessen an der Bewertungsskala, die ich in meinem Artikel "Was ist ein gutes Foto?" beschrieben habe.
Wir sollten nicht vergessen: Es geht vor allem darum, Besucher zu motivieren, sich für unseren Verein zu interessieren.
Zusammenfassung:
Ob ein Foto sehenswert ist, entscheiden nur die Betrachter/innen. Im Regelfall werden Bilder vor allem dann als sehenswert erachtet, wenn sie
- Aufmerksamkeit erregen,
- Fantasie erwecken,
- emotional berühren.
Für wirklich außergewöhnliche Fotos ist die 'Bildqualität' weniger wichtig. In der Regel sollte ein Foto für die Gruppe 'Botschafterbilder' aber zumindest eine gute Amateurqualität haben.
Wenn ein Bild von Dir mindestens zwei der drei genannten Kriterien erfüllt, bist Du eingeladen, es für die Gruppe der Botschafter-Bilder einzureichen. Wie das Redaktionsteam dann aus allen Einsendungen jene Fotos auswählt, die es schließlich in unser Schaufenster mit den 'bemerkenswertesten Bildern' schaffen, wird Gegenstand eines dritten, abschließenden Artikels sein.
Bernhard Westrup (Bergfex)
St. Johann in Tirol
9. Dezember 2022
Postscript 1: Ich bin kein Profi, nur ein Amateur. Daher kann es sein, dass ich mich in einigen Details geirrt habe oder etwas vergessen habe zu erwähnen. Ich bitte jeden, der diesen Artikel liest und Unstimmigkeiten feststellt, mir diese mitzuteilen. Ich lerne gerne dazu.
Postscript 2: Wenn ich gefragt würde, welches meiner Bilder ich der Redaktion zur Bewertung vorlegen würde: Dieses hier:
2 comments
Bergfex said:
Ich habe deshalb meinen Originalartikel, den ich in Englisch verfasst hatte, in meine Muttersprache (deutsch) zurückübersetzt.
Bergfex said: