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Mårbacka
Es gibt Menschen, die werden "unsterblich" - aus eigener Kraft aber auch weil sie wahrscheinlich zur richtigen Zeit genau das Richtige getan haben, vielleicht ganz unbewusst oder weil sie die Notwendigkeit sahen und handelten. Nicht selten werden solche Menschen auch nicht für eine Einzeltat geehrt, sondern für ihr Lebenswerk.

Und es gibt Menschen, die sich mit allen Mitteln auf das "aus eigener Kraft" stürzen und hoffen, sich so einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern. Dann kann allerdings dabei herauskommen, dass kaum jemand mehr seinen Kindern den gleichen Vornamen geben möchte.
Selma Lagerlöf (1858 - 1940), 1906 vom königlichen Hoffotografen Anton Blomberg (1862 -1936) fotografiert.

In meinem vorherigen Artikel www.ipernity.com/blog/arlequin_photographie/4744586 hatte ich bereits über unsere Motivation Mårbacka zu besuchen und den Weg dahin geschrieben. Nun, am 1. Juli 2024, pünklich um 11 Uhr waren wir angekommen. Ich hatte wirklich gedacht, dass Mårbacka ein kleines Dorf ist, aber es handelte sich "nur" um einen "Gutshof". Ohne jetzt einen ganzen Bericht über Selma Lagerlöf und Mårbacka zu schreiben - Andere konnten und können das viel besser - hier nur ein paar Sätze, um Mårbacka einzuordnen bzw. sich in dem von mir beschriebenen Ort "zurecht" zu finden.


Selma Lagerlöf wurde am 20. November 1858 auf Mårbacka geboren. Mårbacka war damals nur ein eher schlichter Holzbau in der typischen roten Farbe. Pastor Wennerwik, Selma Lagerlöfs Urgroßvater (Vater ihrer Großmutter väterlicherseits) hatte es in den 1790 Jahren gebaut. Mårbacka diente drei Generationen als Pfarrhof, wobei die Tochter des Pfarrers jeweils den nächsten Pfarrer zu heiraten pflegte. Selmas Urgroßmutter allerdings, brach mit dieser Tradition und heiratete den Regimentsschreiber Daniel Lagerlöf. Dessen Sohn - und Selmas Vater - Leutnant Erik Gustaf Lagerlöf betrieb weiterhin Landwirtschaft, starb aber 1885. Im gleichen Jahr trat Lagerlöf eine Stelle als Volksschullehrerin in Landskrona an und schrieb in dieser Zeit ihren ersten Roman: Gösta Berling. 1890 waren die wirtschaftlichen Probleme dann so groß, dass die Familie Mårbacka verkaufte.

1908 stand Mårbacka wiederholt zum Verkauf und Selma Lagerlöf schaffte es ihr Elternhaus zurückzukaufen. Durch weitere Einnahmen - u.a. mit dem Geld, dass sie für den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte und dem Verkauf ihrer Bücher - vergrößerte sie den Grundbesitz und baute das Bauernhaus zu einem repäsentativen Herrenhaus um. Sie betrieb weiterhin Landwirtschaft, oft defizitär, da sie aus sozialen Gründen mehr Menschen auf dem Hof beschäftigte, als nötig gewesen wäre. Immer wieder flossen ihre Einnahmen aus der Literatur in ihr "Projekt" und Lebensaufgabe Mårbacka. In ihrem Testament bestimmte Selma Lagerlöf, dass Mårbacka nach ihrem Tod unverändert der Nachwelt erhalten werden und gezeigt werden soll. Seit 1942 ist Mårbacka Museum und eine vielbesuchte Sehenswürdigkeit.


Mårbacka

Vielleicht haben einige Menschen in ihrer Kindheit und / oder Jugendzeit einen Lieblingsplatz, den sie immer wieder aufgesucht haben und der ihnen viel bedeutet hat oder heute noch bedeutet. Möglicherweise denken sie aber auch nur ab und zu daran zurück. Mein Lieblingsplatz war eine alte, hohe Buche mit mächtigen Stamm. Sie stand bzw. steht etwa 1 km Luftlinie von der Ortsmitte entfernt in einem Wald und ist so hoch, dass die obersten Zweige ihrer Krone alle Bäume ringsherum überragen. Dadurch, dass die Geologie diesen Standort eine Erhöhung beschert die Richtung Norden immer weiter abfällt, bis in die ostfriesische Geest, die Marschen an der ca. 80 km entfernten Nordsee und Moore dazwischen, hat man ganz oben in der mächtigen Krone eine wunderbare Aussicht. Und ich kletterte in diesen Baum, von dicken Ästen zu weiteren Ästen, immer weiter hinauf, bis ich die letzten Zweige erreichte, die mich noch trugen. Dann hatte ich meinen Lieblingsplatz erreicht und verbrachte dort manchmal Stunden. Ich genoß den Ausblick - so weit. Am schönsten war es, wenn der blaue Himmel mit kleinen und mittelgroßen Kumuluswolken durchsetzt war bis zum Horizont.

Blick von Mårbacka über Värmland

Natürlich der schwedischen Sprache nicht mächtig, entschieden wir uns für eine englischsprachige Führung. Kurz bevor es losging, fanden wir uns auf der Veranda des Herrenhauses ein und warteten. Mein Blick schweifte über die Landschaft rund um uns herum und ich erinnerte mich an meinen Lieblingsplatz in der Spitze der alten Buche. Sicher war ich jetzt nicht so hoch, aber die Weite der värmländischen Landschaft war dem Ausblick, den ich als junger Teenager so genossen hatte, sehr ähnlich. Und ich fühlte mich Selma Lagerlöf verbunden, denn ich stellte mir vor, dass sie auch dann und wann innehielt und den Blick von ihrer Veranda genoß.

"Was ist denn das für ein großes, kariertes Stück Stoff da unten?", fragte der Junge, ohne eine Antwort zu erwarten. Doch die Wildgänse, die rechts und links von ihm flogen, riefen sogleich: "Äcker und Wiesen. Äcker und Wiesen." Da wurde ihm klar, dass dieses große karierte Tuch, das er gerade überflog, der flache Boden von Schonen war. Und er begriff nun auch, weshalb es so vielfarbig und kariert aussah. Die hellgrünen Karos erkannte er zuerst: Das waren Roggenfelder, die man im vorigen Herbst bestellt hatte und die unter dem Schnee grün geblieben waren. Die gelbgrauen Karos waren Stoppelfelder, auf denen im letzten Sommer Getreide gestanden hatte. Die bräunlichen waren alte Kleewiesen, und die schwarzen waren
leeres Weideland oder umgepflügte Brachäcker. Es gab auch dunkle Karos, die innen grau waren: Das waren die großen, viereckig gebauten Bauernhöfe mit ihren schwarz gewordenen Strohdächern und den gepflasterten Hofplätzen. Und dann gab es Karos mit grüner Mitte und braunen Rändern: Das waren Gärten, deren Rasenflächen schon grünten, obwohl die Rinde der Sträucher und Bäume rundherum noch nackt und braun war."

Auch wenn ich mir bewusst war, dass ich mich nicht in Schonen befand sondern in Värmland, so stellte ich mir vor, dass es landschaftlich wahrscheinlich keine großen Unterschiede geben würde und Mårbacka so auch inspirieren kann, auch wenn Värmland in seinem Norden eher dicht bewaldet ist. Aber auch wenn Selma Lagerlöf ihr Mårbacka beschreibend in Nils Holgersson im 49. Kapitel "Ein kleiner Herrenhof" aufnimmt, so steht am Anfang einer Geschichte immer die Inspiration und die Fantasie, die der Inspiration Flügel verleit. In Sachen Nils Holgersson mehr als bildlich gesprochen.


Mårbacka, Östra Ämtervik, Värmland

Es stellte sich heraus, dass Corinne und ich die einzigen Teilnehmer der englichsprachigen Führung waren. Unser Guide fragte wo wir herkommen und nach einem kurzen Begrüßungsgespräch stelle sich heraus, dass er fließend und akzentfrei Deutsch sprach. So genossen wir eine Führung durch das Herrenhaus und das Leben Selma Lagerlöfs auf Deutsch. Leider war es nicht erlaubt im Haus zu fotografieren. Ich hätte gerne ein Bild von Akka von Kebnekajse (Akka från Kebnekajse) gemacht, der Anführerin der Gänseschar mit der Nils Holgersson durch Schweden reist. Denn dazu gibt es eine Geschichte: Zwei (schwedische) Jungen fanden eine verendete Wildgans. Da sie der Meinung waren, dass könnte nur Akka von Kebnekajse sein, schickten sie diese Gans nach Mårbacka. Selma Lagerlöf war von dieser Aktion so gerührt, dass sie die tote Wildgans präparieren ließ. Nun steht sie in der Einganghalle des Herrenhauses und begrüßt die Gäste.

Selma Lagerlöf starb am 16. März 1940 im Alter von 81 Jahren in ihrem Haus infolge eines Schlaganfalls. Ihre letzte Ruhestätte fand sie in Östra Ämtervik (Östra Amtervik kyrkogård).
Östra Amtervik kyrkogård


„O, Kinder späterer Zeiten! Ich habe euch nichts Neues zu erzählen, nur das, was alt und fast vergessen ist. Sagen habe ich aus dem Kinderzimmer, wo die Kleinen auf niedrigen Schemeln um die Märchenerzählerin mit den weißen Haaren saßen, oder vom Holzfeuer in der Hütte, wo die Knechte und Kätner saßen und sich unterhielten, während der Dunst aus ihrer feuchten Kleidung drang und während sie Messer aus der um den Hals gehängten Lederscheide zogen, um Butter auf dickes, weiches Brot zu schmieren, oder von Sälen, wo alte Herren in wiegenden Schaukelstühlen saßen und, belebt vom dampfenden Punsch, von vergangenen Zeiten sprachen.“

– Aus: Gösta Berling

Tack, Selma!

1 comment

Heidiho said:

Nun hab ich tatsächlich alles gelesen, was Google zu Selma Lagerlöf an Informationen hergibt. Wie spannend; was für ein Leben ! Tatsächlich wusste ich nicht einmal, dass sie als 1. Frau den Literatur-Nobelpreis gewann. Nun ja: je mehr man liest, um so mehr erkennt man, was man alles NICHT weiß ... herzlichen Dank deshalb für Deine schönen Reisebeschreibungen.
... Skandinavien geht bei mir immer ;-)
3 months ago ( translate )