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Nach Mårbacka
Meine 70er Jahre waren natürlich dominiert von Schule und - das gehört dazu - Ferien. Das hatte bereits Pippi Langstrumpf verstanden: Wer nicht in die Schule geht, der bekommt auch keine Ferien. Allerdings habe ich das so nie gesehen. Die "kleinen" Ferien waren nette Abwechslungen, die "Großen" allerdings im Sommer mehr oder weniger Einschnitte und Etappensiege (oder -niederlagen, je nach Sichtweise). Nein, wiederholen musste ich ein Schuljahr nie, erfolgreich hinter mich gebracht - im konventionellen Sinne - habe ich sie allerdings auch nicht (immer). Garantiert jedenfalls war: Am ersten Ferientag war sicher, dass ich das "Klassenziel erreicht hatte", wie es immer im Zeugnis stand und nach den Ferien in eine "höhere" Klasse kam. Aber bis dahin war noch eine "lange" Zeit - ganze sechs Wochen nämlich, die es zu gestalten galt.
Unsere Familie - bestehend aus den Eltern und vier Kindern - fuhr sehr selten in den Urlaub. Mein Vater war froh, seine freie Zeit Zuhause zu verbringen und das Geld saß auch nicht so locker. Die "großen" Reisen, die wir in den 1970er Jahren unternahmen, konnte man an einer Hand abzählen und führten i.d.R. zu den Großeltern, die in der Nähe des Bodensees lebten. Damit waren wir allerdings noch "gut dran", meine Schulkameraden, die in der Landwirtschaft groß wurden, fuhren wirklich nie weg.

Ich fand die Sommerferien deshalb aber nie langweilig. Wir hatten im Dorf ein Schwimmbad, zelteten im Garten - entweder dem eigenen oder bei Freunden - und waren dadurch nicht nur eine Nacht unterwegs. So gesehen erlebte ich die Sommerferien als großes Abenteuer und wenn wir auch nicht wegfuhren, so kamen doch immer Besucher aus der entfernt lebenden Verwandtschaft zu uns, mit denen man auch etwas unternehmen konnte. So war für die Ferienplanung nur wichtig, wer wann kommt. Aber ich genoß es schon als Schüler, wenn ich mich mal zurückziehen und ganz alleine für mich sein konnte. Und diese Zeiten verbrachte ich mit Lesen.

Dann kam dieser Donnerstag - der erste Ferientag - mitten in den 1970er - das genaue Jahr weiß ich nicht mehr. Einiges deutet darauf hin, dass es im Sommer 1977 war, ich wurde also 14. Ich besuchte meinen Freund aus Kindergartenzeiten, mit dem ich noch die Grundschule besuchte. Wir wechselten danach zwar auf jeweils andere Schulen, die Freundschaft allerdings blieb.

Ich traf ihn an, als er dabei war, seine Koffer zu packen. Seine jährliche Reise zur Großmutter stand an - wie jedes Jahr zu Beginn der Ferien. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Bücher. "Was machst Du denn mit den Büchern?", fragte ich neugierig, denn ich wusste, dass Bücher lesen nicht zu seinen Lieblingbeschäftigungen gehörte. "Ach, die habe ich in unserer Schulbibliothek ausgeliehen. Wenn wir für die Ferien Bücher ausleihen, gibt es "Extrapunkte" im nächsten Schuljahr. Ich lese die gar nicht, gebe sich gleich am ersten Schultag wieder zurück." Ich schaute den Stapel an und nahm den dicksten Wälzer aus dem Stapel: "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen". Ich weiß heute nicht mehr, was mich dazu bewegte bzw. mein Interesse weckte. Vielleicht war es Schweden, das ich natürlich durch die Geschichten von Astrid Lindgren kannte: Pippi Langstrumpf, Wir Kinder aus Bullerbü und vor allem Ferien auf Saltkråkan. Letzteres hatte es mir besonders angetan. So lieh ich mir von meinem Freund Die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen aus, mit dem Versprechen, es spätestens zum Ferienende wieder zurück zu geben.

Konungariket Sverige

"Es war einmal ein Junge. Er war ungefähr vierzehn Jahre alt, groß und gut gewachsen und flachshaarig. Viel nutz war er nicht, am liebsten schlief oder aß er, und sein größtes Vergnügen war, irgend etwas anzustellen...", begann ich zu lesen. Und ich laß weiter und erfuhr, wie der Junge auf die Größe eines Wichtelmännchens verkleinert wurde und letztendlich von einem Mäuerchen herunter sprang, mitten in die Gänseschar hinein lief und den Gänserich mit seinen Armen umschlang. "Das wirst du schön bleiben lassen, von hier wegzufliegen, hörst du!", rief er.

Aber gerade in diesem Augenblick hatte der Gänserich herausgefunden, wie er es machen müsse, um vom Boden fortzukommen. In seinem Eifer nahm er sich nicht die Zeit, den Jungen abzuschütteln; dieser mußte mit in die Luft hinauf. Es ging so schnell aufwärts, dass es dem Jungen schwindlig wurde. Ehe er sich klar machen konnte, daß er den Hals des Gänserichs loslassen müsste, war er schon so hoch droben, daß er sich totgefallen hätte, wenn er jetzt hinuntergestürzt wäre.

So begann die Reise des kleinen Nils Holgersson durch Schweden, auf dem Rücken einer Hausgans, die sich den Wildgänsen auf ihren Flug in ihre Brutgebiete im Norden angeschlossen hatte. Und ich flog mit...

Nils Holgersson Es gibt viele Bücher in meinem Leben, die ich gerne gelesen habe und es wird weitere geben (hoffe ich). Darunter sind Bücher, in die ich schwer den Einstieg fand, mich trotzdem aber einließ und angenehm überrascht wurde. Die Mehrheit dieser von mir gern gelesenen Bücher allerdings nahm mich von Anfang an mit. Aber es gibt Bücher, die mich schon auf den ersten zwei Seiten so fesseln, dass es mir kaum möglich ist, sie wieder weg zu legen. Diese Bücher nehmen schlagartig eine so hoch priorisierte Stellung in meinem Leben ein, dass alles daneben verblasst. Sicher hat es vorher schon solche Bücher gegeben, dass erste Buch allerdings, bei dem mir das bewusst wurde ist ganz sicher Selma Lagerlöfs "Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen". Ohne dass mir bewusst wurde, was ich da lese, habe ich einfach gelesen, Wort für Wort, Zeile für Zeile, Seite für Seite und konnte nicht mehr aufhören. Wo immer ich war, egal in welcher Tageszeit ich mich gerade befand - ich las. Essen war egal, Freunde und Verabredungen mit ihnen ebenso und wenn ich in der Nacht wach wurde, hatte ich schon wieder das Buch in der Hand und las. So ist es nicht verwunderlich, dass ich dieses Buch innerhalb weniger Tage durchgelesen habe. Und am Ende mit dem letzten Satz dieser Geschichte, war ich entsetzlich traurig, dass die Reise nun zu Ende ist. Den Rest der Sommerferien lag nun diese Buch in Sichtweite und immer wenn ich es sah, überkam mir diese Wehmut. Mehrere Versuche, noch einmal diesen Zauber zu entfachen, scheiterten und letztendlich brachte ich das Buch zu meinen Freund zurück, damit er sich für das neue Schuljahr seine Zusatzpunkte sichern konnte. Danach schwächte sich die Erinnerung etwas ab und ich ging anderen Dingen nach. Aber diese Sommerferien in der zweite Hälfte der 1970er Jahre, blieben bis heute die Ferien mit Nils Holgersson.

Unsere Reise durch Skandinavien in diesem Jahr war durch wenig feste Planung geprägt. Die Überfahrt von Travemünde nach Helsinki war das einzige fest gesetzte Ereignis dieser Reise. Wir hatten einen Platz auf der Finnlady gebucht, mehr nicht. Um Mittsommer wollten wir auf der Varanger Halbinsel in Norwegen sein und uns langsam wieder über Schweden und Dänemark Richtung Heimat bewegen. Es gab letzendlich nur ein Datum, an dem wir wieder Zuhause sein müssen. Alles andere überließen wir dem Zufall der Launen und ggf. der Wetterkarte. An den Abenden oder spätestens am Morgen, wenn alles wieder verpackt war, entschieden wir wohin uns die Reise als nächstes führen sollte. So gelangten wir nach Stockholm, wo wir uns entgegen der bisherigen Praxis im Dachzelt zu übernachten, für zwei Nächte in einem Hotel einquartierten. Dann kam wieder die Zeit weiterzuziehen und es musste die Entscheidung getroffen werden, wohin die Reise nun geht. Ich erinnerte mich an Nils Hogersson und versuchte aus der Erinnerung heraus Ziele zu definieren, was mir natürlich nicht gelang. So recherchierte ich kurz nach der Autorin Selma Lagerlöf und fand tatsächlich einen interessanten Ort in der schwedischen (historische) Provinz Värmland: Mårbacka.


Von Mårbacka hatte ich bewusst noch nie gehört. Dieser Ort gehört zum Leben der Autorin Selma Lagerlöf, aber bei Nils Holgersson wird er nie erwähnt. Vielleicht habe ich irgendwann mal gelesen, dass sie dort 1858 geboren wurde - im selben Jahr übrigens, wie einer meiner Urgroßväter (der allerdings ca. 1000 km Richtung Süd- Südwest) - und 1940 verstarb. So spontan fielen mir also nur Nils-Holgersson-Orte ein: Karlskrona, Glimmingehus, Kullaberg, Blekinge ... alles passte nicht so richtig in unsere Reise. Dann kam mir Mårbacka in den Sinn und unser mitgeführter Reiseführer sagte uns, dass sich dort ein Selma-Lagerlöf-Museum befindet. Also schlugen wir kurz entschlossen von Stockholm aus den Weg Richtung Oslo ein, quer durch Süd-Schweden - von einer Seite auf die andere. Zeitbedarf? Völlig egal, der Weg ist bekanntlich das Ziel und so stoppten wir nach den ersten 100 km am Freilichtmuseum Vallby - das wir auch nur entdeckten, weil wir dort "zufällig" vobei kamen.

Vallby friluftsmuseum

Danach verblieben wir noch ca. 180 km auf der E18 bis nach Väse in Värmland, um uns ab hier wieder der atemberaubenden Landschaft Südschwedens abseits der Fernstraßen hinzugeben. Vorbei an unzähligen Seen unterschiedlicher Größen und kleinen Bauernhöfen ging es - teilweise über Schotterpisten - Richtung Mårbacka. Und dann passierte es: Der Sensor des hinteren linken Rades, der meistens bei Wärme einen Überdruck im Reifen meldet, informierte plötzlich zu wenig Druck. Zunächst quittierten wir das mit Achselzucken - mal zuviel Druck, jetzt zu wenig - ja klar... Aber der Druck fiel kontinuierlich, 2.2 bar, 2 bar, 1.8, 1.6 ... Ein Rastplatz am See Åstjärnen, malerisch gelegen lud ein, der Sache auf dem Grund zu gehen. Ich war noch nicht ganz ausgestiegen, da vernahm ich dieses deutliche Zischen...



Und dann war er platt...


Einer der Vorteile eine Geländefahrzeugs ist, dass man i.d.R. einen voll funktionstüchtigen Reservereifen dabei hat und kein Notrad oder gar Reifenreparaturkit. Und Glück hatten wir, dass wir nicht irgendwo auf dem Pannenstreifen einer Europastraße hängen geblieben sind. Hier war es schön, wir hatten Platz und auch Zeit und blieben gleich über Nacht. Für das 25 km entfernte Mårbacka war es eh schon zu spät, es öffnete erst wieder am nächsten Tag um 11 Uhr. So nutzten wir die Gelegenheit und verbrachten nicht nur den verbleibenden Rest des Tages am See Åstjärnen, sondern auch gleich die Nacht.

Åstjärnen



3 comments

* ઇઉ * said:

What a beautiful story and exciting, beautifully illustrated journey, Andreas. It was a pleasure to read it.
4 months ago

Heidiho said:

Wie schön sich das liest. Und wie viele wertvolle Erinnerungen Dein Bericht in mir weckt !
Zum einen, wie Du zum Lesen gekommen bist - das kommt mir sehr bekannt vor (natürlich mit anderen Büchern). Zum anderen: Eure Reise kommt mir sehr vertraut vor: 2018 hab ich es auch bis Varanger geschafft - und hatte (allerdings in Norwegen) eine Reifenpanne. Am schönsten bei solch "unorganisierten" Touren sind doch immer wieder die ungeahnten Entdeckungen, weit ab von allen üblichen Touristenrouten. Ich versuche auch immer, Orte zu erkunden, wo meine Lieblingsschriftsteller leb(t)en, oder wo die Handlung ihrer Bücher spielt. Dabei bin ich immer positiv überrascht worden. Weiter so !
4 months ago ( translate )

Arlequin Photographi… replied to Heidiho:

4 months ago ( translate )