XIV.
Marino griff beherzt zu. Die Ćevapčići, die Delamotte nach Brittas Rezept gemacht hatte, schmeckten ihm. Und es schien ihm generell eher zuzusagen, den Tag bei seinem Kumpel zu verbringen, als im Präsidium. Seit mehr als einer Woche befand sich Sabrina Rosen bereits auf dem Präsentierteller. Der „Blitz“ hatte noch die eine oder andere Geschichte über die beiden Krankenschwestern gebracht, die sich so ähnlich sahen. Ergebnisse hatte die Aktion bislang keine erbracht.
„Pesch fährt jeden Tag mindestens zweimal nach Sonnenthal“, erzählte Claudio, „aber nicht in die Wohnung von der Rosen, sondern zu den Kollegen, die ringsum die Gegend im Blick halten.“ Jedes Auto, das in der Nähe hielt oder langsam an dem Haus vorbeifuhr, wurde überprüft.
„Was ist mit Fußgängern? Oder Radfahrern?“, fragte Delamotte.
Marino schüttelte den Kopf: „Nichts. Das hält Pesch für zu riskant. Bei Überprüfung von nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern, wie er das nennt, könnte der Uhu gewarnt werden.“
Der Psychologe lächelte: „Besser, er wird gewarnt, als dass er Sabrina Rosen auch noch tötet. Sollte zumindest Pesch so denken.“
„Ich verstehe nicht, warum er dich nicht stärker einbezieht“, sagte Marino nach einer Pause.
„Ich habe ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, was ich von dieser Aktion halte“, antwortete Delamotte.
Der Kommissar verstand den Hinweis: „Das ist ihm nahe gegangen, das zeigt er deutlich. Du musst da einen wunden Punkt bei ihm getroffen haben.“ Er seufzte: „Aber wie er reagiert, ist nicht professionell. Er sollte schon noch Interesse an deiner Expertise haben.“
„Wenn du magst, kann ich diese Expertise ja mit dir teilen“, warf Delamotte ein.
„Ich bitte darum“, sagte Marino, „was wird als nächstes passieren? Was geht gerade in diesem Kerl vor?“
„In wem? Im Uhu oder in Pesch?“, fragte Delamotte und zwinkerte.
Marino lachte. „Was in Pesch vorgeht, kann jeder sehen, dafür muss man kein Psychologe sein“, sagte er.
Der Gastgeber verschwand kurz in der Küche, und kehrte mit zwei kleinen Flaschen Apfelschorle zurück. Eine davon reichte er Marino. Während er die andere Flasche öffnete, erklärte er: „Um es direkt zu sagen: der Uhu wird wohl kaum so einfach in Peschs Falle flattern.“
„Du meinst, er wittert sie?“, fragte Marino.
„Zumindest wird er die Möglichkeit einer Falle bedenken“, erwiderte Delamotte. „Schau mal, der ‘Blitz’ macht auf mit dieser Verwechslung – das große Thema auf Seite Eins. Als intelligenter Mensch, der er ist, wird der Täter sich erst mal fragen: woher weiß die Zeitung das? Was ist wahrscheinlicher: dass die größte Boulevardzeitung der Stadt eine Quelle bei irgendeinem Pflegedienst hat? Oder eher bei der Polizei?“ Marino nickte, der Gedanke leuchtete ihm ein. „Und wenn die Quelle bei uns sitzt, muss er von einer Prämisse ausgehen“, sagte der Psychologe.
„Dass diese Quelle im Zweifelsfall Gegenleistungen erwartet“, ergänzte der Kommissar.
„Ganz richtig“, bestätigte Delamotte, „eine Hand wäscht die andere. Und dann guck dir die Geschichte an, wie der ‘Blitz’ sie verkauft. Das nette blonde Mädchen, das immer sehr vorsichtig fährt, weil irgendwann mal ein Mitschüler bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.“
„Wobei die Geschichte vom Ansatz her stimmt“, warf Marino ein. Davon war Delamotte durchaus überzeugt; eine platte Lüge würde viel zu leicht auffliegen.
„Aber ganz unabhängig davon, ob der Uhu selber mal jemanden auf diese Art und Weise verloren hat, ist die Intention hinter dieser Enthüllung ganz klar“, dozierte er.
„Der Uhu soll sich schuldig fühlen“, erklärte Marino.
„Mindestens das“, ergänzte Delamotte, „schuldig, beschissen, wertlos. Er soll Reue empfinden, er soll Reue zeigen. Tätige Reue. Und wie soll er das? Lies den nächsten Artikel, den über die Doppelgängerin. Die den Wagen vor dem unschuldigen Mädchen gefahren hat. Ergo: die die eigentliche Schuldige ist. Und deren Wohnung, mit Blick aus dem dritten Stock direkt auf den Parkgürtel, sehr genau beschrieben wird.“
Er blickte sein Gegenüber fest an: „Claudio, weißt du, wie viele Mehrfamilienhäuser mit Blick auf den Parkgürtel es in Sonnenthal gibt?“ Sein Gast schüttelte den Kopf. „Nicht sehr viele“, sagte Delamotte, „ganze vier Stück, alle nebeneinander. Am Parkgürtel hat man damals fast nur Einfamilienhäuser gebaut – nur in dieser kleinen Ecke sind ein paar Apartmenthäuser durchgerutscht. Das konnte ich ganz einfach im Internet rausfinden. Und wenn ich das konnte, dann kann der Uhu das auch.“
Marino regte sich: „Und das heißt…“
„Das heißt“, unterbrach ihn Delamotte, „dass er nicht umhinkommt, hier die Möglichkeit einer Falle zu sehen.“
Er lud sich noch ein paar Ćevapčići mit Gemüsereis auf seinen Teller, denken machte ihn hungrig. „Aber dass er womöglich einen schrecklichen Fehler gemacht hat, muss an ihm nagen“, erläuterte er, „selbst wenn er den Fehler nicht wahrhaben will. Und davon können wir ausgehen – er hat ein Problem mit dem Versagen. Also stellt sich die Frage nach den möglichen Reaktionen, die er jetzt zeigen könnte.“
„Und die wären?“, wollte Marino wissen.
„Ich kann dir erst mal sagen, was keine mögliche Reaktion ist“, antwortete Delamotte. Sein Kumpel blickte ihn interessiert an. „Er wird nicht einfach mit dem Töten aufhören. Das kann er nicht. Er hat viel zu viel Herzblut in diese Sache gesteckt. Von dem Blut der Anderen ganz zu schweigen. Ein Fehler wird ihn nicht vom Töten abbringen.“
Delamotte lud ein halbes Fleischröllchen und etwas Reis auf die Gabel, und führte das Essen zum Mund. Nachdem er den Happen heruntergeschluckt hatte, spülte er mit einem Schluck Apfelschorle nach. „Die unwahrscheinlichste Option“, erläuterte er, „ist Selbstmord. Aber immer noch wahrscheinlicher als einfaches Aufhören. Irgendwann wird der Uhu sein Leben beenden, entweder direkt oder durch uns.“ Marino schauderte bei dem Gedanken.
„Aber dort ist er noch nicht angekommen“, fuhr Delamotte fort, „solange er noch andere töten kann, wird er sich selber verschonen.“ Manchmal konnte sein Kumpel beängstigend sein, dachte Marino.
„Womit wir bei der naheliegendsten Variante sind“, spann Delamotte den Faden weiter. „Er widmet sich einfach wieder seiner Liste, seinen Karteikarten oder was auch immer“, sagte er, „die Verwechslung der Krankenschwestern hakt er einfach ab. Shit happens, sozusagen. Anhand der Kaltblütigkeit, mit der er seine Morde begeht, ist das durchaus denkbar.“
Er trank etwas Apfelschorle, bevor er Marino die letzte Variante präsentierte: „Was gegen dieses Szenario spricht, ist die Neigung zu impulsiven Reaktionen, besonders nachdem er Fehler gemacht hat, oder sonst irgendetwas schiefgelaufen ist. Wenn diese Verwechslung ihn wirklich erschüttert, könnte ihn das auf den Ursprung seines Mordverlangens zurückwerfen.“
Marino schien verwirrt: „Alter, was meinst du jetzt damit?“
Geduldig erklärte Delamotte seinen Gedankengang: „Wir dürfen eines nicht vergessen. All diese Opfer, diese Handwerker und Vertreter und Kurierfahrer und Krankenschwestern und so weiter – all diese Leute sind ja nur ein Ersatz. Das ursprüngliche Ziel seines Tötungswunsches war ja ein ganz anderes. Falls er das – dank dieser Verwechslung – erkennt, könnten wir es bei den nächsten Morden mit ganz anderen Opferprofilen zu tun bekommen.“
Eine Zeitlang schwiegen beide Männer. Marino durchbrach die Stille: „Wenn das stimmt, Alter, dann wird die Geschichte für uns noch schwieriger.“
Delamotte widersprach ihm: „Nicht unbedingt, mein Lieber. Bei den ersten ein oder zwei Fällen ganz bestimmt, da gebe ich dir recht. Andererseits: wenn er nicht mehr irgendwelche Ersatzopfer tötet, führen uns die neuen Opfer direkt zu ihm. Und das relativ rasch.“ Er machte eine kurze Pause. „Hoffe ich zumindest.“
Weit entfernt, fast schon am anderen Ende der Stadt, stand Simon abermals auf der Terrasse und zog an einer Zigarette. Der Blick zum Fluss und über das nahe Häusermeer der Altstadt tröstete ihn nicht. Er war traurig, wie schon so oft fühlte er sich schwach und unvollkommen.
Herr Osterfeld. Zum ersten Mal seit einiger Zeit war Herr Osterfeld einem Termin ferngeblieben. Und das ohne sich vorher zu entschuldigen. Hätte er wenigstens mal angerufen, dann wäre alles leichter, und Simons Stimmung wäre viel besser. Ein kurzer Anruf hätte doch vollauf genügt.
Simon zündete sich eine weitere Zigarette an. Es war ja nicht nur der zusätzliche Aufwand, den er selber jetzt treiben musste. Damit käme er klar, auch wenn er den Papierkram eigentlich verabscheute. Aber Herr Osterfeld kannte doch die Regeln, sie hatten zu Beginn der Behandlung darüber gesprochen. Er wusste also, dass sein Arbeitgeber die Therapie bezahlte. Und dass daraus bestimmte Rechte seines Arbeitgebers erwuchsen, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Nicht über die Details der Therapiegespräche, um Himmels Willen. Aber über den groben Verlauf der Therapie, und besonders über die Teilnahmebereitschaft des Patienten. Ganz besonders über Absagen – und erst recht über unentschuldigtes Fernbleiben.
Er ging wieder ins Gebäude, draußen auf der Terrasse war ein recht kühler Wind aufgekommen, Vorbote des nahenden Herbstes. Simon glaubte nicht, dass ein Mann in Herrn Osterfelds Alter und Position ernstliche Konsequenzen zu fürchten hatte aus der Meldung, die Simon nun machen musste. Aber ein mahnendes, nicht unbedingt angenehmes Gespräch stand dem Patienten vermutlich schon bevor. Simon war bekannt, dass Herr Osterfeld eine erste Therapie bei einem anderen Psychiater abgebrochen hatte. Er hatte niemals Kontakt zu diesem anderen Mann gesucht – das hätte seiner Objektivität gegenüber dem Patienten abträglich sein können. Herr Osterfeld hatte monatelang jede weitere Behandlung verweigert. Erst Anfang des Jahres hatte er dann den Weg in die Praxisgemeinschaft an den Rive Gauche Arkaden gefunden.
Und nach anfänglichem Stocken hatte die Therapie dann durchaus Fortschritte gemacht, wie Simon empfand. Ober anders gesagt: Herr Osterfeld hatte Fortschritte gemacht, war gesprächiger geworden, hatte sich immer mehr geöffnet. Der Blick in das Innenleben des Patienten war Simon nicht immer leichtgefallen, ganz im Gegenteil. Aber das war nun mal Teil seines Berufs, seiner Aufgabe, seiner Mission. Die Behandlung musste nicht ihm leichtfallen. Es ging um den Patienten; dem musste die Therapie Erleichterung bringen.
Das hatte sie in den letzten Wochen auch getan, wie Simon empfand. Bis auf die letzte Sitzung, da hatte Herr Osterfeld wieder so verschlossen und verspannt vor ihm gesessen wie im Januar. Nicht ganz wie im Januar, verbesserte sich Simon. Damals hatte der Patient unsicher gewirkt, fast schon verängstigt. Das mochte an dem Druck gelegen haben, den sein Dienstherr mit Sicherheit auf Herrn Osterfeld ausgeübt hatte. Simon hatte sich alle Mühe gegeben, ihm klarzumachen, dass er als Therapeut der Verbündete des Patienten war, nicht der des Dienstherren. Beim letzten Besuch dagegen hatte Herr Osterfeld nicht ängstlich, sondern ausgesprochen trotzig auf ihn gewirkt. Am Ende des Gesprächs war eher Simon der Verängstigte gewesen.
Zurück in seinem Büro, öffnete Simon seinen Email Client. Er musste das unentschuldigte Fehlen nun melden, dazu war er verpflichtet. Genauso, wie der Patient zur Teilnahme an einer Therapie verpflichtet war. Er fügte die beiden Adressen in das Empfängerfeld ein – die erste davon kannte er bereits, das musste Herrn Osterfelds Vorgesetzter sein. Bei der zweiten war er sich nicht sicher, die Dame mochte eine noch höherrangige Aufsichtskraft sein, vielleicht auch jemand aus der Personalabteilung. Dafür kannte Simon die Verschachtelungen des Staatsdienstes nicht genug. Vorsichtig und mit Augenmaß begann er zu schreiben.
„Irgendwas Neues?“ Pesch nahm auf dem Rücksitz des Zivilfahrzeugs Platz, das etwa hundert Meter entfernt von dem Wohnhaus stand, in dem Sabrina Rosen lebte.
„Nichts, was von Interesse wäre“, entgegnete der Beamte am Steuer des Wagens, „ein paar Radfahrer, Autos der Nachbarn, Spaziergänger mit und ohne Hund. Vor einer halben Stunde ein paar Jungs, die noch ziemlich spät auf dem Fußballplatz gewesen sein müssen. Und wieder unser Freund mit dem blauen BMW dort am Nachbarhaus. Schon zum dritten Mal.“
„Den haben wir mittlerweile identifiziert“, erklärte Pesch, „der kommt tatsächlich aus dem Umland, wie das Kennzeichen schon andeutet. In dem Haus wohnt eine Kollegin von ihm.“
„Also sowas wie späte Überstunden“, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz und grinste.
„So wird er es zumindest seiner Frau zuhause erklären“, antwortete Pesch, „aber zum Glück sind wir ja nicht die Sittenpolizei im Iran.“
„Gott sei Dank“, sagte der Mann auf dem Fahrersitz.
„Das heißt Hamdullah, Bruder“, erwiderte sein Kollege und lachte.
Pesch stieg aus und führte seine abendliche Runde fort. Der Beifahrer des übernächsten Wagens sah ihn bereits von Weitem. „Rainer, da kommt der Rotschopf wieder“, warnte er seinen Kollegen, der seine Lektüre rasch unter dem Fahrersitz verstaute.
„Verdammt, der kriegt wohl echt nicht genug von dieser ganzen Geschichte“, motzte er.
„Ganz im Gegensatz zu dir“, stellte der Mann auf dem Beifahrersitz fest.
„Jeanette fängt an, sich zu ärgern“, antwortete Rainer, „und so früh in unserer Beziehung will ich ihr nicht den Eindruck geben, diese Einsatzzeiten wären bei der Polizei normal. Verdammt, Dietmar, dieses Mädchen bedeutet mir was.“
„Dann solltest du sie aber nicht sehen lassen, welche Art von Lektüre du beim Einsatz dabei hast“, tadelte ihn der Kollege.
„Mein Gott, was ist schon dabei? Bei regulären Arbeitszeiten wäre ich jetzt eh mit Jeanette beschäftigt, nicht mit so einem Magazin“, rechtfertigte sich der Gescholtene.
„Hier wahrscheinlich auch alles ruhig bis jetzt, was“, sagte Pesch, nachdem er seinen massigen Körper auf den Rücksitz gewuchtet hatte.
„Zu ruhig“, erwiderte Dietmar, „und das schon seit zehn Tagen. Glaubt Ihr wirklich, der Typ taucht hier noch auf?“
„Na, lasst uns mal nicht zu früh aufgeben, bei dem Kerl ist Geduld angesagt“, antwortete Pesch.
„Und wie lange können wir diese Geduld aufbringen?“, fragte Dietmar. „Gibt es irgendeine Grenze, an der wir sagen: es reicht jetzt?“
Pesch schwieg; die gleiche Frage hatte Delamotte vor einiger Zeit schon gestellt. Der Hauptkommissar hatte keine Antwort darauf gefunden. Früher oder später würde die Antwort von Oben kommen. Über den Flurfunk hatte Pesch bereits vernommen, dass dem Polizeipräsidenten die Ausgaben für diese Aktion so langsam erklärungsbedürftig wurden.
Es knackte im Funkgerät: „Vogel-6 hier. An uns ist gerade ein kleiner Lieferwagen vorbeigefahren, ist in den Schlehenweg abgebogen. Könnte unterwegs zum Objekt sein.“
Pesch fluchte leise; die Klarnamen von Straßen und Gebäuden sollten die Kollegen eigentlich vermeiden. „Ja, hier ist Vogel-1, ich sehe ihn im Rückspiegel näherkommen.“
Pesch erkannte die Stimme des Beifahrers im ersten Wagen, der ihn vorhin mit – vermeintlichen – Arabischkenntnissen verblüfft hatte. Die Kollegen riefen den Mann Berny, soweit Pesch das mitbekommen hatte; das hörte sich nicht wirklich Arabisch an. Vogel-1 meldete sich wieder: „So, er hat angehalten, genau vor dem Objekt. Ein weißer Renault Kangoo, keinerlei Firmenaufschrift.“ Er gab das Kennzeichen durch, der Wagen war in Marßen registriert, die Kollegen in der Zentrale würden rasch herausbekommen, auf wen er zugelassen war.
„Vogel-2 hier, wir sehen ihn auch, sind aber etwas weiter weg. Sieht so aus, als ob der Fahrer etwas vom Rücksitz nimmt.“
„Wieder Vogel-1 hier, die Fahrertüre ist gerade geöffnet worden. Jetzt steigt er aus. Relativ junger Kerl, würde ich sagen, höchstenfalls dreißig. Er nimmt was vom Beifahrersitz, sieht aus wie ein länglicher Karton. Geht jetzt auf die Haustüre zu.“
„Frag an, ob sie in der Wohnung Hilfe brauchen“, bat Pesch den Beifahrer.
„Hier Vogel-3. Frage an Heimat: braucht Ihr Unterstützung“, sprach der Beamte in das Mikrofon.
Die Antwort kam rasch und klang ein bisschen genervt: „Heimat hier, alles in Ordnung, wir sind auf dem Quivive. Es klingelt gerade an der Tür.“
Peschs Anspannung war kaum auszuhalten – er bekam nicht mit, was sich gerade in dem Haus am Parkgürtel abspielte. Ähnlich hilflos hatte er sich zuletzt in dem Moment gefühlt, als er vom Lageraum aus die Jagd auf Brückner in Paulushof verfolgt hatte. Wie gerne hätte er diesen Kerl damals lebendig erwischt. Mit dieser Vorgeschichte, und der merkwürdigen Intervention des Landeskriminalamtes. Was sich dahinter wohl alles verbarg? Aber gut, das war nicht mehr sein Fall.
Einige hundert Meter entfernt drückte eine verständlicherweise sehr nervöse Sabrina Rosen den Knopf der Gegensprechanlage. „Ja bitte“, sagte sie mit einem leichten Zittern.
„Guten Abend, ich habe hier eine Lieferung für Sie“, klang eine Stimme mit ausländischem Akzent aus dem alten Lautsprecher neben der Tür. Einer der Polizisten nickte Sabrina Rosen beruhigend zu.
„Dritter Stock, zweite Wohnung links“, sagte sie und betätigte den Türöffner.
„Heimat hier, er ist jetzt im Objekt. Die Empfangsdamen stehen bereit.“ Pesch wusste, was das bedeutete. Im Treppenhaus warteten zwei Beamte mit gezogener Waffe, ein weiterer Kollege stand ähnlich einsatzbereit hinter der Wohnungstür. Sobald der Mann mit dem länglichen Karton an der Wohnung von Sabrina Rosen ankäme, würde er dort in Empfang genommen. Standardverfahren, unzählige Male geübt und auch in der Praxis nicht gerade selten.
Der Aufzug hielt mit einem Pling im dritten Stock. Der junge Mann musste sich kurz orientieren, wandte sich dann nach links. An der zweiten Wohnung blieb er stehen, blickte kurz auf das Namensschild, lächelte und drückte den Klingelknopf.
„Polizei! Fallenlassen und Hände hinter den Kopf“, brüllte eine männliche Stimme links von ihm. Der junge Mann war verwirrt, neben ihm stand ein Mann in Polizeimontur mit gezogener Waffe.
„Lass das verdammte Ding fallen und nimm die Hände hinter den Kopf“, ertönte eine heisere weibliche Stimme von rechts. Der so Angesprochene ließ wie verlangt den leichten, länglichen Karton fallen und verschränkte seine Hände im Nacken.
Die Wohnungstüre vor ihm wurde aufgerissen, er sah eine weitere Waffe auf sich gerichtet. „Runter auf den Boden, Hände auf den Rücken!“ Zum Glück hatte er oft genug deutsches Fernsehen verfolgt, um die Worte zu verstehen. Als er auf dem Boden lag, ergriff jemand seine Arme und legte ihm Handschellen an. Vermutlich der männliche Beamte, dachte er, eine Frau würde einen kooperativen Menschen doch wohl nicht so grob behandeln. Obwohl man bei den Deutschen nie wissen konnte.
Die beiden Männer rissen ihn hoch und schoben ihn an einer Blondine in Zivil, die so gar nicht nach Polizei aussah, vorbei in ein Wohnzimmer. „Ach du Scheiße“, hörte er die heisere Frauenstimme vom Korridor. Ihm gelang ein kurzer Blick zurück – der Karton war aufgeplatzt.
„Heimat hier, der Zugriff ist geglückt“, hörte Pesch die Stimme aus dem Lautsprecher, „der Verdächtige war nicht bewaffnet. Der Karton ist bei der Aktion aufgeplatzt. Sein Inhalt war ein Strauß roter Rosen.“
„Na klasse“, sagte der Mann im Fahrersitz vor ihm, „statt eines Killers kommt der Rosenkavalier.“
So ein Komiker hatte ihm gerade noch gefehlt, dachte Pesch. Er ließ sich von dem Beifahrer das Funkgerät geben und wies an: „Pesch hier. Lasst den Karton und die Blumen und das ganze Zeug unangetastet, bis jemand von der Spurensicherung da ist.“ Dann öffnete er die Tür und stieg aus.
Als Pesch in Sabrina Rosens Wohnung ankam, begrüßte ihn einer der Beamten mit einer kleinen Plastikkarte, offenkundig ein Ausweis. „Der Mann heißt Emils Steins, lettischer Staatsangehöriger, 28 Jahre alt. Er behauptet, bei einem Nachtlieferdienst zu arbeiten“, sagte der Polizist.
„Das tut er wahrscheinlich auch“, brummte Pesch, „auf diesen Lieferdienst ist nämlich auch der Kangoo zugelassen.“ Der erfahrene Ermittler mochte es gar nicht, wenn Uniformierte bereits mit Verhören anfingen, obwohl sie dafür kein bisschen qualifiziert waren.
Der junge Mann, weißblond und sehr schlank, saß ziemlich bedröppelt auf einem Stuhl im Wohnzimmer. „Und nehmt ihm bitte die verdammten Handschellen ab“, knurrte Pesch, „was glaubt Ihr denn, wen ihr da habt? Hannibal Lecter vielleicht?“
Er wandte sich der regulären Bewohnerin zu: „Frau Rosen, haben Sie eine Idee, wer Ihnen diesen Strauß geschickt haben könnte? Ein Verehrer vielleicht?“
„Verehrer habe ich schon“, antwortete die Krankenschwester, „aber die würden dann eher vorher anrufen und die Blumen selber vorbeibringen.“ Aktuell zumindest konnte sie sich niemanden denken, der ihr über einen Lieferdienst einen Strauß rote Rosen zukommen lassen würde.
Pesch nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu dem Kurierfahrer, der seine Handgelenke massierte. „Gut, Herr Steins“, sagte er, „jetzt mal von Anfang an: warum sind Sie mit diesen Blumen hier aufgeschlagen?“
„Ich habe um acht Uhr meinen Dienst begonnen, in Rödinghausen“, antwortete der Lette. Das passte zu dem, was Pesch über den Lieferdienst wusste, der seinen Sitz im Rödinghausener Viertel MoWo hatte, im Volksmund mittlerweile auch als „Klein-Moskau“ bekannt. „Die Mädels im Büro hatten mir wie immer eine Liste gemacht mit den Adressen und den dazu passenden Sendungen“, fuhr der Fahrer fort, „ich musste dann selber überlegen, in welcher Reihenfolge ich die Sendungen am besten mache. Einen Disponenten haben wir nicht.“ Der Blumenstrauß war eine Sonderlieferung gewesen. „Der durfte erst nach zehn Uhr abgeliefert werden“, sagte Steins.
„Wer hat das so bestimmt?“, wollte Pesch wissen.
Steins blickte ihn erstaunt an: „Na, der Kunde natürlich. Von sich aus machen unsere Mädels das nicht.“
„Sie selber haben den Kunden also nicht gesehen?“, fragte Pesch. Der junge Lette schüttelte den Kopf. „Wissen Sie denn vielleicht, ob der gleiche Kunde noch andere Lieferungen beauftragt hat?“, hakte Pesch nach.
„Nein, das lief alles über die Mädels im Büro“, kam postwendend die Antwort.
„Schade“, sagte Pesch, „ich hätte Ihnen sonst den Wagen recht schnell wiedergeben können. Aber so müssen wir warten, bis Ihr Büro wieder besetzt ist. Könnte ja sein, dass da noch andere Lieferungen sind, von denen wir Fingerabdrücke nehmen müssen und so weiter.“
Der Hauptkommissar sprach einen der uniformierten Beamten an: „Lass bitte eines der Observationsfahrzeuge rufen. Damit die Kollegen auch mal was zu tun bekommen – sie können Herrn Steins nachhause bringen.“ Ihm fiel die flapsige Bemerkung des Komikers in Vogel-3 ein: „Ruf Vogel-3, ich glaube die langweilen sich besonders.“
Ein Mitarbeiter der Kriminaltechnik kam auf ihn zu. „Das hier könnte dich interessieren“, sagte er und hielt Pesch einen transparenten kleinen Plastikbeutel hin. „Die Karte darin hing am Blumenstrauß“, erklärte er.
Pesch las die Aufschrift auf der Karte: „Vielen Dank für die Erleuchtung! U.“ Er drehte sich zu Sabrina Rosen: „Kennen Sie jemanden, dessen Name mit U anfängt? Einen Udo vielleicht, oder Ulrich? Jemanden, den Sie erleuchtet haben?“
Die junge Krankenschwester grinste: „Also für Erleuchtung hat sich bei mir noch keiner bedankt, das ist mal was Neues…“
Pesch grinste ebenfalls, bis ihm klar wurde, dass das „U.“ auch für Uhu stehen könnte. Und damit die Frage in den Raum stellte, wem der Dank für die Erleuchtung eigentlich galt.
Der Fahrer von Vogel-3 erschien in der Wohnung: „Hat hier jemand ein Taxi gerufen?“
„Ja, ich, du Witzbold“, knurrte Pesch.
Steins sprach ihn vorsichtig an: „Entschuldigung, könnte ich vielleicht noch meine Wasserflasche aus dem Wagen holen? Ich bin sehr durstig.“
Noch bevor Pesch sich über die Bitte Gedanken machen konnte, hörte er Sabrina Rosens Stimme: „Ich kann Ihnen rasch ein Glas Wasser holen.“ Flugs verschwand die Blondine in der Küche, man hörte wie der Kühlschrank geöffnet und offenbar Mineralwasser in ein Glas gegossen wurde. Einige Augenblicke später kehrte die junge Frau zurück. Noch Tage darauf grübelte Hans-Jakob Pesch über den folgenden Moment nach: hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Oder hatte Sabrina Rosen dem durstigen Gast mit dem Glas Wasser auch noch ein Zettelchen in die Hand gedrückt? Breit angelächelt hatte sie Steins auf jeden Fall.
Als er sich mit seinem Fahrgast zum Gehen wandte, drehte sich der Taxifahrer Rainer noch einmal zu Pesch um. „Ach übrigens“, sagte er, „da scheint gerade in Galgenwardt was abzugehen. Hört sich nach einem Mord an – sie reden von einem Kopfschuss.“
Pesch stand wie angewurzelt da: „Scheiße, und das erzählst du mir erst jetzt?“
„Wo genau ist das?“, fragte Pesch, nachdem Henseler ihn über den Mord in Galgenwardt informiert hatte. Der junge Kommissar war bereits vor Ort, ebenso Sabine Greven mit ein paar Mitarbeitern, und Doc Wittmann von der Gerichtsmedizin. Der 46jährige Rechtsanwalt Erhardt Strack war kurz nach halb Zwölf vor seinem Haus erschossen worden. Er hatte mit seiner Frau zuvor in einem nahen Restaurant zu Abend gegessen. Die Frau hatte den Mörder gesehen und ihn als „Mann mittleren Alters, gut Eins Achtzig groß und schlank“ beschrieben.
„Das hier ist die Herrmann-Josef-Straße, führt direkt zum Fluss, fast gegenüber der Sievermündung“, beschrieb Henseler den Ort.
„Danke, das reicht mir“, sagte Pesch. Den Rest würde das Navi erledigen.
Er ging zurück in die Wohnung. Der Kriminaltechniker war schon auf dem Rückweg ins Institut, den Lieferwagen würden sich die Kollegen falls nötig am Vormittag anschauen. Er fand den ranghöchsten der uniformierten Beamten und nahm ihn beiseite. „Ich mach mich jetzt auf den Weg nach Galgenwardt“, erklärte er. „Es sieht so aus, als hätte der Kerl, den wir hier erwartet haben, dort zugeschlagen.“
„Was ist mit diesem Einsatz hier?“, wollte der Kollege wissen.
„Wird erst mal fortgesetzt“, antwortete Pesch. Er zog den Beamten weiter auf den Korridor raus, außerhalb Sabrina Rosens Hörweite. „Dieser Kerl hat bei der Ermordung ihrer Kollegin ein richtiges Szenario aufgezogen, fast schon eine Show“, erläuterte er dem erschrocken wirkenden Beamten. „Ich kann leider nicht ausschließen, dass er uns erst mit den Blumen eine lange Nase dreht, dann den Mord in Galgenwardt begeht, und später hier, wenn wir alle Leute abgezogen haben, das Mädchen auch noch umlegt. Klingt wie ein Film, ich weiß. Aber bei dem Typen muss man mit sowas rechnen.“
Pesch ließ den Kollegen stehen und ging die Treppe runter. Er brauchte dringend ein paar Antworten. Und er hatte eine Idee, wer ihm diese Antworten geben konnte.
Delamottes Handy hatte um kurz nach Sechs geklingelt. „Er hat wieder zugeschlagen, diesmal ist es ein Anwalt“, hatte Henseler gesagt, „wir treffen uns um 7 Uhr 30 im Besprechungsraum.“
Delamotte hatte sich rasch frischgemacht, ein paar Reste vom Abendessen zu sich genommen und einen starken Kaffee getrunken. Nun fuhr er auf dem südöstlichen Zubringer durch Ollmarken, hatte also einen Gutteil seines Weges bereits geschafft. Es würde zeitlich trotzdem knapp werden, aber lieber riskierte er eine weitere Auseinandersetzung mit Pesch, als allen Kollegen ungeduscht entgegenzutreten.
Der Uhu hatte also einen Rechtsanwalt getötet. Zumindest schon mal nicht die andere Krankenschwester. Ein Rechtsanwalt konnte für vieles stehen – vielleicht einfach ein weiterer Verkehrssünder, zumindest in den wirren Kategorien des Täters.
Oder jemand, der in irgendeinem Rechtsstreit die Gegenseite erfolgreich vertreten hatte. Oder den Uhu vertreten hatte, dann aber eben ziemlich erfolglos. Delamotte tendierte zu Ersterem. Was für ein Rechtsstreit hatte das sein können? Was war traumatisch genug, um in jemandem einen Mordtrieb auszulösen? Oder dachte er gerade viel zu simpel? Konnte nicht vielleicht alles traumatisch wirken, wenn jemand die passende psychische Disposition dafür hatte? Und konnte der Grund, aus dem der Anwalt zum Opfer geworden war, nicht auch noch ganz woanders liegen?
Delamotte bog auf die Potsdamer Straße ab. Für eine tiefergehende Analyse brauchte er weitaus mehr Fakten. Die würde er gleich mit Sicherheit bekommen. Als er am Berliner Platz ankam, fiel sein Blick auf die Uhr. Wenn er sich ranhielt, konnte er bis halb acht im Besprechungsraum sein.
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