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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 24
Mehrere Tage gingen ins Land. Ab und an hielt Marino Delamotte auf dem Laufenden. Sabrina Rosen schien den Ausnahmezustand, der über ihr Leben eingebrochen war, relativ gut wegzustecken. Aber die Aktion lief auch erst seit kurzem, wie Delamotte bewusst war. Kein Mensch wusste, wie lange sie anhalten würde. Er korrigierte sich – ein Mensch wusste das vielleicht schon: der Uhu selber.
Im Hintergrund ließ Pesch, sofern dies möglich war, alle Personen identifizieren, die irgendwo in der Nähe von Rosens Wohnsitz auftauchten. Diese Daten glich Henseler dann mit denen der bekannt guten Schützen sowie der Liste der Unfallopfer ab. Es wunderte Delamotte nicht wirklich, dass es bei dieser Aktion keinerlei Einschränkung bezüglich des Alters oder des Wohnsitzes der identifizierten Personen gab. Aber ein Stück weit traf es ihn schon. Pesch schien auf seine Mitwirkung keinen großen Wert mehr zu legen.
Durch seine Wohnung waberte noch der Duft der flämischen Karbonade, für deren Zubereitung Delamotte sich hinreichend viel Zeit gelassen hatte. Die Zeit, die das Biergulasch im Backofen geschmort hatte, war dank einem großen braunen Leffe recht schnell vergangen, und das Ergebnis seiner Arbeit und seiner Geduld hatte dem Psychologen gut geschmeckt. Er hatte gerade eine weitere Flasche des dunklen Bieres geöffnet, als es klingelte.
Den Mann, der vor der Türe stand, hatte Delamotte noch nie gesprochen. Dennoch erkannte er ihn sofort. Das schwarze, leicht lockige Haar, darunter ein schmales Gesicht mit Dreitagebart. Er war etwas größer als Delamotte selbst, allerdings kleiner als Theo, vermutlich auch kleiner als Marino. Sein Körperbau war schlank, fast ein wenig hager, und es fiel schwer, diesen Körper mit den geschmeidigen Bewegungen in Verbindung zu bringen, die Delamotte im Schlosspark beobachtet hatte.
Der Mann lächelte, die dunkelbraunen Augen blickten freundlich: „Hallo, ich bin Erwin.“ Er wartete einen Augenblick, bevor er weitersprach, die Situation schien ihn ähnlich stark zu fordern wie seinen Gesprächspartner. „Wir wollten dich fragen, ob du rüberkommen möchtest“, sagte er, „ich persönlich würde dich gerne kennenlernen – und Britta möchte dich sehen.“ Erwin lächelte abermals: „Falls das für dich in Ordnung ist, natürlich.“
Die Frage war eh schon durch Delamottes Gehirn gegeistert. War es in Ordnung? War er so stark? Ein Schwächling zumindest war er nicht, obschon er sich in den letzten Jahren oftmals so gefühlt hatte. Womöglich war es an der Zeit, seine Stärke unter Beweis zu stellen – besonders sich selbst gegenüber. „Warte einen Moment, bitte“, antwortete er, „ich ziehe mir nur gerade ein paar Schuhe an.“

Britta empfing ihn mit einer kräftigen Umarmung, ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie kurz zuvor unsicher gewesen und nun erleichtert war, da sich die Unsicherheit als unbegründet herausstellte. Etwas anderes war ihrem Gesicht ebenso abzulesen wie ihren Armen und Beinen – sie hatte sich in jüngster Zeit oft im Freien aufgehalten, die Sonnenbräune war nicht zu übersehen.
Sie nahmen Platz, Britta und Erwin auf der Couch, Delamotte in einem der Sessel. „Ist Timmy bei Radi?“, fragte er.
Britta schüttelte den Kopf: „Bei Oma und Opa im Taunus. Am Wochenende holen wir ihn wieder ab.“
Erwin hatte ihm derweil ein Glas Weißwein eingegossen: „Britta hat mir schon von deinem Weinkeller erzählt. Ich hoffe, ein badischer Gutedel findet dein Wohlwollen.“
Er reichte dem Gast das Glas. „Aus dem Markgräfler Land?“, fragte Delamotte. Erwin nickte. „Jederzeit gerne“, sagte Delamotte und nahm einen Schluck. Mit einem anerkennenden Geräusch ließ er den Wein langsam den Gaumen umspielen.
Die Situation war für alle drei Beteiligten erkennbar schwierig, die Anspannung löste sich nur allmählich, während sie über dies und das plauderten. Dabei half Delamotte die Erkenntnis, dass sich zwischen Britta und Erwin eine Vertrautheit entwickelt hatte, die offensichtlich weit stärker war als das Vertrauen, das ihn mit seiner Nachbarin verband. Die Verwandlung, die er in den vergangenen Wochen an Britta bemerkt hatte, erklärte sich wohl aus dieser Vertrautheit. Und diese Verwandlung, das war nicht zu übersehen, tat ihr gut. Erwin tat ihr gut.
Als die Flasche Gutedel zu Neige ging, bot Delamotte an, einen Wein aus dem Keller zu holen. „Gerne einen Roten zur Abwechslung“, sagte Britta, „aber nicht meinen Lieblingswein. Wir können ja nicht immer 40-Euro-Weine trinken. Hol was Einfacheres.“
Sie hatte offenbar erfahren, wie hochpreisig der Phélan Segur war, und Delamotte konnte sich auch denken, von wem. Wobei er den Wein regelmäßig bei einer Bezugsquelle in Luxemburg zu günstigeren Preisen bekam.
„Darf ich mitkommen?“, fragte Erwin. „Den Keller würde ich mir gerne mal angucken.“ Delamotte hatte nichts dagegen.
„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte er, als sie auf dem Weg in den Keller waren.
„Ich bin professioneller Klugscheißer, auch bekannt als Lehrer“, antwortete Erwin, „am Bertha-von-Suttner-Gymnasium in Lantzen. Deutsch, Musik und Sport. Am liebsten Musik, das war immer mein Ding.“ Er hatte als Kind schon Musik gemacht, beherrschte mehrere Instrumente, aber mit klarer Neigung zur Gitarre. „Akustisch, elektrisch, sechs oder zwölf Saiten, manchmal auch Mandoline“, erklärte er, „ich bin sogar Mitglied im BDZ.“
„Mitglied wo?“, fragte Delamotte.
„Im BDZ“, antwortete Erwin grinsend, „im Bund Deutscher Zupfmusiker.“
Delamotte lachte schallend: „Komm, jetzt verarschst du mich aber!“
Erwin lachte ebenfalls, bekräftigte aber: „Den Verein gibt es wirklich. Und vergiss nicht, Gitarre wird nicht nur in Rockbands gespielt, sondern auch sehr klassisch. Denk mal an Flamenco und so was.“
Sie betraten den Weinkeller. Erwin war ähnlich beeindruckt wie bereits Britta, in einem Moment der Delamotte fast eine Ewigkeit zurück zu liegen schien. Interessiert ging er die Regale entlang. „Gut sortiert“, stellte er fest, „mit einem gewissen Schwerpunkt auf Frankreich.“
„Das stimmt“, bestätigte Delamotte, „ich mag Wein aus vielen Ländern, bin immer an Neuem interessiert, aber Frankreich bleibt für mich immer das Weinland Nummer eins. Außerdem haben wir früher fast jedes Jahr in Frankreich Urlaub gemacht.“ Er griff eine Flasche aus dem Regal, das dem Süden Frankreichs gewidmet war.
„Ein Ventoux“, erklärte er, „der kostet deutlich weniger. Schmeckt aber trotzdem sehr gut.“ Erwin erinnerte der Name an die Tour de France. Das konnte Delamotte bestätigen – der Wein stammte von den Hängen eines der bekanntesten Berge der Tour.
Als sie wieder in die Wohnung kamen, hatte Britta bereits den Fernseher eingeschaltet. Bis Schenck waren es nur noch ein paar Minuten. Erwin entkorkte den Wein. „Wie teuer ist der?“, wollte Britta wissen.
„Keine zehn Euro“, antwortete Delamotte. Seine Nachbarin schien zufrieden. Mit dem Geschmack des Weins zufrieden waren definitiv alle drei.
Die Melodie der Rob Schenck Show lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Fernseher. Die Studioband erschien im Bild. „Welcher ist dein alter Kumpel?“, fragte Britta.
„Der am Schlagzeug, das ist Dennis“, sagte Erwin.
Delamotte war überrascht: „Du kennst ihn?“
Erwin nickte: „Während des Studiums haben wir in der gleichen Band gespielt. Aber mit Folkrock verdienst du heute kein Geld mehr. Also ist er jetzt in der Studioband einer Fernsehshow, und ich bin Lehrer.“
Noch Jahre später sollte sich Delamotte immer wieder daran erinnern, dass die Richtungsänderung des Gesprächs eigentlich sein Werk gewesen war. Mitten in der Show, Schenck hatte Johnny Depp zu Gast, erwähnte er, wie gut es ihm tat, seine Lieblingssendung in Gesellschaft zu schauen.
Für Britta, die schon lange daran gedacht hatte, ihrem Nachbarn endlich einmal diesen Moment der Katharsis zu ermöglichen, war das eine Steilvorlage. Unmittelbar nach Ende der Sendung sprach sie ihn darauf an: „Hat deine Ex die Show von Schenck denn nie geguckt?“
Delamotte schüttelte den Kopf: „Höchst selten. Sonja mochte ihn nicht.“ Er zögerte kurz, obwohl es für das Zögern längst keinen Grund mehr gab, und noch weniger für Geheimnisse. Er hatte doch nichts zu verlieren. „Es gab vieles, was Sonja nicht mochte“, ergänzte er. Und dann fing er an zu reden, die ganze Geschichte. Das erste Mal gegenüber anderen und irgendwie auch das erste Mal gegenüber sich selbst.
Ray Greene hatte ihm vorgeschlagen, sein Studium in Amerika abzuschließen. Ein weiteres Stipendium hätte er organisieren können, ebenso eine vorgezogene Einbürgerung Delamottes. Und, auch das war klar, eine Anstellung des Neubürgers beim FBI. Delamotte hatte lange Zeit sehr ernsthaft über den Vorschlag nachgedacht.
Sein Heimweh hatte dann den Ausschlag dafür gegeben, den Vorschlag abzulehnen. Er hatte seine Familie vermisst, er hatte Bliesfeld vermisst, und seltsamerweise sogar Deutschland, obwohl er letzteres Gefühl nie wirklich entschlüsseln konnte. Dennoch hatte er aus Amerika eine Menge mitgebracht. Er war als schüchterner, seiner selbst nicht sicherer Junge aufgebrochen, und als junger Mann, voller Tatendrang und Selbstwertgefühl, zurückgekehrt. Und aus dem eher vagen Traum, hervorgerufen durch den Vortrag eines BKA-Mitarbeiters, war eine klare Vision geworden.
Er hatte sein Studium mit großer Zielstrebigkeit an der alten Universität beendet, mit einer Diplomarbeit, die er auch Jahre später noch als wegweisend ansah. Und mit dieser Meinung stand er auch beileibe nicht alleine da. Und er hatte Sonja kennengelernt. „Ich weiß heute echt nicht mal mehr, warum ich damals auf sie aufmerksam geworden bin“, erklärte er, „wahrscheinlich war es eher so, dass sie auf mich aufmerksam geworden ist.“ Auch Sonja hatte ihr Studium gerade abgeschlossen, und sofort eine gutbezahlte Anstellung in einem privaten Labor für Biotechnologie bekommen.
Delamotte dagegen hatte zu kämpfen, weder bei der örtlichen Polizei noch beim Landeskriminalamt war eine passende Stelle frei gewesen. Nach knapp einem Jahr hatte er eine Anfrage vom BKA bekommen – er vermutete immer noch, dass Ray dabei irgendwie seine Finger im Spiel gehabt hatte. Aber zu dem Zeitpunkt hatte er bereits mit Sonja zusammengelebt, und ein Umzug nach Wiesbaden hatte ihn eher abgeschreckt.
„Also habe ich damals zwei Teilzeitjobs gehabt“, erzählte er. Die Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Psychologie war genau so gering bezahlt gewesen wie die Halbtagsstelle als Therapeut im Klinikum Altenstein. Delamotte seufzte: „Ganz klar, in den ersten beiden Jahren unserer Beziehung war Sonja eindeutig die Hauptverdienerin. Dass sie damit auch die Bestimmende wurde, nahm ich einfach hin.“
Erwin schien skeptisch: „Ich denke nicht, dass das primär eine Geldsache war.“ Auf jeden Fall hatte Sonja die gemeinsame Wohnung ausgewählt, das gemeinsame Auto, und bei gemeinsamen Reisen hatte sie auch das entscheidende Votum gehabt. Delamotte hatte das alles mitgemacht, und solange er mitgemacht hatte, war die Beziehung auch harmonisch verlaufen. Das hatte er zumindest immer so empfunden. Inzwischen waren ihm da einige Zweifel gekommen.
Und dann war doch noch ein Kontakt zum Dezernat K der Marßener Kriminalpolizei entstanden, Delamotte wusste nach wie vor nicht, durch wen oder was. Es hatte einige Zeit gedauert, fast schon hatte er die Hoffnung aufgegeben, aber dann war Stegmayers Angebot eingegangen. „Ich hatte Sonja von Beginn an immer klargemacht, dass es mein Wunsch war, für die Polizei zu arbeiten. Die Stadt sicherer machen. Aber als die Polizei mich dann haben wollte, riet Sonja mir davon ab“, erzählte er. „Ich habe lange Zeit gedacht, sie hielte mich für zu schwach, dem Stress einer solchen Tätigkeit standzuhalten – und dass sie mich beschützen wollte.“
Erwin schüttelte heftig den Kopf: „Nein, das kann ich dir definitiv sagen, das war es nicht. Ich denke, sie hatte Angst davor, dass du ihr nun auf Augenhöhe begegnen würdest.“
Delamotte war nicht überzeugt: „Ich weiß nicht – Augenhöhe? So gut bezahlt die Polizei mich auch nicht. Sonja hat auch danach noch besser verdient als ich.“
„Das ist keine Geldsache, Markus“, erklärte Erwin. Delamotte beugte sich interessiert vor, und bemerkte, dass Britta das Gleiche tat. Erwin fuhr fort: „Sieh es einmal so – Sonja hat von Beginn der Beziehung an beruflich das tun können, was sie wollte. Was sie konnte. Wofür sie perfekt ausgebildet war.“ Er drückte Delamottes Arm: „Du dagegen konntest das in den ersten beiden Jahren nicht. Du musstest dich irgendwie über Wasser halten. Das gab ihr die Oberhand in eurer Beziehung. Und diese Oberhand drohte sie nun zu verlieren – weil du endlich deine Stärken nutzen konntest. Weil du die Vision umsetzen konntest, von der du eben gesprochen hast.“
Delamotte musste sich eingestehen, dass Erwins Ausführungen sehr überzeugend waren. Sie erklärten einiges, für das er bislang nie eine Erklärung gefunden hatte. Er erzählte weiter: „Tja, und dann kam, ziemlich schnell, mein erster großer Fall – die Chinesensache.“
Erwin lächelte: „Daran erinnere ich mich sogar – da ging es um die chinesische Mafia, nicht wahr? Und du hast das irgendwie rausbekommen. Du warst sogar richtig groß in der Zeitung.“
Delamotte blickte säuerlich drein: „Ich habe eigentlich gar nichts rausbekommen, das Ganze war ein Tipp von zwei Freunden aus Amerika. Der ‘Blitz’ hat das damals furchtbar übertrieben. Und als Konsequenz von diesem Artikel musste meine ganze engere Familie für fast zwei Monate nach Frankreich – unter Polizeischutz.“
„Um Gottes Willen“, hörte er Britta sagen.
„Und meine Oma mütterlicherseits hat das damals richtig mitgenommen“, fuhr Delamotte fort, „und sie hat die Strapazen nicht lange überlebt.“ Britta und Erwin blickten ihn mitfühlend an.
Aber Delamotte spürte, dass etwas an der Erzählung, so wie er sie in den letzten Jahren wahrgenommen hatte, nicht stimmte. Gewiss, für Oma Hanni war die Belastung enorm gewesen, obwohl seine Mutter sich aufopferungsvoll um sie gekümmert hatte.
Aber was die anderen anging, die Träger der Blutslinie Delamotte – war es für die wirklich so eine Belastung gewesen? Opa Jacko zumindest hatte die Zeit genossen. Von ihrem Aufenthaltsort war es nicht weit gewesen bis nach Nantes, wo Opa als junger Besatzungssoldat den Großteil des Krieges verbracht hatte. Mehrmals war er mit seinem Sohn und den Enkeln, in Begleitung einiger französischer Personenschützer, in die Stadt an der Loire gefahren.
Die örtlichen Beamten hatten Opa Jacko direkt in ihre Herzen geschlossen. Sein verschmitzter Humor, sein drolliges Französisch, das noch belgischer klang als das in Lüttich, Namur oder Charleroi – schließlich hatte er die Sprache nie in der Schule gelernt, sondern von seinem Vater, und der war eben Wallone gewesen.
„Besonders Philippe, einer der beiden leitenden Beamten, mochte Opa Jacko unglaublich gut leiden. Die beiden saßen abends oft bei einem Glas Wein auf der Terrasse, wenn Philippes Einsatz beendet war. Er stammte aus dem Norden, nicht weit von der belgischen Grenze entfernt, sein Französisch klang ganz ähnlich wie das von meinem Opa“, erzählte Delamotte.
Und jener Philippe hatte dann auch dafür gesorgt, dass Opa Jacko und seine Enkel für ein paar Tage in die Normandie fahren konnten, natürlich mit Begleitung. Sie hatten die alliierten Landungspunkte des D-Day besucht, und die verschiedenen Soldatenfriedhöfe. Auf dem deutschen Friedhof in La Cambe hatte Opa Jacko ihn und einen jungen Franzosen namens Gilbert gedrückt und gesagt: „Dass ihr Jungen sowas nicht erleben müsst – dafür bin ich dem lieben Gott unendlich dankbar.“
Am Tag darauf waren sie nach Falaise gefahren, wo Opa Jacko in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten war. Auf einem Transportschiff hatten sie ihn mit hunderten seiner Kameraden über den Atlantik gebracht. „Wir hatten fürchterliche Angst, von den eigenen U-Booten torpediert zu werden“, hatte sein Opa erzählt. Er war vergleichsweise kurz in Amerika gewesen, aber lange genug, um das Ausmaß der Indoktrination zu begreifen, dem er und seine Altersgenossen in ihrer Jugend ausgesetzt gewesen waren. Die katholische und gewerkschaftliche Prägung des Elternhauses hatte das nur zum Teil abfedern können. In den Staaten hatte sein Opa zum ersten Mal Amazing Grace gehört, was immer noch seine Lieblingsmelodie war. Und als sein Enkel erstmals die Möglichkeit eines Stipendiums in Amerika erwähnt hatte, war Opa Jacko derjenige gewesen, der ihm ganz deutlich dazu geraten hatte.
Delamotte bemerkte, dass er zu sehr ins Plaudern geraten war. „Die Quintessenz von all dem ist folgende“, sagte er, „ich habe immer gedacht, diese Episode hätte uns alle getroffen, die ganze Familie, außer Opa Jacko vielleicht. Aber das stimmt nicht. Sicher, Oma Hanni hat darunter richtig gelitten, und auch meine Mutter, die sich um sie gekümmert hat. Mein Vater dagegen hat damals durchaus gute Momente gehabt, und wir Delamotte-Kinder erst recht.“
Er hielt einen Augenblick inne, bevor er weitersprach: „Aber Sonja, die war wirklich außen vor. Nicht, dass wir sie ausgeschlossen hätten, Gott behüte. Aber sie wollte nicht. Sie fuhr nie mit nach Nantes, und in die Normandie schon gar nicht. Dabei sprach sie einigermaßen gut Französisch. Aber sie blieb in unserem Haus, und las irgendwelche Fachbücher. Und schmollte.“
„Sie war nur noch eine Nebenfigur“, warf Erwin ein.
Britta stimmte zu: „Das muss sehr schwierig für sie gewesen sein. Zwei Jahre lang war sie die Hauptfigur gewesen, und nun lag die Rolle bei dir.“ Sie grinste: „Und natürlich bei deinem Opa.“
Auf jeden Fall hatte der Erfolg im Chinesenfall, und auch in den folgenden Ermittlungen, sein Selbstbewusstsein enorm gestärkt. Er hatte sich wieder wie in Amerika gefühlt – ein Mann, der seiner Mission folgte. „Und dann begann dieses ganze Gerede von Sonja“, wechselte Delamotte zum schmerzhaftesten Teil der Geschichte über, „mein Erfolg als Polizeipsychologe wäre nur die Frucht einer dunklen Seite meiner selbst.“
Britta und Erwin wirkten geschockt. „Aber das ist doch Unsinn“, rief sie, „an deinem Talent ist doch nichts dunkles. Es macht die Stadt sicherer – für Frauen wie mich, für Kinder wie Timmy.“
„Für jeden“, warf Erwin ein.
„Denkt bloß nicht, ich hätte mich nicht gewehrt“, sagte Delamotte, „eine ganze Zeit lang habe ich das getan.“
Erwin verstand den Hinweis: „Aber steter Tropfen höhlt den Stein.“ Mehr brauchte er auch nicht zu sagen – die dauernde Wiederholung des ewig gleichen Vorwurfs von Sonjas Seite hatte Delamotte irgendwann mürbe gemacht.
„Und dann kamen noch die kleinen Nebenkriegsschauplätze dazu“, ergänzte er. Sonja mochte die Rob Schenck Show nicht. Eishockey war ihr zu brutal. „Und wenn sie mal zunahm, waren meine Kochkünste daran schuld“, erzählte er, „und im Endeffekt war ich dann derjenige, dessen Gewicht dauernd nach oben ging und dessen Selbstwertgefühl nach unten.“
„In gewisser Weise war ihr Handeln folgerichtig“, sagte Erwin.
Britta tadelte ihn direkt: „Bitte, Erwin, was soll das denn bedeuten?“
Erwin bekräftigte seinen Einwurf: „Doch, doch – schau mal, zwei Jahre lang hatte sie Markus absolut im Griff. Und nun hatte sie diese Kontrolle verloren. Sie wollte die Kontrolle aber zurück haben. Mit allen Mitteln.“
Delamotte kam nicht umhin, ihm zuzustimmen. Seine Freunde hatten ihr nicht gefallen, bis auf Ali, aufgrund jenes Missverständnisses. In Claudio hatte sie einen potentiell schlechten Einfluss auf ihn gesehen, und seine alten Bliesfelder Kumpel waren ihr viel zu provinziell gewesen. „Wir waren eingeladen, Tatjana feierte Geburtstag“, erzählte Delamotte, „Tatjana ist die Frau von meinem alten Schulfreund Holger.“
„Eine Russin?“, wollte Erwin wissen.
„Spätaussiedlerin“, korrigierte Delamotte, „aber ja, ihre Verwandten sprechen Russisch untereinander so häufig wie Deutsch. Und das galt auch für die meisten Geburtstagsgäste. Und die Frauen…“
Er suchte nach möglichst neutralen Worten, aber Britta kam ihm zuvor: „Hey, ich weiß was du meinst. Eine meiner Kolleginnen stammt auch aus Russland. Oder der Ukraine oder sowas. Immer top gestylt.“
Delamotte nickte: „So war es auf dieser Geburtstagsfeier auch. Sonja drängte recht früh zum Aufbruch. ‚Was waren das denn für Tussis?‘, fragte sie später.“
Erwin hatte eine Erklärung: „Konkurrenz. Sie fürchtete Konkurrenz. Und dank deines Erfolges bei der Polizei wurdest du für Konkurrentinnen zu einem lohnenswerten Ziel.“ Britta schien diese Aussage nicht wirklich zu gefallen.
Delamotte jedoch wurde immer klarer, dass seine Beziehung mit Sonja von Beginn an in einer Schieflage gewesen war. „Lange habe ich gedacht, es sei meine Anstellung bei der Polizei gewesen, die unsere Beziehung zerstört hat“, erklärte er.
„So war das aber nicht“, sagte Britta und ergriff seine Hand, „das Scheitern der Beziehung lag nicht an dir, Markus. Es ist nicht deine Schuld.“ Ein paar Tränen liefen ihm über die Wangen, er wischte sie rasch weg. Eigentlich sollte er doch glücklich sein, dass das alles vorbei war.
„In den letzten Monaten war es so schlimm“, erzählte er, „dass ich mich sogar im Dezernat isoliert fühlte. Ein Außenseiter. Einer, der nirgendwo richtig dazugehört.“
Erwin warf ein: „Aber eigentlich warst du gar nicht isoliert. Sonja hat dich isoliert.“ Delamotte nickte – und er erkannte, dass diese Entwicklung ihm die Möglichkeit gab, sich Neuem zu öffnen. Auch neuen Personen gegenüber. Er dachte an die Leute, denen er in jüngster Zeit etwas näher gekommen war; an Niklas und Jutta, an Sabine Greven und Thomas Ludes, vielleicht sogar Alvarez. Und natürlich an Britta, an Nicky und Theo, und auch an Erwin. Wenn er die Gelegenheit nutzte, konnte sein Leben neu beginnen.

Stunden später, bereits zurück in seiner Wohnung, kam Delamotte noch ein Gedanke. Das Bier war inzwischen warm geworden, er hatte es in den Kühlschrank gestellt, und sich stattdessen als Schlummertrunk ein Glas Peket eingeschenkt. Er konnte einen Schlussstrich ziehen unter die letzten Jahre, und sich komplett dem Fall widmen. Und genau so sollte es doch auch sein. Er setzte das Glas an. Der Peket schmeckte nicht besonders, das tat er nie. Aber er wirkte. Müde, aber um eine gewaltige Last erleichtert, sank Delamotte ins Bett. Und er würde lange und tief schlafen.

Es war fast soweit. Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen. Sogar ein kleiner Koffer stand schon bereit, erst am Vortag erworben. Der Verkäufer hatte ihm zu seiner Wahl gratuliert. Die Aufgabe war klarer strukturiert als alle anderen Aufgaben zuvor. Sie würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, keine Frage. Zeit, Aufwand, gute Nerven, besonders gegen Ende hin. Aber ihre Bewältigung würde auch viel mehr Zufriedenheit mit sich bringen.
Zwei Dinge waren ihm im Rahmen der Vorbereitung klargeworden. Alle Aufgaben der Vergangenheit waren nichts anderes gewesen als Übungen, als Schritte auf dem Weg an den Punkt, an dem er angekommen war. Er war endlich bereit, die wichtigste Aufgabe seines Lebens anzugehen. Und in diesem Sinne, als Übung, waren auch die Tode des Arztes und der jungen Krankenschwester durchaus sinnvoll gewesen. Bedauerlich vielleicht, aber auf jeden Fall sinnvoll. Sie hatten ihn seiner Vervollkommnung näher gebracht.
Und ein weiterer Punkt hatte sich ihm erschlossen. Vor einigen Jahren hatte er einen dieser Thriller gesehen, ein Serienmörder tötete Menschen, die eine der sieben Todsünden begangen hatten. Der Film war schrecklich gewesen, unendlich grausam. Und damit das klar war: er selber war keiner dieser Serienmörder, er begnügte sich mit einem präzisen Schuss, kurz und schmerzlos. Aber mit einigen dieser Sünden würde er es in nächster Zeit zu tun haben. Mit Eitelkeit, mit Feigheit, mit Unkeuschheit, und mit Rachsucht. Ganz besonders mit Rachsucht, ganz zum Schluss. Mit zweierlei Arten von Rachsucht.
Zuvor aber würde er sich noch um diese Sabrina kümmern. Wie einfach es gewesen war, sie zu identifizieren! Der Computer war wirklich ein Zauberwerkzeug. Und dann noch dieser Nachname, wie passend! Eine Melodie poppte in seinem Kopf auf, er sang sie leise mit: „Für mich soll’s rote Rosen regnen.“ Er lächelte versonnen.
Natürlich konnte das alles eine Falle sein, aber damit würde er klarkommen. Ignorieren konnte er Sabrina Rosen nicht. Schließlich hatte sie ihm die Augen geöffnet. Dass sie das völlig unbewusst gemacht hatte, spielte keine Rolle. Sie hatte ihm zur wichtigsten Erkenntnis verholfen, die ihn je überkommen hatte. Und dafür musste er sich doch bei der jungen Dame bedanken, nicht wahr?