Am Nachmittag saß Delamotte mit Lüttges, Henseler und Pesch in dessen Büro. „Wir wissen also, irgendwo da draußen steckt immer noch der Uhu“, sagte der Hauptkommissar. „Sabine und ihr Team haben sich noch mal am Tatort umgeguckt. Jutta und Claudio sprechen gerade mit dem Freund des Opfers.“ Pesch blickte seine Mitarbeiter an: „Welche Ansätze haben wir noch?“
„Was ist mit deiner Liste?“, fragte Delamotte Henseler. „Die mit den besonders guten Schützen.“
„Ja, das wäre eine Möglichkeit“, antwortete der junge Kommissar, und bevor Pesch Fragen stellen konnte fuhr er fort: „Auf der Liste sind die besten Schützen der Stadt, basierend auf den Daten, die die Vereine und Schießstände uns zur Verfügung gestellt haben. Ich habe diejenigen rausgesucht, deren Ergebnisse auf dem Schießstand herausragend waren.“
„Polizei-Niveau?“, fragte Lüttges.
„Mindestens das“, erwiderte Henseler, „eher gehobenes Polizei-Niveau. Manche davon schießen regelmäßig auf Meisterschaften, auch international.“
Pesch war beeindruckt: „Das ist auf jeden Fall schon mal sehr gutes Material. Denn schießen kann dieser Mistkerl, und das muss er irgendwo gelernt haben und regelmäßig üben.“ Er überlegte einen Augenblick, bevor er weitersprach: „Was ist, wenn wir diese Daten kombinieren? Mit den Angehörigen von Unfallopfern, zum Beispiel.“
Er wandte sich an Lüttges: „Manni, wir kommen doch bestimmt an eine Auflistung der tödlichen Unfälle auf dem Ring in den letzten, sagen wir mal, zehn Jahren.“
Lüttges bestätigte: „Das ist ohne weiteres möglich.“
„Wir sollten uns vielleicht erst mal auf diejenigen Todesopfer beschränken, die den Unfall nicht selber verursacht haben“, schlug Pesch vor.
Delamotte verzog das Gesicht – die direkte Verknüpfung mit Verkehrsunfällen war ihm von Beginn an als zu einfach und banal vorgekommen, und noch weiter einschränken auf Fremdverschulden erschien ihm deutlich zu kurz gegriffen. „Das mit dem Verschulden ist so eine Sache, Jakob“, warf er ein, „für die Behörden mag die Schuldfrage eindeutig geklärt sein, spätestens nach dem Gerichtsverfahren. Für die Hinterbliebenen muss das nicht unbedingt gelten.“
„Da hast du recht“, stimmte Pesch ihm zu, „also keine Einschränkung auf die Schuldfrage.“ Er hatte einen weiteren Punkt: „Was ist mit der Beteiligung von Firmenfahrzeugen, Autos mit Aufschriften und so was?“, fragte er. „OK, wahrscheinlich hat der Uhu seine Opfer nur deshalb anhand dieser Aufschriften ausgewählt, weil es für ihn am bequemsten war.“ Delamotte nickte, genau so war es vermutlich. „Aber was, wenn da doch noch ein tieferer Grund vorliegt, den wir bisher nicht sehen?“, fuhr Pesch fort.
Delamotte war skeptisch, wollte Pesch aber den Erfolgsmoment lassen. „Die Information sollten wir uns auf jeden Fall beschaffen“, sagte er.
„Und welche Rolle spielt das Landeskriminalamt jetzt?“, fragte Lüttges.
„Gar keine“, antwortete der Hauptkommissar, „die waren von Beginn an nur an Brückner interessiert.“
„Ich frage mich, warum“, murmelte Henseler. Delamotte konnte ihn gut verstehen.
Am nächsten Morgen traf er sich mit Marino auf dem Parkplatz vor dem Präsidium. Die Verwaltung des Pflegedienstes befand sich in Sonnenthal, der in den 1960er Jahren erbauten Schlafstatt für Arbeiter der Suebia-Werke.
Auf dem Weg erzählte ihm Claudio von dem Gespräch, das er und Jutta am Vortag mit dem Freund des Opfers geführt hatten. Die beiden jungen Leute hatten sich vor gut zwei Monaten in einer Diskothek kennengelernt. „Seit drei Wochen übernachtete die Frau regelmäßig bei ihm, besonders an Wochenenden“, sagte Marino. Delamotte war nicht überrascht – ein Wochenende in Altenstein war mit Sicherheit schöner zu gestalten als eines in Neuheim. Wobei wohl für Frischverliebte jeder gemeinsame Aufenthaltsort paradiesisch sein konnte, dachte er.
„An Wochentagen hing es ab von ihren Arbeitszeiten“, fuhr Claudio fort, „und von seinen wahrscheinlich auch, er ist Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben.“
Delamotte fragte: „Habt ihr die genauen Tage, an denen sie bei ihm geschlafen hat?“
Marino verneinte: „Aber die bekommen wir noch – der Junge ist momentan ziemlich durch den Wind, verständlicherweise. Du kannst aber davon ausgehen, dass sie in den letzten drei Wochen öfter bei ihm übernachtet hat, als in ihrer Wohnung in Neuheim.“ So etwas hatte der Psychologe auch erwartet – der Uhu musste Monika Zerres mehrmals beobachtet haben, um sein Szenario sicher und genau durchzuspielen.
Nur wenige Fahrminuten von der Ausfahrt Sonnenthal-West entfernt lag das Sängerwald-Center, eine von vier Einkaufspassagen, die für die Shopping- und Freizeitbedürfnisse eines relativ großen und dichtbesiedelten Stadtteils kaum ausreichten. Marino steuerte seinen BMW in die kostenlose Tiefgarage.
Auf dem Weg nach draußen fielen Delamotte die zahlreichen rot-weißen Suebia-Aufkleber auf den Autos auf. Es war ihm ein Rätsel, warum Menschen das Logo eines Chemiekonzerns auf dem Wagen spazieren fuhren, nur weil sich dieser Konzern zu Werbezwecken einen Fußballverein hielt. Selbst wenn die Besitzer der Autos Werksangehörige waren; sollte sein Arbeitgeber jemals den Bliesfelder EV übernehmen, sinnierte Delamotte, käme es für ihn nie infrage, auf der Südtribüne stehend in den Sprechchor „PO – LI – ZEI! PO – LI – ZEI!“ einzustimmen.
Sie traten mitten in der Passage wieder ins Licht. Delamotte sah sich um – das Sängerwald-Center war von Hochhäusern umgeben, er schätze zehn bis zwölf Stockwerke. Bisher war er an Sonnenthal immer nur vorbeigefahren, wenn er Kata in Schwabstadt besuchte zum Beispiel. Er hatte einmal gelesen, dass der Stadtteil nicht nur aus Apartmentblocks bestand, sondern auch Reihenhaussiedlungen umfasste. Laut einem Artikel in der „Marßener Zeitung“ war der Stadtteil sogar ein gelungenes Beispiel für die Betonarchitektur seiner Zeit. Doch dies war, glaubte Delamotte, überwiegend der Tatsache geschuldet, dass die Suebia-Werke – trotz der hohen Ausgaben für ihre Fußballabteilung – immer noch ein solider und finanzstarker Arbeitgeber waren. Die Arbeitslosenquote in Sonnenthal war ausgesprochen niedrig. Die Trostlosigkeit der Architektur wurde nicht noch zusätzlich von Verfall und Kriminalität flankiert, wie dies am Antoniusberg der Fall war, oder auch im Rödinghausener Modernes Wohnen oder der Siedlung Am Blauen Stein, gleich außerhalb von Bliesfeld in Baassem gelegen.
Eingezwängt zwischen einem Discounter und einem großen Schuhgeschäft lag der Eingang zu einem Treppenhaus, das zu den Büros oberhalb der Geschäfte führte. Die Verwaltung von Engel auf Rädern in dem ausgedehnten Labyrinth zu finden, war gar nicht so einfach, beim ersten Versuch waren Marino und Delamotte den falschen Gang bis zum Ende durch gelaufen.
Zum Glück trafen sie auf dem Rückweg auf eine leicht füllige Blondine in der Kluft des Pflegedienstes, die die beiden Männer bereitwillig unter ihre Fittiche nahm. „Hier verläuft sich erst mal jeder“, sagte sie mit einem fast schon mütterlichen Lächeln.
Inhaber und Einsatzleiterin des Pflegedienstes entpuppten sich als Ehepaar. Ronald Graf war ein grauhaariger Geschäftsmann, den Delamotte auf Mitte Fünfzig schätzte. Seine Frau Renata wirkte mindestens zehn, eher fünfzehn Jahre jünger als er. Sie hatte tiefschwarze Haaren und sprach Deutsch mit einem harten, slawischen Akzent.
„Es fällt uns immer noch schwer, das Ganze zu verstehen“, sagte der Firmeninhaber, nachdem er und seine Gattin die Gäste zu einer kleinen Sitzecke geführt hatten.
„Monika war erst seit Anfang des Jahres bei uns“, erklärte die Frau, „aber sie hatte sich so gut in unserem Team eingelebt. Dann hat sie noch ihren neuen Freund gefunden, alles schien perfekt zu sein. Und dann tötet sie so ein Schwein!“
„In welchem Umkreis wohnen die Kunden, um die Monika sich gekümmert hat?“, fragte Marino.
„Unsere Mitarbeiter kümmern sich um keine Kunden“, korrigierte Ronald Graf lächelnd, „sie kümmern sich um Patienten.“
„Entschuldigung“, sagte Marino, „und wo wohnen diese Patienten?“
„Überwiegend in den nördlichen Stadtvierteln“, antwortete der Mann, den sich Delamotte genauso gut als Leiter eines Supermarktes oder einer Sparkassenfiliale vorstellen konnte.
„Ich habe mir gestern mal die Einsätze von Monika herausgesucht und ausgewertet“, schaltete sich Renata Graf ein und reichte Marino einen Ausdruck. „Sie können das auch in elektronischer Form haben, wenn sie mögen“, ergänzte sie. Delamotte begann einen Eindruck davon zu gewinnen, wer dieses Geschäft wirklich führte. „Moni hatte viele Patienten hier in Sonnenthal“, sagte die Frau, „das ist normal so, hier sind wir sehr bekannt und angesehen.“ Aber auch im gesamten Gebiet zwischen Dörrenrath und Blatzheim hatte die junge Krankenschwester Patienten gepflegt.
„Kann man den Daten entnehmen, bei welchen Einsätzen Monika auf dem Ring unterwegs war“, warf Delamotte ein.
„So direkt natürlich nicht“, antwortete Frau Graf, „aber bei manchen Orten können sie es sich ja denken. Ich würde sagen, bei fast jedem Einsatz außerhalb von Sonnenthal sind unsere Leute teilweise auf dem Ring unterwegs.“
„Über die Autobahn geht es ja meist auch schneller“, ergänzte ihr Gatte, „und die Terminkalender sind halt recht eng getaktet – sonst lohnt sich das Geschäft nicht.“
„Apropos schneller“, meldete sich Marino zu Wort, „was für eine Autofahrerin war Monika denn eigentlich.“
„Da sprechen Sie einen wunden Punkt an“, antwortete Renata Graf. Ihrem etwas verlegenen Lächeln entnahm Delamotte, dass die Chefin die junge Mitarbeiterin ziemlich ins Herz geschlossen haben musste, auch wenn sie dies nicht direkt zeigte. „Anfangs hatte Moni einige Probleme, ihr Pensum abzuarbeiten“, erklärte die Einsatzleiterin.
Monika Zerres, erfuhren Delamotte und Marino, hatte erst Mitte des Vorjahres den Führerschein gemacht, und war eine fast schon übervorsichtige Fahrerin gewesen. „Wir haben sie dann ein paarmal mit anderen Schwestern mitfahren lassen“, erzählte Ronald Graf, „danach lief es dann besser.“
Delamotte war verblüfft, und Marino machte auf ihn den gleichen Eindruck. Doch dem Psychologen fiel ein, dass Monika Zerres erst seit kurzer Zeit in der Firma arbeitete. Er fragte: „War Monikas Dienstwagen eigentlich neu?“
Der Firmeninhaber schüttelte den Kopf: „Nein, neue Mitarbeiter bekommen bei uns nie ein fabrikneues Fahrzeug. Sie übernehmen erst mal den Wagen einer anderen Kollegin, oder von jemandem, der ausgeschieden ist.“
Marino sprang ein: „Wie alt ist das Auto? Und wer hat es vorher gefahren?“
„Das kann ich Ihnen direkt sagen“, antwortete Herr Graf, „ich bin gerade an den Unterlagen für die Steuererklärung dran.“ Ende des Jahres, erklärte er, würde der Wagen abgeschrieben. „Und die Jahre davor hat ihn die Kollegin Rosen gefahren.“
Seine Frau lächelte: „Stimmt, die Sabrina. Die ist das fahrerische Gegenteil von Moni.“ Renata Graf erzählte, dass Sabrina Rosen zu Beginn ihrer Tätigkeit durch ein Übermaß an Tempoverstößen aufgefallen war.
„Das eine oder andere Bußgeld nehmen wir ohne weiteres hin“, sprang ihr Mann ein, „ich sagte ja schon, Zeit ist bei uns ein knappes Gut. Aber bei Sabrina war es dann wirklich schon ein bisschen zu extrem.“
„Könnten wir die Dame mal sprechen“, bat Marino, „ich gebe Ihnen gerne meine Handynummer, dann kann sie einen Termin mit uns vereinbaren.“
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Renata Graf, „Sabrina gehört heute zum Tagesteam, wie wir das nennen – Dienst von vormittags bis in den frühen Abend. Sie dürfte also im Besprechungsraum sein.“
Der Besprechungsraum war ziemlich voll. Die dralle Blondine, die Marino und Delamotte in das Büro geführt hatte, wies die Teammitglieder in ihre Aufgaben für diesen Tag ein. Der Psychologe ließ seinen Blick über die Mitarbeiter schweifen. Das Team war ganz überwiegend weiblich, und noch überwiegender blond. Auch Sabrina Rosen, die Frau Graf aus dem Raum bat, war eine Blondine von vielleicht Eins Siebzig, die ein wenig jünger sein mochte als Marino und er selber.
Renata Graf klärte die Mitarbeiterin über die Rolle der beiden Gäste auf. „Sie haben den Wagen ja gefahren, bevor Moni hier angefangen hat“, eröffnete Delamotte. Die Krankenschwester nickte. „Wir gehen davon aus, dass dieser Täter lange im Vorfeld seine möglichen Opfer ausspäht. Er scheint es besonders auf Personen in Dienstwagen abgesehen zu haben“, erklärte er. Die junge Frau wirkte etwas erschrocken. „Als Sie den Wagen noch hatten“, fuhr Delamotte fort, „ist Ihnen da jemals etwas in der Art aufgefallen? Jemand, der Sie verfolgte? Jemand, der Ihnen mehrmals über den Weg lief?“
Sabrina Rosen überlegte eine Weile, schüttelte dann aber energisch den Kopf: „Nein, das hätte ich bemerkt, glaube ich. Wissen Sie, ich beobachte schon ziemlich genau, was um mich herum passiert.“
„Ihre Chefin sagt, Sie seien eine sportlichere Fahrerin als Moni“, warf Marino ein.
Die junge Frau lächelte Claudio an: „Das stimmt auf jeden Fall. Ich bin auch privat ziemlich flott unterwegs.“ Delamotte bemerkte amüsiert das offensichtliche Zwinkern, das Sabrina Rosen seinem Kumpel dabei zukommen ließ.
Bereits auf dem Weg zur Tür fiel Delamotte noch etwas ein: „Eine Frage habe ich noch. Wo stehen eigentlich ihre Wagen, wenn die Mitarbeiter hier im Haus sind?“
Renata Graf antwortete: „Na, in der Tiefgarage, wo denn sonst? Wir haben reservierte Stellplätze. Wenn Sie mit dem Lift runterfahren, kommen Sie direkt an unseren Plätzen raus.“
Als sie auf dem Weg zurück ins Präsidium waren, sprach Marino ihn an: „Was denkst du bei der Sache?“
Delamotte holte aus: „Ich denke vor allem an das Foto von Monika Zerres, das in Mannis Büro hängt, neben denen der anderen Opfer. Blond. Wie diese Sabrina.“
„Na, blond sind sie fast alle in der Firma, ist dir das nicht aufgefallen?“, wand Marino ein.
„Aber die anderen haben nicht das gleiche Auto gefahren“, gab der Psychologe zu bedenken. „Hast du noch im Kopf, wie groß Monika Zerres war?“, fragte er.
Marino nickte: „Ähnlich wie diese Sabrina, ein bisschen kleiner, Eins Siebenundsechzig glaube ich. Warum? Meinst du etwa, der Uhu hätte die falsche Frau erwischt?“
„Er erwischt immer die falschen, egal ob Frauen oder Männer“, sagte Delamotte. Marino entschuldigte sich für die unpassende Wortwahl. Delamotte sprach weiter: „Aber du hast insoweit recht, eine Verwechslung ist möglich.“
Er zögerte kurz, korrigierte sich: „Nein, sie ist sogar wahrscheinlich. So langfristig, wie der Kerl plant, ist ihm schon vor Längerem ein Wagen aufgefallen. Ein Wagen mit dem Aufdruck Engel auf Rädern und einer blonden Fahrerin. Vielleicht hat er sie sogar bis zu einem bestimmten Punkt verfolgt – und garantiert hat er sich das Kennzeichen gemerkt.“ Marino blickte kurz zu ihm rüber. „Und dann“, sagte Delamotte, „trifft er die Entscheidung, diese blonde Krankenschwester als Nächste zu töten. Er postiert sich mit seinem Wagen irgendwo in dieser Tiefgarage, wartet ab. Dann kommt eine blonde Krankenschwester, etwa gleiche Größe, etwa gleiche Statur – und exakt das gleiche Kennzeichen. Check!“
„Ich glaube, du könntest recht haben“, stellte Marino anerkennend fest.
Als sie am Berliner Platz ankamen, fragte Claudio: „Was glaubst du, warum die fast nur Blondinen in der Firma haben?“
Delamotte überraschte die Frage, er zuckte mit den Schultern: „Was weiß ich? Vielleicht kommt das bei den Kunden gut an. Sorry, bei den Patienten natürlich. Du weißt, da kommt ein Engel auf Rädern, und dann schwebt so eine wie diese Sabrina ein, wechselt deinen Verband, gibt dir eine Spritze in den Po oder was weiß ich.“ Er stupste Marino an: „Und wenn der Patient dann noch ein Italiener ist, flirtet sie ein bisschen und macht vielleicht noch ein Date klar.“
Claudio grinste: „Lass mal, Alter, die Braut war mir schon ein bisschen zu offensiv.“
„Beschädigt sowas etwa dein männliches Selbstwertgefühl? Das hätte ich von dir nie erwartet, Kumpel“, lachte Delamotte.
„Auch Italiener sind verletzlich, sehr sogar“, erwiderte Marino und kam wieder auf den Überschuss an Blondinen bei Engel auf Rädern zu sprechen: „Weißt du was ich glaube? Da steckt diese Renata hinter. Das ist eine verdammt kluge Frau. Ihm gehört der Laden vielleicht, aber sie führt ihn. Und sie weiß, dass ihr Gatte auf Dunkelhaarige steht. Also hält sie die Konkurrenz klein, indem sie Blondinen einstellt.“
Delamotte war skeptisch: „Welche Konkurrenz sollte die Dame fürchten? Ihr Gatte ist eine ganze Ecke älter als sie, schätze ich.“
„Na und“, sagte Marino, „wohlhabende Männer sind für viele Frauen jederzeit legitime Beute. Und so eine Sabrina ist ihrerseits wieder eine ganze Ecke jünger als ihre Chefin.“ Delamotte schüttelte lächelnd den Kopf. Bisweilen kam ihm sein Kumpel ein kleines bisschen chauvinistisch vor.
Er war unglaublich stolz. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen die Zeitungen vom Morgen. Nicht nur der „Blitz“, der seine Karriere schon seit längerem intensiv verfolgte. Nein, auch die sogenannten seriösen Tageszeitungen hatten ihn auf der ersten Seite. Was für ein Gefühl.
Er hatte sich für die spektakuläre Variante dieser Arbeit entschieden. Die Vorbereitung war ausgesprochen komplex und umfangreich gewesen, und auch die Ausführung hatte sich als Herausforderung entpuppt. Beim ersten Versuch hatte so ein junger Schnösel dazwischengefunkt, hatte sich dicht hinter das blau-gelbe Auto seiner Zielperson gesetzt. Das Motorengeräusch des zweiten Wagens hatte er überhört, vielleicht war er einfach zu aufgekratzt gewesen. Im letzten Augenblick hatte er sich dann wieder ins Unterholz zurückziehen können.
Am darauffolgenden Tag war dann aber alles perfekt gelaufen. Nichts und niemand hatte gestört. Die junge Blondine hatte wie erwartet bei seinem Anblick angehalten und war mit besorgtem Gesichtsausdruck auf ihn zugekommen. Mehr hatte es nicht gebraucht. Die Fernsehsender hatten schon am späten Nachmittag berichtet, in einem kleinen Lokalsender war danach bis zum heutigen Mittag eine Sondersendung über ihn gelaufen, unterbrochen nur von den stündlichen Kurznachrichten. Und am nächsten Morgen waren dann die Zeitungen gefolgt.
Eine kleine Pause wäre jetzt vielleicht nicht verkehrt, dachte er. Er könnte einen kurzen Urlaub gebrauchen. Dagegen konnte keiner etwas sagen, er hatte zuletzt keine Therapiesitzungen mehr versäumt und war sicher, die Berichte des jungen Kerls würden an maßgeblicher Stelle mit Wohlwollen gelesen. Nein, eine kurze Abwesenheit von Marßen, zum Zweck der Erholung und Selbstreflektion, konnte man ihm wohl kaum verweigern. Und außerdem war schließlich Ferienzeit.
Sein Blick fiel auf den alten Karteikasten. Das gute Stück könnte mal wieder eine neue Politur gebrauchen. Diese Aufgabe sollte er noch vor seiner Urlaubsreise erledigen, der Kasten wurde ja noch gebraucht.
Die hellblaue Fassade von Schloss Friedrichsruh war Delamotte ein schon seit Kindheitstagen liebgewonnener Anblick. Er hatte sich entschieden, noch vor der Zubereitung des Abendessens einen ausgedehnten Spaziergang zu machen. An St. Clemens vorbei war er über den Marktplatz gelaufen und an der Ecke, an der die Familie Giannini seit Jahrzehnten schon ihre Eisdiele betrieb, in die Schlossstraße abgebogen.
Das Kopfsteinpflaster regte jedes Mal seine Phantasie an. Jenseits von Schloss und Park, in der Villa Morenhoven am Friedrichswall, hatte Onkel Jean die Begeisterung des kleinen Markus für die Geschichte der Stadt und des Herzogtums geweckt. Wann immer Delamotte die Schlossstraße entlang lief, hörte er im Kopf das Klappern der Pferdehufe, begleitet vom Rumpeln eisenbeschlagener Räder der Kutschen. Der Herzog selber, hatte ihn sein Großonkel belehrt, war wohl selten die Schlossstraße entlang gekommen. In alten Zeiten hatte sie eher als Zufahrtsweg für die Hoflieferanten gedient. Die prächtigen Bürgerhäuser, die heutzutage links und rechts der Straße emporragten, waren erst in der Preußenzeit entstanden.
An der Orangerie zweigte ein Weg in den Schlosspark ab, den Delamotte nun nahm. Bereits Herzog Johann Friedrich III. hatte Wert auf einen Garten gelegt, wie sie der französische Hochadel schätzte. Der Garten war immer noch einer der Höhepunkte von Schloss Friedrichsruh und ohne Zweifel einer der Gründe, warum der Palast zur Weltkulturerbestätte erhoben worden war. Delamottes Blick wanderte von der Gartenfassade des Schlosses über die davor liegende Terrasse hin zum langgezogenen Parterre. An dessen Ende lag der große Schlossweiher, auf dessen gefrorener Fläche in den strengen Wintern der unmittelbaren Nachkriegszeit die ersten Spiele in der reichen Geschichte des Bliesfelder Eishockeys stattgefunden hatten.
Delamotte selber verbanden andere winterliche Erinnerungen noch stärker mit dem Schlosspark. Als Hardy, Kata und er noch klein gewesen waren, hatte der Vater mit ihnen am frühen Nachmittag des Heiligen Abend immer Spaziergänge im Park unternommen, um der Mutter die Gelegenheit zu geben, den Weihnachtsbaum zu schmücken und die Geschenke darunter zu platzieren.
An diesem Tag war jedoch nichts winterlich, es war warm aber nicht zu heiß, und den blauen Himmel schmückten einige kleine Wolken wie Wattebäusche. Der Park war gerade um diese Uhrzeit äußerst gut besucht, viele Berufstätige machten einen Umweg durch die weitläufige Anlage, anstatt direkt nachhause zu gehen. Der feinkörnige Kies, mit dem die Gehwege angelegt waren, knirschte leise bei jedem Schritt.
Am anderen Ende der Schlossfassade bog Delamotte in einen der beiden Hauptwege ein, die entlang der von kleinen Springbrunnen durchsetzten Blumenbeete unter vermutlich sehr alten Bäumen bis zum Schlossweiher und weiter in den kleinen Wald führten, der den Park umgab. Er studierte die Gesichter der Menschen, die ihm entgegen kamen – Frauen, Männer, Paare, Familien. Sie wirkten fast durchweg zufrieden mit sich und ihrem Leben – zumindest in diesem speziellen Augenblick.
Auf der anderen Seite des Parterres erblickte er, langsam in Richtung Weiher schlendernd, einen Mann und eine Frau. Sie mussten nicht Händchenhalten oder sich küssen um erkennen zu lassen, dass sie ein Paar waren. Die Gesten, mit denen sie Vertrautheit ausdrückten, waren sublimer. Ab und zu lief die Frau leicht auf den neben ihr gehenden Mann auf, als wollte sie ihn sanft mit der Schulter rempeln. Er reagierte darauf mit einer sachten Berührung ihres Rückens – mit der rechten Hand, die linke hielt das hellblaue Sakko über der Schulter. Die Frau trug, das sommerliche Wetter nutzend, ein bestenfalls mittellanges oranges Kleid. Ein leichtes Jäckchen, das sie eventuell am frühen Morgen noch gebraucht hatte, hing über ihrem rechten Arm.
Delamotte war etwas schneller unterwegs als die beiden, und je mehr er mit ihnen aufschloss – immer noch durch die ganze Breite der Blumenbeete von ihnen getrennt – desto mehr kam ihm der ganze Bewegungsablauf der Frau bekannt vor. Gerade in jüngster Zeit, dachte er, hatte er diese geschmeidige und zugleich selbstbewusste Art der Bewegung gesehen. Es mochte durchaus sein, dass ein Teil von ihm sich gegen das Erkennen wehrte. Mit ein wenig mehr an Geistesgegenwart hätten ihm die dunkelroten Haare der Frau eigentlich als Hinweis reichen müssen. Aber erst, als er auf Höhe des Weihers mit den beiden aufgeschlossen hatte, erkannte er sie.
Kurzentschlossen bog Delamotte in einen Seitenweg ein, der parallel zum Waldrand verlief. Weiträumig umlief er den Wald, schließlich kannte er sich in seiner Heimatstadt gut aus. Auf Höhe der Villa Morenhoven verließ er die Parkanlage durch einen Nebeneingang. Erst als er kurz vor dem Marktplatz in die Rathausstraße einbog, fiel ihm auf, dass er die ungewollt beobachteten Szenen der Zuneigung zwischen Britta Kowallik und einem anderen Mann überraschend gut verkraftet hatte. Für den Moment. Hoffte er zumindest.
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