XI.
Es war bereits dunkel, als Delamotte den Xsara auf die Parkfläche am Berliner Platz steuerte. Er sah, wie Henseler aus einem Seat ausstieg, und parkte seinen Wagen direkt daneben. „Sieht so aus, als hätte Jakob das ganze Team zusammengerufen“, sagte der junge Kommissar, „ich habe gerade auch Claudio reingehen gesehen.“
„Hat er dir verraten, worum es geht“, fragte Delamotte.
Henseler schüttelte den Kopf: „Nein – nur, dass ich mich beeilen soll.“ Der Psychologe nickte – genauso hatte sich Pesch ihm gegenüber geäußert.
Gemeinsam begaben sie sich in den dritten Stock. Auf dem Weg zu Peschs Büro kam ihnen Lüttges entgegen: „Wir sind wieder in dem Büro mit dem großen Monitor.“ Sie folgten dem schlaksigen Kommissar. Maas schloss sich ihnen aus einem der Seitengänge an. In dem Büro waren bereits Pesch, Marino und auch Stegmayer versammelt.
Der Hauptkommissar ergriff sofort das Wort: „Brückner ist am frühen Abend gesehen worden. Zumindest sind die beiden Kollegen aus einem Streifenwagen sicher, dass sie ihn gesehen haben.“
Er zeigte auf den Monitor, auf dem ein Ausschnitt des Marßener Stadtplans zu sehen war: „Die beiden waren hier unterwegs, auf der Bundesstraße 24, die kurz vor dem Flughafen von der Anschlussstelle Rott in Richtung Altenstein verläuft. Hier, an dieser Kreuzung mit der Kreisstraße 19, stand ein Golf in der Abbiegerspur. Die beiden Kollegen bemerkten leider zu spät, dass es sich um Brückners Fahrzeug handelte, und mussten einige hundert Meter weiter auf einem Parkplatz wenden.“
„Das heißt aber doch, Brückner könnte schon längst über alle Berge sein“, wandte Maas ein.
„Nein, das heißt es in diesem Fall zum Glück nicht“, erwiderte Pesch und zeigte abermals auf den Stadtplan. „Die K 19“, fuhr er fort, „führt hier über Paulushof und Ernbach nach Bitzenberg. Von Bitzenberg führen natürlich etliche Straßen weg, nach Kaiserbruch, nach Leitenberg, oder auch Richtung Osten aus dem Stadtgebiet heraus.“
„Aber nach Bitzenberg konnte er heute nicht fahren“, warf Henseler ein, „nicht auf der K 19. Die ist hinter Ernbach gesperrt, die Fahrbahn wird erneuert.“ Er bemerkte die überraschten Blicke und ergänzte: „Ich war letztes Wochenende mit meiner Freundin in der Gegend unterwegs, wollten in die Gegenrichtung und mussten in Bitzenberg drehen.“
Pesch bestätigte diese Beobachtung: „Ganz genau. Brückner steckt gerade in Paulushof oder Ernbach. Die beiden Kollegen stehen auf einem Wanderparkplatz kurz vor Paulushof und beobachten seither die Straße. Eine Ablösung ist bereits unterwegs – zwei Streifenwagen. Wenn Brückner dort wieder raus will, muss er die K 19 nehmen.“
„Sollten wir nicht in beiden Orten nach ihm suchen? Sind doch beides kleine Dörfer“, warf Marino ein.
Pesch schüttelte den Kopf: „Gerade weil es kleine Dörfer sind, könnte ihm so eine Aktion auffallen.“ Er hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach: „Und es sind Dörfer mit vielen Ferienwohnungen und Pensionen, und wir haben Ferienzeit. Und wir gehen davon aus, dass Brückner bewaffnet ist. Eine Schießerei in einem Ferienort ist das letzte, was ich jetzt will.“ Delamotte musste ihm zustimmen – falls Brückner der Uhu war, würde er sich nicht ohne Widerstand festnehmen lassen.
„Die einzige Straße, über die er dort rauskommen kann, ist die K 19“, sagte Lüttges, „aber was ist mit Feldwegen oder Waldwegen? Nur für den Fall, dass der Kerl den Braten riecht.“
„Guter Punkt“, sagte Stegmayer.
Pesch verließ den Raum. Stegmayer gesellte sich zu Delamotte: „Sieht so aus, als hätten wir ihn bald, Markus.“
Der Psychologe war noch nicht überzeugt: „Wir wissen nicht, ob Brückner wirklich der Uhu ist.“
Der Dezernatsleiter schien optimistischer sein: „Er war zumindest in der Nähe von zwei der Opfer, wenige Tage vor der Tat. Drei, wenn man den Mord im Münsterland dazu nimmt. Er ist als hervorragender Schütze bekannt, das Alter passt, und mit dem Unfalltod der Tochter haben wir auch das einschneidende Erlebnis als Auslöser, wie im Profil beschrieben.“
Delamotte lächelte: „Ich kenne das Profil sehr gut, Wilfried.“ Stegmayer lachte. Im Raum herrschte eine gespannte Stimmung, die auch Delamotte erfasste, trotz seiner Zweifel.
„Auf jeden Fall ist an dem Kerl was nicht koscher“, sagte Maas.
„Es gibt verdammt viele Kerle, an denen was nicht koscher ist“, erwiderte Delamotte, „aber die können nicht alle der Uhu sein.“ Er gab aber durchaus zu, dass Brückner der Gesuchte sein konnte – und momentan sicherlich der heißeste Kandidat war. Streng genommen der einzige.
Etwas später kehrte Pesch zurück, begleitet vom Chef der Schutzpolizei und dem Leiter des Polizeireviers Rotter Höhe. Der ortskundige Beamte wies auf mehrere befestigte Wirtschaftswege hin, die Brückner im Fall der Fälle als Fluchtweg nutzen könnte. Zwei davon führten von Ernbach fort, fünf weitere von Paulushof.
„Wir brauchen also sieben weitere Streifenwagen“, stellte Pesch fest. Er wandte sich dem Leiter der Schutzpolizei zu: „Die Kollegen sollten sich von außerhalb der beiden Ortschaften nähern – ich möchte den Kerl nicht aufschrecken.“ Sein Gegenüber nickte. „Und vergesst nicht, der Bursche ist höchstwahrscheinlich bewaffnet und gefährlich. Sie sollten unbedingt Schutzwesten tragen.“
Dann adressierte der Hauptkommissar die Runde: „Ich glaube nicht, dass dort diese Nacht noch was passiert. Brückner wird in einem der beiden Orte einen Unterschlupf haben. Es ist also am besten, wenn ihr wieder nachhause fahrt und versucht, ein bisschen Schlaf zu bekommen.“ Er blickte kurz auf seine Armbanduhr: „Ich schlage vor, wir treffen uns morgen früh um sieben wieder hier.“ Jeder der Anwesenden wusste, dass solche Vorschläge von Hans-Jakob Pesch keinen Interpretationsspielraum zuließen.
Delamotte hatte nicht allzu viel geschlafen, und auch das nur mit der Hilfe einer Tablette. Ein extra starker Kaffee hatte ihm dann beim Wachwerden geholfen. Er fuhr – ein wenig zu schnell, wie ihm bewusst wurde – auf dem südlichen Teil des Rings über den Fluss. Am Heppeler Dreieck fiel ihm ein, dass er dem Uhu geografisch recht nahe war, sollte Brückner tatsächlich der gesuchte Serienmörder sein. Er versuchte sich auf diesen Aspekt zu konzentrieren, ohne die Straße komplett aus dem Sinn zu verlieren. Seine Antennen, wie Ali dies genannt hatte, empfingen keine Signale. Er lächelte leise in sich hinein – Beweiskraft hatte das natürlich keine. In der Nacht war mit Sicherheit nichts weiter geschehen. Sonst hätte Pesch sich garantiert gemeldet.
Er kam pünktlich im Präsidium an, dennoch waren die meisten Ermittler bereits im Heimkino, wie das von Jutta und Niklas eingerichtete Büro inzwischen von manchen genannt wurde. Auch Stegmayer hatte sich wieder dazu gesellt. Delamotte fiel abermals auf, wie müde der Dezernatsleiter in letzter Zeit aussah. Er begann, sich Sorgen um Wilfried Stegmayer zu machen. Wer noch fehlte, waren Pesch und Lüttges.
„Wo sind denn Jakob und Manni?“, fragte der Psychologe.
„Im Lageraum“, antwortete Stegmayer, „sie waren die ganze Nacht da, immer im Funkkontakt mit den Uniformierten vor Ort.“
Pesch hatte auch die Bereitschaftspolizei hinzugezogen, nur für den Fall, dass vielleicht doch eine größere Suchaktion nötig werden würde. Delamotte wusste, dass Pesch nicht allein aufgrund seiner Erfahrung ein Händchen dafür hatte, Einsätze zu organisieren und koordinieren.
„In der Nacht hat sich also nichts mehr getan“, wollte Marino wissen.
Stegmayer schüttelte den Kopf: „Nein, alles ruhig. Die Streifenwagenbesatzungen sind eben abgelöst worden. Irgendwann muss Brückner ja mal aus seinem Loch rauskommen.“
Die Stunden vergingen. Es wurde acht Uhr. Es wurde neun Uhr. Lüttges kam zwischendurch mal kurz vorbei, der Tag hatte mit strahlendem Sonnenschein begonnen, rund um die kleinen Urlaubsorte der Rotter Höhe waren dem Wetter und der Ferienzeit entsprechend viele Wanderer und Spaziergänger unterwegs, darunter auch Familien mit Kindern. Manni befürchtete offenbar, dass auch ein Zugriff außerhalb des Dorfes Unbeteiligte gefährden könnte.
Pesch blieb eisern auf seinem Kommandostand. Weder er noch Lüttges hatten in der Nacht geschlafen, Delamotte hatte eine Ahnung, dass die beiden nur noch durch Adrenalin auf den Beinen gehalten wurden.
Claudio versuchte sich in Smalltalk, aber selbst der Frohnatur Marino war anzumerken, wie sehr die Ungewissheit an ihm nagte. Es wurde zehn Uhr. Delamotte kam ein Gedanke – was, wenn Brückner beim Abbiegen in die K 19 den Streifenwagen bemerkt hatte? Was, wenn er schon am frühen Abend einen der Wirtschaftswege genutzt hatte, um zu verschwinden? Wenn er in einem der beiden Dörfer wohnte, war ihm die Baustelle Richtung Bitzenberg sicherlich bekannt. Jutta hatte am Vorabend recht gehabt – Brückner könnte schon längst über alle Berge sein. Er behielt den Gedanken erst mal für sich.
Um zwanzig nach zehn kam Manni wieder in den Raum und gab ihnen ein Zeichen, mitzukommen. „Brückner“, erklärte er kurz auf dem Weg zum Lageraum, der im vorderen Teil des Gebäudes lag, im Erdgeschoss, „er hat auf der K 19 offenbar die Kollegen auf dem Parkplatz gesehen, ist in die Eisen gestiegen und hat den Wagen rumgerissen. Dann ist er wieder Richtung Paulushof gerast, einer der Streifenwagen versucht ihn zu verfolgen.“
Sie liefen schnell die Treppe runter, Delamotte hörte Stegmayer hinter sich keuchen, auch ihm fiel das Atmen schwerer als gewohnt. Und ein weiterer Gedanke streifte ihn: was, wenn Brückner die Sache eskalieren würde? Was, wenn er Geiseln nahm?
Der Lageraum lag am Ende eines langen Ganges. Lüttges ging ihnen voran und öffnete die Tür. In dem Raum, der Delamotte an das Sprachlabor seines Gymnasiums erinnerte, saßen Pesch sowie mehrere zumeist uniformierte Beamte, die der Psychologe nicht kannte, an kleinen, altmodischen Monitoren. Alle Männer trugen klobige Kopfhörer mit eingebauten Mikrofonen.
„Ölberg-3, könnt ihr das bitte nochmal wiederholen“, hörte er einen der Männer sagen. Lüttges wies den anderen mit den Händen ihre Plätze zu. Es gab nicht genug Arbeitsplätze für alle, Maas und Henseler steckten die Köpfe zusammen und teilten sich einen Kopfhörer, Marino und Delamotte taten es ihnen nach.
„Hier noch mal Ölberg-2“, klang eine etwas verzerrt klingende Stimme aus dem Gerät, „ich glaube wir haben das Ziel gerade durch den Ort fahren gesehen, er ist an der Kirche Richtung Westen abgebogen, ich wiederhole: Richtung Westen.“
Pesch und der Mann neben ihm beugten sich über einen Stadtplan. Dann sagte Pesch: „Ölberg-4, es sieht aus als ob er auf euch zufährt.“ Es war ungewöhnlich, Peschs Stimme mit dem einen Ohr in Natura zu hören, und mit dem anderen verzerrt aus dem Kopfhörer.
„Hier Ölberg-4“, erklang die Antwort, „verstanden. Wir sind bereit.“
Pesch blickte nach hinten, begrüßte Stegmayer mit einem Handzeichen. Der rotblonde Hauptkommissar machte auf Delamotte überhaupt keinen müden Eindruck, wirkte im Gegenteil sehr präsent und fast aufgekratzt. Jagdfieber, durchfuhr es den Psychologen – und auch er verspürte diesen Reiz, vielleicht waren sie wirklich kurz vor dem Ziel dieser Ermittlung.
Er merkte, wie tückisch dieses Gefühl war, es verdrängte jeden Zweifel, das kritische Denken hatte es schwer gegen solche Emotionen. „Hier noch mal Ölberg-2, wir haben den Wagen gerade im Wald verschwinden gesehen“, hörte er. „Hier Ölberg-4, danke sehr, dann ist er bald bei uns“, kam die Antwort. Die Mikrofone der Beamten vor Ort übertrugen nur die Worte – Delamotte wusste nicht, ob das so beabsichtigt war oder nicht. In jedem Fall war es verwirrend, fast so etwas wie sensorische Deprivation. In einem Hollywood-Film, dachte er, würde man jetzt noch Hintergrundgeräusche hören. Das Rauschen des Waldes, Vogelstimmen, der Motor eines sich nähernden Fahrzeugs, quietschende Reifen.
„Hier Ölberg-4, er kam bergauf auf uns zu, hat im letzten Moment versucht zu drehen. Dabei ist er vom Weg abgekommen und mit dem Heck in einen Baum geknallt. Er versucht wegzukommen, aber die Reifen drehen durch. Graumann geht jetzt auf ihn zu, ich gebe ihm Deckung“, hörte Delamotte.
Einige Augenblicke lang war es gespenstisch still, nicht nur aus dem Kopfhörer sondern im ganzen Lageraum. Dann meldete sich die Stimme wieder: „Hier Ölberg-4, Achtung, er hat das Feuer eröffnet. Er muss auf der Beifahrerseite aus dem Wagen gekrochen sein, und hat aus der Deckung durch das Auto das Feuer auf Graumann eröffnet. Graumann hat es umgehauen.“
Pesch schaltete sich ein: „Was ist mit dem Verdächtigen?“
„Der ist nach den Schüssen im Wald verschwunden“, erwiderte die Stimme aus dem Kopfhörer, „hier ist der Bewuchs sehr dicht, der Mann ist nicht mehr zu sehen, es geht ziemlich steil bergauf hier.“
Pesch stand auf, sprach einen der uniformierten Kollegen an: „Nach Paulushof: ein paar Leute von der Spurensicherung, wenn es geht Sabine Greven als Einsatzleiterin. Ein paar Leute von der Hundestaffel mit Spürhunden. Mehrere Zweierteams für die Befragung der Anwohner, besonders der Betreiber von Pensionen und Ferienwohnungen. Und natürlich einen Krankenwagen für den getroffenen Kollegen.“
Einer der Uniformierten schaltete sich ein: „Graumann ist in Ordnung, die Kugel traf genau auf die Weste.“
„Na, Gott sei Dank“, sagte Pesch und wandte sich an einen anderen Beamten, offenbar von der Bereitschaftspolizei: „Jetzt brauchen wir euch, die Gegend muss recht weiträumig umstellt und dann durchkämmt werden. Irgendwo in diesem verdammten Wald steckt dieser Kerl jetzt.“
Der andere Beamte nickte: „Die Kollegen am Flughafen stehen bereits in den Startlöchern.“
Pesch berührte den Mann an der Schulter, drehte sich dann zu den anderen: „Verdammt, ich will nicht, dass der Kerl aus diesem Scheißwald unbemerkt rauskommt. Auf gar keinen Fall.“
Sie saßen im Gebäude des Junggesellenvereins Paulushof. Pesch hatte verblüffend schnell ein örtliches Hauptquartier errichtet, an den Tischen saßen Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen und koordinierten die Arbeit der vielen Beamten, die in und um Paulushof und Ernbach unterwegs waren. Delamotte saß mit Marino, Maas und Henseler an einem der Tische – sie fühlten sich ein bisschen deplatziert, ihr Anteil am Ermittlungsergebnis lag in der Vergangenheit und interessierte hart ausgedrückt im Moment niemanden. Vielleicht lag ihr Anteil auch noch in der Zukunft, sinnierte Delamotte, aber eben nicht in der Gegenwart. Die gehörte anderen. Er nahm sich noch eines der Teilchen und trank einen Schluck Latte Macchiato, beides Spenden eines Cafés auf der anderen Straßenseite. Für die Dorfbewohner war die rege Aktivität der Polizei ein genauso großes Abenteuer wie für die vielen Feriengäste.
Pesch gesellte sich zu ihnen, nahm sich eine Rosinenschnecke und biss herzhaft zu.
„Brauchst du nicht langsam mal eine Mütze Schlaf“, fragte Delamotte.
Pesch nickte: „Absolut. Neumann löst mich bald ab.“
Die Tür ging auf, Sabine Greven betrat den Raum, eine transparente Plastiktüte in der Hand. Sie steuerte direkt auf den Tisch der Ermittler zu: „Da sitzen ja genau die richtigen Leute zusammen. Das hier müsst Ihr Euch mal anschauen.“ Sie legte die Plastiktüte auf den Tisch. Delamotte erkannte die Art des Inhalts sogleich, und das galt mit Sicherheit auch für die anderen.
„Wo habt Ihr das denn her?“, fragte Pesch.
„Lag alles im Handschuhfach von Brückners Auto“, erklärte die Kriminaltechnikerin. „Personalausweise, Führerscheine, Krankenversicherungskarten, zwei Reisepässe“, fuhr sie fort, „teilweise das komplette Paket. Er hat mindestens sechs verschiedene Identitäten gehabt.“
„Was für eine Art Mörder ist das“, wunderte sich Pesch.
Maas gab ihm die Antwort: „Er war mal bei der Stasi. Vergiss das nicht, Jakob.“
Pesch wirkte nicht überzeugt: „Aber die Stasi ist vor langer Zeit aufgelöst worden.“
„Die Organisation schon, aber was ist mit den Leuten“, sagte Delamotte.
Sabine Greven fiel noch ein Punkt ein: „Ach ja, Hugo hat die Kugel, die Brückner auf den Kollegen abgefeuert hat, mit ins Labor genommen. Das Kaliber passt aber auf jeden Fall – 9 Millimeter Parabellum.“
Bei einem kleinen Spaziergang durch das Dorf lief Delamotte Lüttges über den Weg. „Die Witwe von Jensen hat versucht, mich zu erreichen. Sie hat irgendwelche alten Sachen wiedergefunden, und meint das wäre von Interesse für uns“, erzählte der Kommissar. „Kannst du das bitte übernehmen? Ruf die Frau einfach mal zurück, mal gucken ob es jetzt noch von Bedeutung ist“, bat er.
Delamotte nickte: „Mach ich. Ich fahr jetzt gleich nachhause, hier fühle ich mich fehl am Platz. Sowie ich in Bliesfeld bin, rufe ich sie an.“ Lüttges reichte ihm einen Zettel mit der Telefonnummer. Delamotte steckte den Zettel ein und ging langsam zu seinem Auto.
„Guck an, da hat die Polizei ja genauso späte Arbeitsstunden wie das Transportgewerbe“, sagte Saskia Jensen, als Delamottes Anruf sie erreichte.
„Wenn die Steuerzahler am Abend noch arbeiten, können wir das ja wohl auch“, antwortete Delamotte.
„In den Nachrichten kam gerade, dass Sie dem Täter auf den Fersen sind“, erwähnte die Witwe des Kleinspediteurs.
Ihr Gesprächspartner wunderte sich, dass die Nachricht schon landesweit Verbreitung fand: „Also richtig auf den Fersen leider noch nicht, und ob es sich bei dem Gesuchten wirklich um den Mörder Ihres Mannes handelt, muss sich erst noch zeigen. Die Medien sind mit ihren Schlussfolgerung bisweilen deutlich schneller als wir.“
Delamotte lenkte das Gespräch auf seinen eigentlichen Anlass: „Sie hatten um Rückruf gebeten, Frau Jensen.“
Ja, das hatte sie, bestätigte die Frau. Beim Sortieren einiger alter Fotos war ihr ein Bild in die Hände gefallen, das ihrer Erinnerung auf die Sprünge geholfen hatte. „Sie haben mich neulich gefragt, ob mein Mann auch mal Touren nach Marßen hatte“, sagte sie.
„Und Sie haben das mehr oder weniger ausgeschlossen“, ergänzte der Psychologe.
„Das mache ich auch nach wie vor“, sprach Saskia Jensen, „mein Mann war im Leben nie in Marßen.“
„Aber?“, fragte Delamotte.
Saskia Jensen erklärte: das fragliche Bild stammte aus dem Jahr 1996 – dem Jahr, in dem Rolf-Rüdiger Jensen sich selbständig gemacht hatte. „Auf dem Foto ist Rüdiger zu sehen, er steht vor seinem ersten Transporter. Neben ihm steht ein alter Schulfreund von ihm“, ergänzte die Frau. Dieser alte Freund hatte sich den Wagen für ein Wochenende geliehen. Seine kleine Schwester hatte in Marßen einen besseren Job gefunden als daheim, und beim Umzug hatte der Bruder ihr helfen wollen. Bei der Fahrt war der Mann dann mehrere Male mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit geblitzt worden. „Rüdiger hätte wegen dieser Geschichte fast ein Fahrverbot bekommen“, fuhr Frau Jensen fort, „mit seinem alten Freund hat er danach kein Wort mehr gesprochen. Also: mein Mann war nie in Marßen, sein erster Transporter dagegen schon.“
Delamotte war sich nicht sicher, ob diese Information ihm weiterhalf. Sicher, falls der Uhu sich wider Erwarten doch die Daten von Fahrzeughaltern beschaffen konnte, wäre das eine Erklärung dafür, warum er auf den Kleinspediteur aus dem Oldenburgischen aufmerksam geworden war. Andererseits lag die Geschichte acht Jahre zurück.
„Ich habe das Foto und alle Unterlagen zu der Sache von damals eingescannt“, sagte Saskia Jensen, „kann ich Ihnen die Sachen zuschicken, per Fax oder vielleicht auch per Email.“
Delamotte schmunzelte: „Ja, wir haben durchaus auch schon Email bei der Marßener Kripo.“ Er gab der Frau seine Emailadresse und bedankte sich bei ihr für die Information.
„Marko, warum kommst du alleine, wo sind Mama und Papa?“, wollte Dušan Simanić wissen, als Delamotte eine halbe Stunde nach dem Telefonat das Restaurant betrat. Die Frage war verständlich, die Delamottes schlugen im Šumadija sonst mindestens als Kleingruppen auf. Aber Delamotte hatte sich ganz spontan entschieden, dass er an diesem Abend keine Lust hatte, selber zu kochen. Und Dušans Lokal kannte er schon seit Jahren und die Speisekarte war ihm wohlvertraut.
Er wechselte ein paar Worte mit dem serbischen Gastwirt, und setzte sich dann an einen kleinen Tisch in der Ecke des Restaurants. Rasch bestellte er ein Bier, und auch die Wahl seines Gerichts war schnell gefallen: „Bring mir bitte ein Karadjordje-Schnitzel.“
Delamotte dachte ein paar Minuten über den Fall nach. Auf den Fortgang der Ermittlung hatte er keinerlei Einfluss, der lag jetzt ganz bei der Einsatzleitung. Also in diesen Stunden bei Neumann. Viele Polizeibeamte dürften gerade die Wälder westlich von Paulushof durchkämmen, aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie dabei irgendwann auf einen geschwächten, aber zu allem bereiten Brückner treffen. Delamotte hoffte, dass sie den Mann lebend erwischten – tote Verdächtige eigneten sich viel zu sehr zur Legendenbildung.
Dušans Tochter Bojana brachte ihm sein Essen, ein gerolltes, paniertes und mit Käse gefülltes Schnitzel. Dass dieses Essen auch nicht gerade diätisch war, konnte Delamotte nicht verleugnen. Warum fiel es ihm eigentlich so schwer, seine Ernährungsgewohnheiten wenigstens mal ein bisschen umzustellen? Dass die Zeit mit Sonja – zumindest die letzten beiden Jahre – ihm keinerlei Motivation dazu gegeben hatte, war nicht überraschend. Aber warum konnte er sich immer noch nicht dazu aufraffen, ein wenig an sich zu arbeiten?
Mit der Rechnung kam wie üblich ein Sliwowitz, Delamotte plauderte noch ein paar Minuten mit Dušan und Bojana, und machte sich dann auf den Heimweg. Der Abend war sommerlich, der Marktplatz trotz der späten Stunde noch belebt. Er kam bei Giannini vorbei, widerstand der Versuchung, den Abend mit einem Eis abzurunden. Es konnte kaum mehr als zwei Monate her sein, dass er die Eisdiele mit Britta und Timmy aufgesucht hatte, nach einem Spaziergang im Park. Doch das schien ihm viel länger zurückzuliegen. Hatte Tante Lilly vielleicht doch falsch gelegen mit ihren Prophezeiungen?
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