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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 18
Es war bereits dunkel, als der Xsara in die Tiefgarage rollte. Delamotte hatte das Polizeipräsidium am Nachmittag verlassen, mit knurrendem Magen. Früher einmal hatte er länger ohne Nahrungszufuhr ausgehalten.
Im Kara Deniz hatte er ein spätes Mittagessen eingenommen, oder ein frühes Abendessen, je nach Perspektive. Beim Essen war ihm die Idee gekommen, den Weinladen in Neringen noch einmal aufzusuchen. Hilberts Geschäft war gut sortiert, und der moldawische Wein, den er am Vorabend mit Holger und Tatjana getrunken hatte, reichte Delamotte als Beweis dafür, dass man den Empfehlungen des Händlers trauen konnte.
Also war er auf den Boulevard gefahren und dann rechts auf die Ost-West-Magistrale abgebogen. Der dichte Berufsverkehr hatte ihn recht schnell zu nerven begonnen, und noch vor Raggerscheid war ihm eingefallen, dass der Laden an diesem Tag um diese Zeit vermutlich geschlossen wäre.
Aus irgendwelchen Gründen hatte Delamotte aber keinerlei Bedürfnis verspürt, nachhause zu fahren. Er war also nicht südwärts, sondern nordwärts auf den Ring gewechselt. Und erst dann, immer noch bei maximal 60 Stundenkilometern, hatte ihn die Idee überkommen, ganz spontan bei Kata vorbeizufahren. Gesehen hatte er seine Schwester seit Ostern nicht mehr, gesprochen nur wenige Male am Telefon und das letzte Gespräch war nicht wirklich harmonisch verlaufen. Und er konnte Katharina ja gut verstehen – ja, er hätte von sich aus das Gespräch mit ihr suchen müssen und mit Hardy.
Ohne zu wissen, ob sie überhaupt zuhause wäre, und ob es ihr zeitlich überhaupt passte, hatte er sich für eine geschwisterliche Aussprache entschieden. Doch am Dreieck Sonnenthal war er nicht in Richtung Schwabstadt abgebogen, sondern weitergefahren. Vielleicht war Kata so ein Gespräch ja gar nicht recht, und ihm war bei solchen Anlässen immer schon die Wortfindung schwer gefallen, und so eine Aussprache konnte ja auch entgleisen. Er war also weitergefahren, und ein Teil von ihm hatte mal wieder das Gefühl gehabt, ein Weichei zu sein.
Hinter Dreieck Neuheim war der Verkehr etwas flüssiger geworden. Delamotte war schlagartig klargeworden, dass er sich seit Raggerscheid im Revier des Uhu bewegte. Ob Brückner tatsächlich der gesuchte Mörder sein konnte? Sein Bauchgefühl hatte von Beginn an dagegen opponiert. Ganz unabhängig davon: wie war der Uhu an die Daten seiner Opfer gekommen? Delamotte hatte nun ein gutes Drittel des Marßener Rings abgefahren, und war dabei von ungezählten anderen Autos überholt worden und genauso viele hatte er selber überholt. Aber selbst wenn er sich dabei fremde Kennzeichen gemerkt hätte – an die Daten der Halter käme er ohne fremde Hilfe niemals. Und Brückner sicherlich auch nicht.
An der Ausfahrt Berschweiler hatte Delamotte dann den Blinker gesetzt und war nach Vernay gefahren. Dort hatte er sich auf eine Bank im Kreuzgang der alten Klosterkirche gesetzt. Einen Moment lang hatte er überlegt, die Kirche aufzusuchen und zu beten. Aber vermutlich wäre die Türe um diese Zeit eh schon verschlossen gewesen, und er hatte auch keinen echten Drang dazu verspürt.
Stattdessen hatte er an Britta gedacht. Und er war mit sich selber ins Gericht gegangen – es war ja nicht zu übersehen, selbst mehr als ein halbes Jahr nach dem Ende mit Sonja waren ihm seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse immer noch ein Rätsel. Und wie sollte ausgerechnet er dann verstehen, welche Wünsche und Bedürfnisse seine Nachbarin hatte. Auch wenn diese Nachbarin in den letzten Monaten mehr und mehr zu einer Vertrauten geworden war. Aber eben zu einer Vertrauten, nicht zu einer Gefährtin. Hatte sie ihm vielleicht einmal Signale zukommen lassen? Delamotte war in solchen Dingen immer schon etwas unbeholfen gewesen, und ob Brittas Umarmungen bei ihren jüngsten Treffen einfach freundschaftlich gewesen waren oder mehr – wie sollte er das wissen?
Er hatte lange in dem Kreuzgang gesessen, die Sonne war hinter der Kirche untergegangen, das orange Leuchten hatte ihn ein wenig mit sich selbst versöhnt – obschon ihn im Nachgang geärgert hatte, dieses Bild nicht auf ein Foto gebannt zu haben. Das war ihm erst auf dem Weg nach Bliesfeld eingefallen.

Im Aufzug dachte Delamotte kurz darüber nach, einfach mal bei Britta zu klingeln. Bereits vom Korridor aus entdeckte er an seiner Wohnungstür einen Zettel; als er näherkam, erkannte er, dass es sich nicht um einen Post-it handelte. Es war einfach ein Zettel, mit einem Stück Klebestreifen an der Türe befestigt. Er las: „Hi Markus, leider haben wir weder deine Telefonnummer noch deine Emailadresse. Falls du Bock hast, komm doch morgen Abend um Acht mal vorbei – ein bisschen quatschen, bei einem Weinchen und ein paar griechischen Spezialitäten. Es würde uns sehr freuen. Liebe Grüße, Nicky und Theo“. Unter der Nachricht stand eine Emailadresse. Delamotte betrat seine Wohnung, holte aus der Küche ein Stück Käse und eine Flasche Stella Artois, und setzte sich an seinen Computer.
Viel später, kurz vor dem Schlafengehen, dachte Delamotte, dass der Zettel und seine Antwort auf die Einladung ihn völlig davon abgebracht hatten, an der Nachbartüre zu klingeln. Oder war das nur eine Ausrede?

Der „Blitz“ war mal wieder mit einer Schlagzeile auf Seite 1 erschienen, die jeden Passanten förmlich anschrie, um ihn in einen Käufer und Leser zu verwandeln. „Polizei: Uhu soll ein Meisterschütze sein“, hatte er bei seinem morgendlichen Spaziergang zum Kiosk gelesen. Er hatte den unmittelbaren Kaufimpuls unterdrückt, und war wenig später mit dem Auto zu einem großen Supermarkt gefahren. Dort kannte ihn die Verkäuferin am Zeitungsstand nicht.
Der Artikel schien ihm in erster Linie wieder aus Spekulation zu bestehen. Er bezog sich zwar auf gutinformierte Kreise bei der Polizei, aber dass der Uhu ein hervorragender Schütze war, konnten sogar die Journalisten sich ausrechnen. Es hatte ihm ja immer ein einziger Schuss gereicht – nun gut, gereicht hatte es nicht immer. Aber er hatte sich immer auf einen Schuss beschränkt. Seine Qualitäten waren ihm ja durchaus bewusst.
Angeblich hatten die Ermittler bereits eine bestimmte Person im Visier – jemanden, der bereits als Meisterschütze ausgezeichnet worden war. Falls das zutraf, konnte er sich erst recht beruhigt zurücklehnen. Dietrich würde der Polizei nicht so ohne weiteres die Daten der Mitglieder aushändigen. Schließlich war Dietrich selber bei der Polizei, und er stand im Verein mit diesem Merkmal nicht alleine. Natürlich, es gab für die Behörden immer Mittel und Wege, die Herausgabe von Daten zu erzwingen. Aber das war nur auf dem Gerichtsweg möglich, und keinesfalls ein Selbstläufer. Und der stellvertretende Vorsitzende des Vereins war ein Richter.
Nicht zuletzt aber: an Meisterschaften und anderen Wettbewerben hatte er nie teilgenommen. Gewiss, Dietrich hatte ihn nach einiger Zeit im Verein einmal gefragt, ob er die Vereinsfarben nicht im Rahmen von Einzel- und Mannschaftswettkämpfen vertreten wolle. Er hatte dankend abgelehnt. Für ihn sei das Schießen nur eine Entspannungsübung, hatte er Dietrich gesagt. Und dabei hatte er nicht mal gelogen.


Er arbeitete von zuhause, versuchte zu ergründen, ob Brückner nicht doch tatsächlich der Uhu sein konnte. Delamotte tat dies aus keinem besonderen Grund – vielleicht vertiefte er sich in das noch unlängst aktualisierte Profil, um sein Bauchgefühl zu widerlegen und sich selbst etwas zu beruhigen. Manches an dem Profil traf ja auch ziemlich genau auf Ulrich Brückner zu. Fast erschien es ihm, als ob der Mann eher durch einzelne Aspekte des Profils belastet wurde als durch Ermittlungsergebnisse. Aber vielleicht hatte Sonja zumindest ansatzweise recht gehabt, und seine ganze Arbeit war, wenn auch nicht dunkel, dann doch zumindest weitgehend nutzlos. Diesen Gedanken versuchte er rasch aus seinen Gehirnwindungen zu entfernen. Das Mindeste, das er in den letzten Monaten begriffen hatte, war die Notwendigkeit, sich von allem zu lösen, das mit Sonja zu tun hatte.
Ein Ping seines Computers zeigte ihm an, dass eine Email eingegangen war. Sie stammte von Sabine Greven. Die Kollegen in Münster hatten tatsächlich Fingerabdrücke auf der Packung mit den Hustenbonbons gefunden. Auf dem Böxli, erinnerte sich Delamotte und lachte kurz auf. Die Kriminaltechniker hatten auch sofort nachgeguckt, ob die Fingerabdrücke bereits bekannt waren. Fehlanzeige. Das überraschte Delamotte überhaupt nicht.
Kurz nachdem er statt eines Mittagessens eine Rosinenschnecke verspeist hatte, klingelte sein Telefon. Er war sich übrigens vollauf bewusst, dass diese Ernährung seiner Figur nicht gut tat – immerhin nahm er seinen Körper erstmals seit geraumer Zeit überhaupt wieder wahr.
Aus dem Lautsprecher des Geräts hörte er Peschs tiefe Stimme: „Kannst du mir mal einen Rat geben, Markus?“
Delamotte fühlte sich von dieser Formulierung gebauchpinselt. „Worum geht’s denn?“, fragte er.
Der Hauptkommissar erklärte ihm, sie hätten gerade die Polizeistreifen angewiesen, gezielt Ausschau nach Brückner zu halten. „Wir haben ihnen eine grobe Beschreibung Brückners gegeben, Marke und Typ seines Autos, das Kennzeichen.“ Delamotte wunderte sich ein wenig, dass Pesch diese Maßnahme nicht bereits am Vortag eingeleitet hatte.
„Was glaubst du? Wenn sie ihn erkennen, versuchen ihn anzuhalten und zu kontrollieren – wie wird er reagieren?“, wollte er von dem Psychologen wissen.
Der wiederum ließ sich mit der Antwort einen Moment lang Zeit: „Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei ihm um den Uhu handelt? Dann kennst du die Antwort schon.“
„Ich kann sie mir denken“, sagte Pesch, „aber ich möchte sie gerne von dir hören.“
Delamotte hatte keine Zweifel: „Der wird sich nicht einfach kontrollieren lassen. Und schon gar nicht wird er sich ergeben. Lieber wird er sterben.“
Eine Weile herrschte Stille. „Danke“, sagte Pesch, „ich sehe das genauso wie du.“
„Ihr solltet den Kollegen einen Hinweis geben, dass der Mann womöglich bewaffnet und gefährlich sein könnte“, empfahl Delamotte. Selbst wenn sein Bauchgefühl richtig lag und Brückner nicht der Gesuchte war – er war überzeugt, dass der ehemalige Stasi-Mitarbeiter mit Vorsicht zu genießen war.
„Das haben wir bereits gemacht“, hörte er Pesch sagen.
Delamotte kam ein anderer Gedanke: „Amtlich zur Fahndung ausschreiben könnt ihr ihn wohl kaum, oder?“
Pesch lachte dröhnend: „Schön wär’s, Markus, schön wär’s… Auf Basis der wenigen Hinweise, die wir haben, würde dem kein Richter zustimmen.“
Aber wie wäre es, regte der Psychologe an, mit einem öffentlichen Aufruf an Brückner, sich wegen einer wichtigen Auskunft bei den Behörden zu melden. „Du bist nicht der erste, der das vorschlägt“, sagte Pesch, „aber wie die anderen bekommst du da von mir eine Absage. Mit so einer Sache würden wir Brückner warnen – besonders jetzt, wo der ‘Blitz’ schon ein paar spekulative Andeutungen gemacht hat.“ Er hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: „Mir ist lieber, der Kerl ahnt nicht, dass wir seinen Namen schon kennen. Und sein Passfoto, sein Autokennzeichen. Und seine Vergangenheit.“

Pünktlich um acht Uhr klingelte Delamotte an der Wohnungstür im zweiten Stock. Abermals hatte er einen kleinen Umweg über den Keller gemacht und sich für einen verblüffend gehaltvollen Merlot aus Rheinhessen entschieden. Theo öffnete die Tür; diesmal verpasste es Delamotte keinerlei Schock, nur eine teils schmerzhafte, teils peinliche Erinnerung an die Szene vor gar nicht so langer Zeit.
„Komm rein“, begrüßte Theo den Gast, umarmte ihn und nahm den Wein entgegen. „Aha, aus Deutschland“, sagte er, „ich muss zugeben, meine Kenntnisse über deutschen Wein werden kaum umfangreicher sein aus deine über griechischen.“
Delamotte lächelte: „Dann wird es ja Zeit, das zu ändern.“
Nicky kam aus der Küche. Sie umarmte Delamotte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Britta hat eben angerufen – bei ihr wird es etwas später“, erklärte sie.
Aus der Küche strömte wieder ein betörender Duft. Delamotte erkannte eine subtile Zimtnote. Theo führte ihn ins Wohnzimmer, der Esstisch war bereits gedeckt mit verschiedenen Vorspeisen. Nicky gesellte sich zu den beiden Männern, ihr Partner goss drei Gläser Wein ein und sie stießen an. „Danke für die Einladung“, sagte Delamotte.
„Danke dir, dass du sie angenommen hast“, erwiderte Nicky und strahlte ihn an.
Sie setzten sich und machten sich über die Vorspeisen her. Delamotte genoss das Fladenbrot mit Sesam, wahlweise mit Tsatsiki, Erbsenpüree und einer orange-roten Creme aus Feta und Tomatenmark. Besonders aber die mit Reis, Pinienkernen und Rosinen gefüllten Weinblätter. Sein Lob an die Köchin kam von Herzen.
„Hauptgericht und Dessert werden die garantiert auch schmecken“, warf Theo ein.
„Und wie viele Stunden Basketball am Tag brauchst du, um so gut in Form zu bleiben?“, fragte Delamotte.
Als Hauptgang gab es Moussaka, duftend und dampfend und sehr schmackhaft. Zwischen zwei Bissen fragte Delamotte Nicky: „Woher weißt du eigentlich, dass ich am Bischöflichen Gymnasium war?“
Die Gastgeberin grinste: „Der Name Clara Stockert sagt dir doch was, oder?“ Natürlich kannte er Clara Stockert, die ältere Schwester seines Freundes Mischa. Wisskirchen hieß sie seit ihrer Heirat vor ein paar Jahren, erinnerte er sich.
„Clara war die beste Freundin meiner Cousine Maria“, erzählte Nicky, „und zu Claras neunzehntem Geburtstag nahm Maria mich mit, und du warst auch da.“
In Delamottes Kopf erschienen längst verblasste Bilder, viele junge Leute im Garten der Stockerts. Mischa hatte ihn und Holger zur Unterstützung am Grill dazu geholt.
„Maria war hinterher ein bisschen enttäuscht, dass du so schüchtern warst“, sagte Nicky und kicherte.
Vor Delamottes geistigem Auge erschien dieses hübsche, dunkelblonde Mädchen, das ihn damals ein paar Mal angelächelt hatte.
„Schau mal, Markus wird rot“, lachte Theo – ein Lachen ohne jede böse Absicht, spürte Delamotte.
„An dem Abend war er noch röter“, erinnerte sich Nicky, „besonders als Maria ihm dann mal zugezwinkert hat.“
„Daran erinnere ich mich überhaupt nicht mehr“, sagte Delamotte.
„Clara hat Maria dann später getröstet“, fuhr die Gastgeberin fort, „sie sagte sowas wie ‚Nimm’s nicht persönlich, er ist am Bischöflichen wie mein Bruder. Achtzig Prozent Jungs. Wie sollen die Ärmsten denn lernen, wie man mit Frauen umgeht?‘“
Ein etwas unangenehmer Gedanke überfiel ihn: wusste er das denn wenigstens jetzt, fast doppelt so alt wie damals?
Nach dem Hauptgericht halfen Theo und Markus Nicky dabei, den Tisch abzuräumen. Nicky stellte den Rest Moussaka in den Ofen, um ihm für Britta warm zu halten. Dann begaben die beiden Männer sich in die Sofaecke, Theo entkorkte den Merlot und stellte ihn neben den bereits geöffneten Nemea auf den Couchtisch.
„Du bist also bei der Polizei“, sagte er.
Delamotte nickte: „Bei der Polizei, aber kein Polizist.“
„Ja, das hat Britta schon erzählt“, bemerkte Theo und nahm einen Schluck von dem Merlot. „Donnerwetter, so ein Kracher kommt aus Deutschland?“, rief er aus.
„Es gibt ein paar ziemlich sonnige Gegenden in Rheinhessen“, erklärte sein Gast, „und in der Pfalz erst recht.“ Bevor Theo Fragen zur Polizeiarbeit stellen konnte, wechselte Delamotte die Perspektive: „Und womit verdienst du dein leckeres Essen und den guten Wein?“
„Gelernt habe ich Elektroinstallateur“, antwortete Theo. Doch seit mehr als vier Jahren arbeitete er in einem großen Elektronikmarkt. „Die Arbeit ist sauberer und generell angenehmer – und auch die Arbeitszeiten sind verlässlicher“, erklärte er.
Nicky kam zurück ins Wohnzimmer, eine Schüssel, drei Teller und Besteck in den Händen, und ergänzte: „Als er noch als Installateur gearbeitet hat, kam er oft spät nachhause und ich musste auf ihn warten.“ Als Versicherungskauffrau bei der Marssonia war ihr Arbeitstag immer schon geregelter gewesen. Delamotte fiel ein, dass Fischer im Außendienst dieser Gesellschaft tätig gewesen war.
„Apropos warten“, sagte Theo, „was ist denn eigentlich mit Britta?“
„Sie ist auf dem Weg“, antwortete seine Partnerin, „ich habe sie gerade angerufen. Sie meint, wir können mit dem Dessert schon ruhig anfangen.“ Sie stellte Teller, Besteck und die Schüssel auf den Tisch. In der Schüssel befanden sich gebackene Teigbällchen – der Glanz, der sie umspielte, stammte von dem Honigsirup, mit dem sie getränkt waren. Passend dazu öffnete Theo einen Süßwein aus Samos. Delamotte war sich vollauf im Klaren darüber, dass dieses Abendessen mindestens ein weiteres zu den Pfunden hinzufügen würde, von denen er ohnehin schon zu viele mit sich schleppte. Aber in diesem Moment war ihm das vergleichsweise egal.
Wenig später klingelte es; Delamotte blickte auf die Uhr, es war schon fast halb zehn. Nicky ging zur Tür, er hörte wie die beiden Frauen sich begrüßten – ihm war schon vor langer Zeit aufgefallen, dass dieses Ritual bei Frauen im Allgemeinen deutlich lauter und überschwänglicher vonstattenging als bei seinen Geschlechtsgenossen.
Bereits am Geräusch der näherkommenden Schritte wurde ihm klar, dass Britta wieder hochhackige Schuhe trug, vermutlich die gleichen wie vor einiger Zeit auf dem Korridor. Sie betrat hinter Nicky das Wohnzimmer, ein wenig außer Atem. „Hallo Jungs“, sagte sie, und ging auf Theo zu, der aus dem Sessel aufgestanden war. Die beiden umarmten sich – Brittas T-Shirt endete gerade oberhalb der enganliegenden Jeans, die sie trug. Bei der Umarmung schob es sich ein bisschen nach oben und gewährte Delamotte einen Blick auf Brittas Rücken.
Sie löste sich von Theo und wandte sich Markus zu, der vor dem Sofa stand. „Markus, wie schön dich mal wieder zu sehen“, sagte sie. Er spürte ihre Wärme, als sie ihn umarmte, und nahm einen Hauch ihres Parfums wahr. Brittas Hand berührte sanft seinen Nacken – sie war deutlich wärmer als der Armreif, der Brittas Handgelenk umschloss. Sie ließ ihn wieder los, setzte sich auf das Sofa und seufzte: „Na endlich – tut mir leid, dass ihr so lange auf mich warten musstet.“
Nicky stellte ihr einen Teller mit Vorspeisen hin, Britta griff beherzt zu. Delamotte sprach sie an: „Die Jeans ist neu, nicht wahr?“
Sie wirkte etwas verwirrt, fast schon so, als hätte sie ihn überhaupt nicht verstanden. Er wiederholte seine Frage: „Die Jeans muss ganz neu sein, ich habe sie zumindest noch nie gesehen.“
„Ja, ja die ist neu“, sagte sie und lächelte, „ich habe vor zwei Wochen einen Großeinkauf gemacht, wollte mal ein paar neue, schicke Klamotten haben. Immerhin habe ich wieder einen Job, ab nächsten Monat in Vollzeit. Also kann ich mir was leisten.“
„Sie steht dir großartig“, sagte Delamotte.
Wieder schien sie ihn nicht verstanden zu haben: „Was meinst du?“
„Na, die Jeans“, bekräftigte er, „sie sieht toll an dir aus – wie für dich gemacht.“
„Das ist lieb von dir, danke sehr“, erwiderte sie mit einem Zwinkern.
Es dauerte eine Weile, bis Britta wieder ganz die alte war – vielleicht war es der Hunger, dachte Delamotte, ohne wirklich davon überzeugt zu sein. Sie plauderten so fröhlich wie an dem Abend in ihrer Wohnung, als er Nicky und Theo kennengelernt hatte.
Offenbar hatte Norbert ihr ein paar Dinge verraten, denn sie schalt ihn sanft: „Du hast mir nie erzählt, dass du mit diesem ganzen Morenhoven-Clan verwandt bist.“
Nicky wurde hellhörig: „Morenhoven? Die Morenhovens, zu denen der Erbauer der Eishalle am Vossemer Wall gehörte?“
Delamotte bestätigte: „Das war mein Großonkel – eigentlich auch so etwas wie mein Opa-Ersatz, Onkel Jeans Bruder war ja schon lange tot, als ich geboren wurde.“ Johannes-Baptist Morenhoven hatte als Landrat seinerzeit, kurz vor der Eingemeindung Bliesfelds nach Marßen, mit dafür gesorgt, dass der Bliesfelder EV ein hochmodernes neues Zuhause bekam. Bis in die fünfziger Jahre hatte an der gleichen Stelle die Heiringhoffsche Brikettfabrik gestanden, in der sein Urgroßvater gearbeitet und Opa Jacko seine Lehre als Schlosser gemacht hatte.
Theo schaltete den Fernseher ein, gemeinsam schauten sie die Show von Rob Schenck. Immer wieder fiel Delamottes Blick auf die neben ihm sitzende Britta. Bei der gemeinsamen Fahrt in die Tiefgarage, die ihm mittlerweile wie ein weit zurückliegender Moment erschien, hatte er Britta zum ersten Mal als Frau gesehen. Aber das war nur ein schwacher Eindruck gewesen im Vergleich zu dem, was er nun wahrnahm. Britta war nicht einfach eine schöne Frau – sie war eine Frau, die sich ihrer selbst absolut bewusst war. Fast fühlte Delamotte sich ein bisschen eingeschüchtert von ihrer Präsenz.
Nach dem Ende der Show saßen die vier noch eine Weile beisammen, redeten und lachten und ein Teil von Delamotte wünschte, dieser Augenblick würde nie enden. Aber natürlich war er so endlich wie jeder andere Moment auch. Britta und Markus verabschiedeten sich von ihren Gastgebern und fuhren gemeinsam in den vierten Stock. Als sie vor den beiden nebeneinander liegenden Wohnungstüren standen, blickte Britta ihn an. Ihr Lächeln wirkte ehrlich, aber auch ein wenig verloren: „Gute Nacht, Markus. Schlaf gut.“
„Du auch, Britta“, sagte er und schloss die Türe auf. Diesmal umarmte sie ihn nicht.

Die folgenden Tage zogen sich wie Kaugummi. Obwohl alle Polizeistreifen der Stadt die Augen aufhielten, war Brückner unauffindbar. Die Ermittler sprachen mit Immobilienverwaltungen, telefonierten die kleinen Privatvermieter ab, beginnend mit den östlichen Stadtbezirken, fragten sogar bei den Anbietern von Ferienwohnungen und Fremdenzimmern nach. Niemand hatte jemals von einem Ulrich Brückner gehört. Beim Hauptpostamt in Aachen hatte er zuletzt vor zwei Monaten Post abgeholt, die Beamten dort würden sich bei der lokalen Polizei melden, sobald er sich zeigen sollte. Aber für den Moment war der Mann wie vom Erdboden verschluckt.

Ab und zu hörte Delamotte das Getrappel von Kinderfüßen aus der Nachbarwohnung, Timmy war offenkundig aus dem Urlaub mit seinem Papa zurück. Aber Delamotte brachte es irgendwie nicht fertig, einfach mal nebenan zu klingeln. Die Rob Schenck Show sah er, wenn überhaupt, wieder alleine.

Kata war fassungslos: „Markus, davon hast du nie erzählt.“
Ihr Bruder schüttelte den Kopf: „Ich wollte niemanden von euch damit belasten. Der einzige, der diese Sachen kennt, ist Ali.“
Kata verstand – der alte Kommilitone und Freund ihres Bruders war auch immer ein Stück weit sein Therapeut gewesen, informell zumindest. Aber immerhin war Sonja schon fast so etwas wie eine Schwägerin für sie gewesen, und natürlich hatte sie in den ganzen Jahren gemerkt, wer in der Beziehung ihres Bruders der bestimmende Teil gewesen war. Das hatte sie allerdings nicht weiter beunruhigt, es gehörte fast schon zur Genetik ihrer Familie dazu. Aber dass es so weit gegangen war, hatte sie nie gedacht.
Markus hatte sie am Vortag angerufen und um ein Gespräch gebeten. Sie hatte die Dringlichkeit in seiner Stimme gehört. Vermutlich, so hatte sie gedacht, fühlte er sich schuldig wegen ihrer Auseinandersetzung mit Mutter. Markus fühlte sich oft wegen irgendwelcher Sachen schuldig. Dafür gab es streng genommen in dieser Angelegenheit keinen Grund. Ja, sie hatte sich über ihn geärgert. Aber so war eben Markus, und Hardy nicht minder. Die Delamotte-Jungs waren eben konfliktscheu, oder sogar weich. Das machte sie aber auch ein Stück weit liebenswert. Als Mädchen hatte sie es unglaublich genossen, in der Familie den Ton anzugeben. Vielleicht hatte das dann auch dauerhaft ihren Charakter geprägt, und ja, vielleicht war auch ihre Beziehung mit Harald daran gescheitert.
Also war Markus am frühen Abend zu ihr gekommen, hatte eine Einkaufstüte voller Zutaten mitgebracht, und sie hatten gemeinsam gekocht, zum ersten Mal seit Jahren. Sie hatten gut gegessen und dazu einen Wein aus Moldawien getrunken.
Über die Geschichte mit Mutter hatten sie nur kurz gesprochen, und Markus hatte herzhaft gelacht, als sie ihm von Mutters etwas chauvinistischer Sicht auf die Fähigkeit von Männern berichtet hatte, alleine im Leben klarzukommen. „Ganz unrecht hat sie ja nicht“, hatte er gesagt, „zumindest eine Putzfrau sollte ich mir mal zulegen.“ Aber das war für längere Zeit der letzte fröhliche Moment des Abends gewesen.
Denn schon bald waren sie auf Sonja zu sprechen gekommen, Kata selbst hatte den Namen erwähnt. Und dann hatte sie mehr und mehr verstanden, wie sehr diese Frau ihren Bruder beherrscht, manipuliert und tief verletzt hatte. Sehr tief verletzt. Manche Male hätte sie aufschreien können. Wenn jemand ihr Talent, ihr vorrangiges Talent, derart schlecht geredet und beinahe schon zu einem Übel erklärt hätte – undenkbar, dass sie mit so einer Person noch jahrelang zusammengeblieben wäre.
Aber Markus war eben Markus gewesen, und sie glaubte nicht, dass er all diese Zurücksetzungen ihr und anderen gegenüber verschwiegen hatte, nur um niemanden zu belasten. Er hätte die Wahrheit erfahren, eine Wahrheit die er tief in sich drin schon kannte, eine Wahrheit die Ali ihm mit Sicherheit hatte aufzeigen wollen. Auf Alis Art und Weise – sachte, behutsam, rücksichtsvoll. Sie hatte ihn bei Geburtstagsfeiern oft erlebt, kannte ihn vergleichsweise gut. Und diese Wahrheit, diese schmerzhafte Wahrheit, vermittelt mit deutlicheren Worten als solchen, die Ali vermutlich benutzt hatte – sie hätte Markus zum Handeln gezwungen. Und er hatte nicht handeln wollen, oder hatte es einfach nicht gekonnt – bis Sonja dann schließlich gehandelt hatte. Wie eine Armee, die verbrannte Erde hinter sich ließ.
Sie ging in die Küche und öffnete eine Flasche Champagner, goss zwei Gläser ein und brachte sie ins Wohnzimmer. „Lass uns auf die Zukunft trinken“, sagte sie, „die Vergangenheit ist eh vorbei.“
Sie stießen an, Markus trat auf sie zu und umarmte sie. Es erschien so, als hielte er sich an ihr fest. „Vielen Dank“, sagte er. Kata verstand nicht, wofür er sich bedankte. Für das Zuhören? Für die Unterstützung? Dafür war Familie doch da.
Sie sprachen ein wenig über seinen aktuellen Fall, über den ja gerade fast die ganze Stadt sprach. Es war ihr klar, dass Markus über viele Dinge nicht reden durfte und auch nicht reden wollte. Aber es entging ihr nicht, dass er die „heißen Spuren“, von denen der „Blitz“ in den letzten Tagen berichtet hatte, weit skeptischer sah als die meisten seiner Kollegen.
Seine Stimmung schien sich aufzuhellen, als das Gespräch auf seine neuen Nachbarn kam, auf das griechische Pärchen, besonders aber auf Britta und ihren kleinen Sohn. Bereits kurz nach Ostern hatte er ihr am Telefon schon mal von der Frau erzählt, und Kata hatte direkt bemerkt, wie gut ihrem Bruder der Kontakt mit seiner neuen Nachbarin tat. Ihre jeweilige Lebenssituation war sich ja auch durchaus ähnlich – obschon Kata direkt einfiel, dass ähnlich und gleich nicht ohne Grund verschiedene Wörter waren. Und sie empfand deutlich, wie sehr ihr Bruder diese Frau mochte und, ja, spätestens seit dem Moment auch begehrte, da er sie im Minirock gesehen hatte. Seine Schilderung amüsierte sie. Mit seinem etwas verqueren Humor war Markus vielleicht der einzige Mann, der den Blick auf einen Frauenhintern offen zugeben durfte, ohne dass Kata für die Sache der Frauen ins Feld ziehen würde.
Natürlich verstand Kata sehr wohl, dass ihr Bruder noch eine lange Zeit der Heilung brauchte, um wieder bereit für eine Beziehung zu sein. Und zu ihrer Erleichterung war sich Markus dessen auch mehr als bewusst. Doch dann kam ein etwas anderer, verwirrender Ton in die Erzählung ihres Bruders. Brittas Verwandlung – in ihrem Verhalten, und mehr noch in ihrer Erscheinung – konnte Kata nicht entgehen. Und sie war selber eine Frau und wusste, dass sich Frauen nie ohne triftigen Grund verwandelten. Kata hatte eine Ahnung, was für einen Grund Britta haben könnte, und sie würde diese Ahnung tunlichst für sich behalten.
Nach dem Ende der Rob Schenck Show bereitete sie Markus eine Schlafstatt auf dem Sofa zu. Sie konnte ihren Bruder in diesem Zustand nicht mehr nachhause fahren lassen. Und damit meinte sie nicht seinen Alkoholspiegel.

Schließlich hatte das Gericht in Brandenburg den Anträgen der Marßener Staatsanwaltschaft doch zumindest teilweise nachgegeben, und die Ermittler bekamen von der örtlichen Sparkasse eine Kontostaffel Brückners übermittelt, sowie eine Auflistung der Bankautomaten, an denen er in den letzten zwölf Monaten Geld abgehoben hatte. Die meisten davon lagen in Marßen und Umgebung, und den Ermittlern war schnell aufgefallen, dass er nie mehr als einmal im Monat am gleichen Automaten gewesen war. „Das ist doch was oberfaul mit dem Kerl, der verbirgt doch was“, hatte Pesch ausgerufen.
„Hat er mal in Holland Geld abgehoben?“, fragte Delamotte Henseler, als der ihm am Telefon die Neuigkeit mitteilte.
„Warum…“, setzte der junge Kommissar an, bevor ihm der Sinn der Frage selber klarwurde. Es dauerte einen Moment, bis er die Antwort gab: „Nein, du hast recht. Niemals in Holland. Ein paarmal in Belgien, einmal in Luxemburg – aber niemals in Holland. Das ist ja seltsam.“


Hab ich dich! Fast hätte er seinen Triumph herausgeschrien. Das war sie, es konnte keinen Zweifel geben. Hab ich dich!
Er hatte gleich geahnt, dass es sehr schwer werden würde, die neue Zielperson zu identifizieren. Ihm hatten keine Personendaten zur Verfügung gestanden. Nur ein Firmenname, das Kennzeichen, und eine allerdings recht gute Personenbeschreibung. Mehr nicht. Unter anderen Umständen hätte das wohl auch locker gereicht, aber nicht in diesem Fall.
Zwei Tage hatte er bereits auf der Lauer gelegen, ohne Erfolg. Auch dieser Tag war schon annähernd zur Hälfte vorbei. Dass die Geschlechterverteilung ein Problem werden konnte, hatte er geahnt. Aber offenkundig betrieb der Besitzer – vielleicht auch die Besitzerin, er hatte das nicht nachgeprüft – eine Einstellungspraxis nach dem Prinzip „Blondinen bevorzugt“. Das hatte es ihm nicht leichter gemacht.
Doch nun, kurz nach der Mittagspause, war er am Ziel. Das Warten hatte sich gelohnt. Die Frisur passte, der Körperbau, die Haarfarbe sowieso. Vor allem aber passte das Kennzeichen. Hab ich dich! Die Observationsphase konnte beginnen.