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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 15
IX.

Durch das geöffnete Fenster des Arbeitszimmers konnte er hören, wie ein leichter Sommerregen über der Cestonarostraße herunterging. Delamotte saß am Computer und arbeitete an einer Erweiterung des Täterprofils. Am Vorabend hatte er die in den letzten Wochen gewonnenen Erkenntnisse aufgenommen. Nun musste er diese ganzen Fakten interpretieren, gewichten, einordnen. Das war ganz eindeutig der schwierigere Teil. Er erinnerte sich an den Hinweis, den Ali ihm vor einiger Zeit gegeben hatte. Sein Fokus musste auf der Gefühlswelt des Uhu liegen – andere Emotionen waren nun auszuklammern. Das war ihm, so ehrlich musste er sich selbst gegenüber sein, in letzter Zeit nicht wirklich gut gelungen.
Pesch gegenüber hatte er einmal angedeutet, dass enge Bekannte oder gar Freunde irgendwann erkennen würden, dass mit dem Uhu etwas nicht stimmte. Hatte er da vielleicht ein bisschen zu kurz gedacht, überlegte Delamotte. Selbst wenn dieser Mann ein Einzelgänger war – er musste doch irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen. Und das bedeutete im Regelfall doch Kontakte mit anderen. Und vom Regelfall auszugehen lag zunächst einmal nahe.
Was ist eigentlich mit deinen Kollegen? Bemerken die denn nicht, dass du spinnst? Ewig lange verstellen kannst du dich nicht – zumindest traue ich dir das nicht zu. Oder spielt es in deinem Beruf keine Rolle, ob jemand über ein gewisses Maß an sozialen Skills verfügt?
War der Uhu vielleicht ein zerstreuter Wissenschaftler, oder so ein nerdiger Computerexperte? Einer, der im persönlichen Gespräch konsequent am Gegenüber vorbeiguckte, oder sich vermeintlich auf seine Schuhspitzen konzentrierte? Delamotte schüttelte lächelnd den Kopf. Nein, solche Typen waren seiner Einschätzung nach im Allgemeinen harmlos.
Oder bist du so eine Granate in deinem Beruf, dass es die anderen nicht interessiert, wie du mit Menschen interagierst? „Ja, der Kollege ist schon strange, aber er bringt sehr gute Ergebnisse.“
Das könnte es schon eher sein, dachte der Psychologe. Er nahm den Punkt in einen Kommentar auf, obschon er sich nicht sicher war, inwieweit eine herausragende berufliche Performance zu den anderen denkbaren Charaktereigenschaften des Uhu passte.
Delamotte wechselte die Perspektive. Bereits in der initialen Version des Profils war er davon ausgegangen, dass der Uhu bereits lange vor dem ersten Mord entsprechende Vorstellungen durchgespielt hatte. Er hatte sich lange darauf vorbereitet, Menschen zu töten. Die jüngeren Erkenntnisse bestätigten den Psychologen in dieser Annahme. Manuela Sötenich war ein unbekannter Mann aufgefallen, und das sechs Jahre bevor ihr geschiedener Gatte ermordet werden sollte. Delamotte war sich inzwischen weitgehend sicher, dass es sich bei dem Unbekannten um den Uhu gehandelt hatte.
Und dann war da dieses mysteriöse Stück von einer alten, schon mehrere Jahre nicht mehr im Handel befindlichen Karteikarte. Mit ein bisschen Fantasie konnte Delamotte sich durchaus vorstellen, dass der Täter die Daten potentieller Opfer auf solchen Karten erfasst hatte – und das auch schon seit langer Zeit.
Du hast dir einen richtigen Vorrat angelegt, nicht wahr? Wie viele dieser Karten hast du im Laufe der Jahre ausgefüllt?
Aber wenn der Uhu tatsächlich schon so lange vom Töten geträumt hatte, dann war die Frage, die Pesch aufgeworfen hatte, umso berechtigter. Delamotte wunderte sich, dass ihm dieses Eingeständnis heute so leicht fiel. Warum hatte der Täter erst vor knapp einem Jahr begonnen, seine Fantasien in die Tat umzusetzen?
Was ist letztes Jahr passiert? Du hast jahrelang mit deinen Fantasien vorliebgenommen, hast Namen auf Karteikarten geschrieben, die eine oder andere Person ein paar Tage lang beobachtet. Und ich bin mir ziemlich sicher: an irgendeinem der Schießstände, die sich Lüttges und Henseler bald vornehmen, hast du geübt. Erst auf feste Zielscheiben geschossen, dann auf bewegliche. Und dir dabei vorgestellt, es wären Menschen. Die Uhr hat schon seit Jahren in dir getickt. Aber warum ist sie erst letztes Jahr losgegangen? Was ist dir im letzten Frühling oder Sommer geschehen?
Den Gedanken an einen Unfall hatte er bereits im ersten Gespräch mit Pesch verworfen. Dabei blieb er, und es lag nicht allein an der Banalität dieses Gedankens. Ja, der Uhu schien ein massives Problem mit sportlichen Autofahrern zu haben, da lag die Assoziation mit einem Verkehrsunfall durchaus nahe. Aber das konnte zumindest kein unmittelbarer Auslöser der Mordserie sein – der Täter sammelte schon seit Jahren die Daten vermeintlicher Verkehrssünder.
Womöglich hatte der Uhu einen anderen gravierenden Verlust erlitten. War ihm vielleicht gekündigt worden? Das wäre dann aber im Widerspruch zur Theorie des High Performers. Oder war seine Beziehung in die Brüche gegangen? Delamotte ging davon aus, dass der Uhu mindestens einmal versucht hatte, ein ganz normales Leben zu führen. Vielleicht hatte er auch mehrere Anläufe genommen.
Hat dich deine Frau verlassen? Hat sie irgendwann gemerkt, an was für einen Typen sie ihr Leben verschwendete? Oder hatte sie einen anderen? War das nur eine Vermutung deinerseits, oder wusstest du es mit Sicherheit?
Delamotte musste innehalten. Sein Puls raste gerade bedenklich, und den Grund dafür konnte er sich denken. Aber damit müsste er sich später auseinandersetzen, im Augenblick waren die Emotionen des Uhu wichtiger als seine eigenen. Eine Pause brauchte er aber trotzdem. Langsam ging er in die Küche und setzte sich einen Beruhigungstee auf. Draußen regnete es nicht mehr. Sein Blick fiel auf die Uhr am Herd. Nach dem Tee würde er einen Gang zum Marktplatz unternehmen, für das Abendessen einkaufen. Hoffentlich blieb es so lange trocken.

Wieder einmal hatte er dem Karteikasten mehrere Karten entnommen. Die Recherche am Computer hatte den beiseitegelegten Stapel deutlich ausgedünnt; überraschen konnte ihn das ehrlich gesagt nicht, einige der Karten waren laut Datierung schon etwas älter. Er hatte gezielt solche Karten ausgewählt, die es ihm ermöglichen würden, mal wieder aus der Stadt rauszukommen. Immerhin ging es auf den Hochsommer zu, für den Juli und August war Hitze angesagt, und derartige Temperaturen taten ihm nicht gut.
Als Malin noch dagewesen war, hatten sie den Sommer oft im hohen Norden verbracht. Zelten, Wandern, Fischen. Es waren seine besten Jahre gewesen. Lange vorbei. Lange vorbei.
Aus den übriggebliebenen Karten hatte er schließlich eine ausgewählt. Dass sie ihn auch ein Stück weit in den Norden führen würde, war sicherlich kein Zufall, so gut kannte er sich dann doch. Den Zeitungen hatte er entnommen, dass seine Ausflüge nach Holland der Polizei mittlerweile bekannt geworden waren. Nun, damit hatte er immer schon gerechnet. Eine kleiner Geistesblitz amüsierte ihn: ein weiterer Ausflug könnte die Verwirrung unter den Ermittlern noch steigern.

An einem Gemüsestand auf dem Markt hatte er Steinpilze, Kartoffeln und Petersilie gekauft, danach bei Käse Küppers in der Steingasse ein Stück Pecorino. Alle anderen Zutaten hatte er eh zuhause. Im Keller war er auf den passenden Wein gestoßen, einen Pouilly-Fuissé. Doch vor den Erfolg hatten die Götter eben den Schweiß gesetzt, und vor den Genuss den Erfolg – zumindest in Delamottes Welt. Er stellte den Wein kalt und begab sich wieder ins Arbeitszimmer.
Er wunderte sich immer noch über die lange Pause, die der Täter nach dem Mord an Dorn eingelegt hatte. Sie war zwar nicht ganz so lang, wie er beim ersten Erstellen des Profils hatte annehmen müssen, aber immerhin: drei Monate lagen zwischen den Morden an dem Immobilienmakler und dem an van Bentum in Rotterdam. Delamotte hatte nach wie vor den Verdacht, dass irgendetwas – besser gesagt irgendjemand – den Uhu aufgeschreckt hatte.
Wer hat dir so einen Schrecken eingejagt, dass du auf das Morden erst mal verzichtet hast? Waren wir das? Also die Kollegen, die in deinem Fall ermitteln? – Nein, das denke ich mittlerweile nicht mehr. Es war jemand anderes, der dir zu nahe gekommen ist. Was hast du dann gemacht? Hast du dich irgendwo verkrochen, oder hast du dein Revier temporär verlassen? Bist ausgeflogen, sozusagen? – Du willst mir doch wohl nicht weismachen, du hättest gegen deinen Mordtrieb angekämpft? Und deshalb drei Monate stillgehalten?
Warum hatte der Uhu nach Ablauf seiner künstlerischen Pause ausgerechnet in Holland zugeschlagen? Warum nicht in Belgien? Das war doch auch nicht weiter entfernt. War er mit dem Land schon vertraut, hatte er gar eine besondere Beziehung dahin? Den Tontechniker Bertelinckx hatte er mit Sicherheit einige Tage lang beobachtet. Galt das auch für van Bentum und Oudwater? Fragen, die Delamotte stellen musste, ohne sie beantworten zu können – obschon er bei der Letzteren eine sehr starke Ahnung hatte.
Und dann war da die Frage, die Alvarez bei der Rückfahrt nach Marßen aufgeworfen hatte.
Warum hast du es bei diesem einen Schuss auf Bertelinckx belassen? Hugo hat ja vollkommen recht, du hattest genug Zeit, noch einmal anzusetzen. Das hast du aber nicht getan. Du bist weggelaufen. Hast du nach dem einen Fehlschuss aufgegeben? Gibst du immer so schnell auf?
Vielleicht konnte der Mord an Dr. Ernsting für ein wenig Aufklärung sorgen. Denn das Motiv für diese Tat lag für Delamotte nun ganz offen.
Die Verfolgung des Arztes kann dir nicht leichtgefallen sein. Manni sagt, er muss gut und gerne 200 Stundenkilometer drauf gehabt haben. Selbst wenn dein Auto das schafft – für dich muss es eine Tortur gewesen sein. Trotzdem hast du es gewagt. Nur, weil du dein Versagen vor der Kirche in Holland irgendwie wiedergutmachen wolltest.
War diese Unfähigkeit, mit seinem eigenen Versagen umzugehen, die treibende Kraft im Leben des Uhu?
Du hast irrsinnige Angst vor dem Versagen, nicht wahr? Hast du in einem ganz wichtigen Moment deines Lebens versagt? Und kannst dich dem nicht stellen? Hast du eine Aufgabe nicht erledigen, eine Rolle nicht ausfüllen können, obwohl du das von dir erwartet hattest? Und alle anderen vielleicht auch?
Und wenn ich schon mal dabei bin, dir in den Arsch zu treten… Du bemühst dich krampfhaft darum, ruhig zu wirken, cool, abgeklärt. Aber deine Abgeklärtheit ist nur eine Pose. Sobald etwas dazwischen kommt, sobald etwas nicht so läuft, wie du erwartet hast – dann ziehst du den Schwanz ein, wie vor der Kirche, oder handelst absolut unbedacht, wie ein paar Stunden später bei dem Arzt.
Schon bei Fischer war der Uhu, aus welchen Gründen auch immer, ins helle Licht der Straße getreten. Hatte er noch andere, ähnliche Momente erlebt wie vor der Westerkerk? Hatte er bereits potentielle Opfer im Visier gehabt, an die er dann nicht rangekommen war? Delamotte fiel das einzige weibliche Opfer ein – hatte der Uhu sie vielleicht als Ersatz für jemand anderen ermordet?
Und warum dann die Rückkehr nach Marßen, nach seinem Gastspiel in Holland? Sicher, der Täter mochte mit der Stadt viel besser vertraut sein, und der Fluchtweg vom Tatort kürzer. Aber war das alles? Delamotte kam ein anderer Gedanke: in der Ferne musste der Uhu sich eine Bleibe suchen – das kostete Geld. Und falls es doch ein Jobverlust war, der schlussendlich den Tötungstrieb in ihm ausgelöst hatte – dann ging ihm das Geld womöglich langsam aus.
Es gab noch frustrierend viele offene Fragen. Warum war dieser Mörder so sehr auf selbständige Angehörige der Mittelschicht fixiert? Welche Rolle spielte der Autobahnring? Delamotte war überzeugt, dass der Uhu seine potentiellen Opfer auf dem Ring identifizierte. Das bedeutete aber auch, dass er regelmäßig auf allen Teilstücken des Rings unterwegs gewesen sein musste. Wer machte sowas? Und Peschs Hinweis auf die geografische Verteilung der Morde kam dem Psychologen wieder in den Sinn. Er glaubte immer noch nicht, dass die Lage der Tatorte für den Mörder irgendeine Bedeutung gehabt hatte. Höchstens als Spielerei, dachte er. Aber war der Uhu ein Spieler?

Delamotte scrollte durch das Profil – all die Kommentare, die er in den letzten Stunden hinzugefügt hatte, würde er noch in den Text einbauen müssen. Er landete ganz oben, in der Zusammenfassung. Auf mindestens 40 hatte er vor knapp drei Monaten das Alter des Uhu geschätzt. Aber da war noch was, Delamotte suchte mit den Augen das Whiteboard ab. Schließlich fand er den Post-it mit der Aussage Gustav Hanelts, überliefert durch dessen Witwe: „Er dürfte noch kein Rentner sein“.
Damit hatte der Elektriker im Ruhestand seine Verblüffung darüber ausgedrückt, dass ein fremder Mann mehrmals seinen Weg gekreuzt hatte. Auch am helllichten Tag, wenn eigentlich nur Rentner an manchen Orten unterwegs waren. Oder Arbeitslose, fiel Delamotte ein. Und sicher, der Prozentsatz der Rentner unter Männern um die Vierzig dürfte wohl vernachlässigbar niedrig sein.
Aber hatte Hanelt den Satz denn wirklich so gemeint? Wäre der unbekannte Mann – den Delamotte definitiv für den Uhu hielt – irgendwo knapp über Vierzig gewesen, hätte der Satz dann nicht ganz anders klingen sollen? „Er müsste um die Zeit doch auf der Arbeit sein“, oder „Er kann ja noch kein Rentner sein“. Was, wenn Hanelt den Satz mit einer ganz anderen Betonung gesagt hatte: „Er dürfte noch kein Rentner sein“?
Abermals suchte Delamotte das Whiteboard ab. Er haderte mit sich selbst, die alten Hinweise, die bereits ins Profil eingeflossen waren, hätte er schon längst entsorgt haben können. Da war es. „Ungefähr im Alter wie Karlheinz“, hatte Manuela Sötenich den Fremden beschrieben, der ihr seinerzeit aufgefallen war. Karlheinz Sötenich war zum Zeitpunkt seiner Ermordung Anfang Fünfzig gewesen.
Du bist noch älter, als ich ursprünglich gedacht hatte – mindestens um die Fünfzig.
Der Umstand widersprach vielem, das Delamotte über Serienmörder gelernt hatte.
Warum fängt so ein alter Sack wie du mit dem Ermorden von Menschen an?

Delamotte schob die Tonpfanne in den Backofen. Er hatte in Scheiben geschnittene Steinpilze und Kartoffeln sowie Zwiebelringe abwechselnd nebeneinander geschichtet, mit gehackter Petersilie und geriebenem Knoblauch bestreut, mit Salz und weißem Pfeffer abgeschmeckt, einen Becher Creme fraiche hinzu gegeben und den Pecorino darüber gerieben.
Dann goss er sich ein Glas von dem burgundischen Weißwein ein und setzte sich an den Küchentisch. Was nun vor ihm lag, fiel ihm alles andere als leicht. Er hätte diese Episode gerne verdrängt. Verdrängung konnte manchmal ein Lösungsansatz sein, aber nicht in diesem Fall. Er musste sich stellen, musste reflektieren, was mit ihm geschehen war vor ein paar Tagen, in diesen kurzen Momenten im Flur von Brittas Wohnung.
Was er empfunden hatte, als da dieser fremde Mann in Brittas Wohnungstüre stand – das war Eifersucht gewesen und noch etwas mehr. Delamotte hatte sich wie in einem furchtbaren Albtraum gefühlt. Dabei hatte natürlich eine Rolle gespielt, dass dieser Mann sportlich war und schlank und mindestens einen halben Kopf größer als Delamotte selbst. Ja, gestand er sich ein, er war schon mal selbstbewusster gewesen, sein Selbstwertgefühl als Mann war in den letzten Jahren im gleichen Maße nach unten gegangen wie sein BMI nach oben. Vielleicht, dachte er, war das ein Grund gewesen, weshalb er Sonjas manchmal recht offenkundige Manipulationen so lange hingenommen hatte.
In Brittas Gesellschaft hatte er sich fast von Beginn an wohlgefühlt. Delamotte hatte in ihr eine sehr gute Nachbarin, eine kluge Gesprächspartnerin und mittlerweile so etwas wie eine in Freundschaft verbundene Vertraute gefunden. Dass beide in einer ähnlichen Lebenslage steckten, hatte dabei natürlich geholfen. Doch in den kurzen Augenblicken an jenem Abend hatte sich gezeigt, dass Delamottes Empfindungen Britta gegenüber weit über diesen Wohlfühlfaktor hinausgingen.
Er dachte etwas weiter zurück, an ihre Begegnung am Aufzug, die gemeinsame Fahrt in die Tiefgarage. Es war ihm zum ersten Mal klargeworden, wie gut Britta aussah. Und nein, widersprach er einer bösartigen Stimme in seinem Kopf, es war nicht nur der Blick auf ihren hübschen Hintern gewesen. Der natürlich auch, gab er zu. Ja, bei dieser Begegnung hatte er Britta nicht als Nachbarin wahrgenommen, sondern als Frau. Er hatte sie begehrt – besser gesagt: seitdem begehrte er sie.
Aber es war keinesfalls reine Begierde, die ihn antrieb. Wäre es das gewesen, hätte der Anblick von Theo in Brittas Türe ihn nicht derart aus der Bahn geworfen. Er wäre enttäuscht gewesen, gewiss. Doch eine reine Affäre war definitiv nichts, was er anstrebte. Eine alberne Bettgeschichte, das war ihm klar, würde all das an Vertrauen und Verständnis, das sich in den letzten Monaten zwischen Britta und ihm entwickelt hatte, irreparabel beschädigen.
Einerseits. Andererseits: war er denn überhaupt schon bereit für mehr? Nicht einfach für mehr als eine Affäre, das auch, aber vor allem: für mehr als die Freundschaft, die er für Britta empfand und sie ganz offensichtlich auch für ihn. So sehr er sich wünschte, es wäre anders – die Antwort lautete natürlich ganz eindeutig nein. Die Wunden, die Sonja ihm zugefügt hatte – über diese Erkenntnis seinerseits würde Ali sich freuen, dachte er – diese Wunden waren noch viel zu frisch und viel zu tief. Und daran änderte auch der Umstand nichts, dass er, Markus Delamotte, Sonja Mense vielleicht genauso tiefe Wunden geschlagen hatte. Love is a battlefield, wie Pat Benatar gesungen hatte. Hardy hatte das Lied oft gehört.
Wenn er sich jetzt schon auf eine Beziehung einließe, dann würde er Britta – so sie denn überhaupt interessiert wäre – in die Rolle einer Pflegerin drängen. Eine Frau, deren Wunden vielleicht ebenfalls noch liebevoller Pflege bedurften. Er hatte unendliche Erleichterung verspürt, als Nicky aus der Küche gekommen war und die ganze Situation sich aufgelöst hatte. Aber Delamotte musste sich einigen Tatsachen stellen.
Britta war seine Nachbarin – sicher auch eine Freundin, eine Vertraute – aber sie war nicht seine Gefährtin. Sie schuldete ihm genauso wenig wie er umgekehrt ihr. Ihretwegen Eifersucht zu empfinden, stand ihm nicht zu. Dazu hatte er kein Recht. Aber was wäre wenn? Was, wenn Britta tatsächlich einen neuen Mann kennenlernen würde? Sich verlieben würde? Oder auch einfach nur begehren würde? Käme Delamotte damit klar?
Er setzte das Weinglas auf den Tisch – ein wenig zu fest, fast dachte er, er würde das Glas zerbrechen. Delamotte wollte von der letzten Frage nichts wissen – die wahrscheinliche Antwort machte ihm Angst.

„Meine Güte, ich hätte nie gedacht, dass es so viele Schützenvereine in Marßen gibt“, sagte Henseler.
Lüttges bestätigte: „Ich auch nicht – aber wir haben bis jetzt zwei Drittel angesprochen, den Rest schaffen wir heute.“ Und bislang waren die Verantwortlichen auch durchweg kooperativ gewesen.
Nun ja: fast durchweg. „Viele haben uns die Daten schon zukommen lassen“, erklärte Henseler, „aber einer der Vereine verlangt einen Gerichtsbeschluss. Sonst wollen sie die Daten nicht rausrücken.“
Pesch wollte wissen, um welchen Verein es sich handelte. Henseler antwortete: „Bürgerlicher Schützenverein Amicitia. Die sitzen irgendwo in Leitenberg.“
Pesch kannte den Verein: „Ich wäre beinahe selber mal dort gelandet – ein Kollege hat mir damals den Verein empfohlen. Ziemlich hochnäsiges Volk – viele hohe bis höchste Landesbeamte, auch einige hohe Tiere der Kommunalbehörden.“ Manche Polizeibeamten gehörten laut Peschs Kenntnis ebenfalls zu den Mitgliedern. „Und ein paar Leute, die sich irgendwie gefährdet fühlen“, ergänzte der Hauptkommissar. Er wandte sich Maas zu: „Was machen die Fotos?“
Die Kommissarin erwiderte: „Sind inzwischen alle da, die analogen Bilder sind eingescannt worden. Mit Niclas‘ Hilfe haben wir mein Büro entsprechend ausgestattet, mit großem Monitor und Diashow-Software auf meinem Rechner. Wir können gleich loslegen, wenn du magst.“
Pesch nickte zufrieden: „Ihr drei könnt ja schon mal rübergehen – ich habe noch einen Anruf zu erledigen und komme dann auch.“
Während Lüttges und Henseler sich auf den Weg in Mannis Büro machten, um die restlichen Schützenvereine und Schießstandbetreiber anzurufen, begaben sich Maas, Marino und Delamotte in ein kleines Zimmer im parallel gelegenen Gang. Auf dem Schreibtisch befand sich ein überraschend großer Flachbildmonitor. Delamotte hatte nicht erwartet, derartiges im Polizeipräsidium zu finden. Vier Bürostühle standen nebeneinander ein paar Schritte vom Schreibtisch entfernt.
„Sieht ja fast wie ein Home Kino aus“, scherzte Marino.
„Erwarte bloß keinen Abenteuerfilm“, antwortete Maas.
„Wie viele Fotos haben wir denn überhaupt anzuschauen?“, fragte Delamotte.
„Fast 1.500“, erwiderte Jutta, „und die von sehr unterschiedlicher Qualität. Die meisten bereits mit Digitalkameras gemacht, manche mit Fotohandys, aber etwa ein Viertel waren noch analog und mussten eben eingescannt werden.“
Pesch gesellte sich hinzu. Delamotte wollte wissen, ob sie die Bilder in einer bestimmten Reihenfolge sehen würden.
Maas verneinte: „Die Diashow läuft in zufälliger Reihenfolge ab – sonst könnte es passieren, dass wir die Bilder von Sötenich oder Fischer bereits vergessen haben, wenn wir bei Becker oder Hanelt ankommen.“ Jedes Foto würde 20 Sekunden lang angezeigt werden – Delamotte übte sich im Kopfrechnen und erkannte, dass sie bis in die Abendstunden beschäftigt sein würden.
Die drei Männer nahmen Platz, Marino schaltete auf Maas‘ Bitte das Licht aus. Die Kommissarin startete das Programm und setzte sich ebenfalls. Fehlte nur noch der Löwe von MGM, dachte Delamotte.
Eine sommerliche Mittelgebirgslandschaft erschien auf dem Monitor, kurz darauf gefolgt von Gustav Hanelt im Garten. Dann eine Gruppe von Männern, offenbar am Rand eines Sportplatzes, vor einem Grill. An der Seite erkannte Delamotte Silvio Fischer, im Hintergrund eine Reklametafel der Agentur Sümmermacher. Alle zwanzig Sekunden ein neues Bild.
Klaus-Dieter Dorn an einem Marktstand, im Gespräch mit mehreren Personen. Ein Mann auf Schlittschuhen in einer großen Eishalle, er vermutete van Bentum. Oder einen Bekannten van Bentums, das Gesicht des niederländischen Architekten war Delamotte nicht mehr geläufig. Geschäfte in der Fußgängerzone, das konnte die Barbarossastraße sein. Alle zwanzig Sekunden ein neues Bild.
Fans in einem Fußballstadion, blau-gelbe Schals hochhaltend. „Das ist im Schaerfeld“, hörte er Pesch sagen. Drei Männer in einem asiatischen Restaurant, Delamotte erkannte keinen davon. Eine Seemöwe auf einem Strandkorb, vermutlich aus dem Umfeld eines der holländischen Opfer, dachte er. Alle zwanzig Sekunden ein neues Bild.
Der Psychologe hatte inzwischen Zweifel, ob sie mit dieser Methode etwas erreichen konnten. Eine Gruppe älterer Damen beim Minigolf – wo gehörten die denn hin? Sötenich und ein Mitarbeiter beim Streichen einer Wand. Ein Ausflugsschiff am Anleger Hohenzollernufer – Delamotte erinnerte das an einen Ausflug mit Sonja, ein halbes Jahr nach seiner Anstellung im Dezernat. Alle zwanzig Sekunden ein neues Bild.
Anita Becker Arm in Arm mit ihrem Lebensgefährten an einem Strand, Delamotte erkannte den Strandkorb von vorhin. Also keines der holländischen Opfer, dachte er. Ein großes Blumenbeet, es sah fast aus wie im Bliesfelder Schlosspark. Ein offenkundig weiblicher Hintern in knappen Hotpants, samt einem Ansatz sonnengebräunter Beine. Allgemeine Heiterkeit im Raum – mehr solcher Bilder und sie würden zumindest wachbleiben. Alle zwanzig Sekunden ein neues Bild.

Bis zur Mittagspause hatten sie die Diashow dreimal angehalten. Jedes Mal hatte Marino Alarm gegeben. Das erste Mal bei einem grauhaarigen Mann, der auf einem Gruppenbild schräg hinter Oudwater gestanden hatte. Er ähnelte dem grauhaarigen Fan auf einem der Stadionfotos, an den Marino sich erinnert fühlte, bestenfalls oberflächlich. Auch im zweiten Fall, einem dunkelhaarigen Mann in blauem Overall, hatte nur diese Farbkombination Marinos Klingel läuten lassen. Als sein Kumpel das dritte Mal angeschlagen hatte, war Pesch genervt aufgesprungen: „Bitte, Claudio, nicht schon wieder!“ Aber Delamotte hatte Marino verteidigt, genau für diesen Zweck saßen sie doch da, und die beiden wie aus der Zeit gefallenen Typen mit Anzug und Hut hatten sich tatsächlich geähnelt.

Auf dem Gang trafen sie Lüttges und Henseler. „Wir sind bald durch – nach dem Essen werde ich die restlichen Vereine ansprechen, und Niclas kann schon mal die Auswertungen vorbereiten“, sagte Manni.
Pesch hatte einen Tisch im Kara Deniz reserviert; der kurze Spaziergang zu dem türkischen Restaurant würde ihnen nach der stundenlangen Diashow gut tun, ebenso wie ein schmackhaftes Mittagessen. Henseler erklärte, dass er die Excel-Arbeitsmappen in eine Datenbank überführen würde; Naebers hatte ihm das schon im Vorjahr mal beigebracht.
Delamotte wandte sich an Maas und Marino: „Von wem sind eigentlich diese ganzen Fotos auf dem Minigolfplatz?“
Maas kannte die Antwort: „Die sind von Hanelt. Eine der Frauen auf den Bildern ist seine Gattin.“
Beim Betreten des Restaurants blickte Delamotte schnell auf seine Armbanduhr. Sie hatten noch zwei Durchgänge mit Fotos vor sich. Der Tag würde lang werden.