„Wie ihr sicherlich erkennt, haben wir hier eine Karte von Marßen“, erklärte Delamotte, „und übrigens vielen Dank für dieses Programm, Niclas, das ist echt genial.“
Henseler freute sich erkennbar – er war von allen Anwesenden zweifellos am Computer affinsten, und jederzeit bereit, den etwas älteren Kollegen ein paar Tipps zu geben.
Auch Pesch, Marino, Lüttges und Maas blickten interessiert auf das Bild, das der schon ziemlich altersschwache Beamer an die Wand warf.
„Im folgenden werden wir uns auf die Hauptverkehrsadern konzentrieren“, fuhr Delamotte fort, „also die Autobahnen, die Zubringer, die beiden Magistralen, den Militärring und den Boulevard. Die beiden Letzteren allerdings nur der Vollständigkeit halber, sie spielen in diesen Betrachtungen keine große Rolle.“
Delamotte drückte die rechte Maustaste. Ein Teil des Straßennetzes wurde in blau angezeigt, fast komplett in den außerhalb des Parkgürtels gelegenen östlichen Stadtteilen. „Hier haben wir die Strecken, die Sötenich typischerweise gefahren ist“, dozierte der Psychologe, „sein Bewegungsprofil ist uns allen, denke ich, schon ziemlich geläufig.“ Seine Zuhörer bestätigten nickend. „Wir haben hier vor allem den östlichen Autobahnring zwischen Dreieck Sonnenthal und Dreieck Heppel, etwas die Vier Richtung Osten, auch die Drei. Der Rest ist vernachlässigbar.“
Der nächste Klick, das nächste Bewegungsprofil. „Fischer“, erläuterte Delamotte die rot hervorgehobenen Verkehrsadern, „war zum einen natürlich im Südwesten unterwegs, zwischen Vossem und Beyel. Das verwundert nicht.“ Er ging zur Wand und verwies auf einige andere Linien: „Er war aber auch viel im Osten unterwegs – vor allem auf dem Ring zwischen Beyeler Brücke und Dreieck Raggerscheid, und auch auf der Drei zwischen Heppel und Rott.“
„Was hat er denn da getrieben?“, fragte Pesch.
„Die meisten seiner Kunden wohnen dort“, erklärte Delamotte. „Seine Führungskraft bei der Versicherung hat mir das erklärt; der Südwesten, da wo Fischer wohnte, gehört – so hat der Mann das wirklich genannt – einer großen Agentur. Sümmermacher. Da, wo Fischer vor seiner Selbständigkeit als Angestellter war. Als Fischer dann seine eigene Agentur bekam, gab es einen Deal mit Sümmermacher. Die Versicherung übertrug Fischer eine gewisse Menge unbetreuter Kunden, aber eben außerhalb von Sümmermachers Revier. Alle Kunden, die Fischer hier unten im Südwesten hatte“ – er zeigte auf Beyel und Umgebung – „hat er selber akquiriert.“ Der Psychologe sah seinen Kollegen an, dass das Versicherungswesen für sie eine fremde Welt war. Ihm selber war es im Gespräch mit Fischers Vertriebsleiter nicht anders gegangen.
Mit dem nächsten Klick holte er Dorns Profil auf die Wand. „Donnerwetter“, entfuhr es Marino, „der war ja fast überall unterwegs!“
Delamotte nickte: „Stimmt, Dorn hatte von allen Opfern wohl den größten Radius – kein Wunder, er war einer der führenden Immobilienmakler der Stadt.“ Mit dem Finger zeichnete er in dem Gewirr grüner Linien eine besondere Strecke nach: „In den letzten zwei bis drei Jahren wird er am regelmäßigsten diese Strecke gefahren sein.“ Delamottes Finger fuhr in einem Halbkreis den Autobahnring entlang: „Hier, von Raggerscheid nach Teligrath.“
„Warum gerade Teligrath?“, fragte Maas.
„TeleCity“, antwortete Delamotte, „Dorn betreute dort einige große Gewerbeimmobilien, und war laut Frau Schröder auch an der Vermarktung der Erweiterung beteiligt.“ Sein Finger zeichnete eine denkbare Alternativroute des Maklers an: „Je nach Verkehrslage mag es auch vorgekommen sein, dass er die Ost-West-Magistrale durch die Stadt genommen hat.“
Pesch blickte skeptisch: „Die ist eigentlich immer ziemlich voll, von morgens bis abends.“
„Da bleibt noch die Nacht“, warf Henseler ein, „da könnte er zumindest etliche Kilometer gespart haben.“
„Dorn war nicht das einzige Opfer, das in TeleCity zu tun hatte“, brach Delamotte die sich gerade entwickelnde Diskussion ab und klickte erneut. Auf der Karte war nun eine längere Strecke in orange markiert, die sich von Schwabstadt über Dreieck Sonnenthal nach Teligrath erstreckte. „Van Bentums Tätigkeiten in Marßen hatten auch mit der Erweiterung von TeleCity zu tun“, erklärte er. „Allerdings nicht mit den Gebäuden am Seeufer“, schränkte er ein, „die hat sein Büro dankend anderen Architekten überlassen. Holländer wissen halt, welche Probleme Wasser hervorrufen kann.“ Die Ermittler lachten; das Fiasko am Geheimratssee war allgemein bekannt, und selbst Pesch hatte sich schon mal abschätzig über die Fähigkeiten der Marßener Stadtplaner geäußert.
„Kommen wir zu Oudwater“, fuhr Delamotte fort. Die Strecken, die der LKW-Fahrer bei seinen Touren nach Marßen zurückgelegt hatte, erschienen in braun. „Mit Abstand am häufigsten fuhr er den Globus in Berschweiler an, von Eindhoven aus also hier über die Eins und Dreieck Neuheim. Seltener hatte er Fahrten zu Supermärkten im Osten, einmal hier in Sonnenthal und dann hier in Raggerscheid.“
„Aber auch bei ihm hauptsächlich der Ring“, sagte Marino. Delamotte nickte.
„Und schließlich Anita Becker“, sagte Delamotte und bemerkte sogleich, dass er nur bei dem weiblichen Opfer den Vornamen nannte.
Als ihr Bewegungsprofil auf der Wand erschien, meldete sich Maas: „Na ja, ist klar, die Fahrstrecken der einzigen Frau in lila.“
„Hätte ich vielleicht lieber rosa nehmen sollen“, erwiderte Delamotte mit einem Zwinkern.
Maas lachte: „Guter Konter.“
Der Psychologe verwies auf den unteren Teil des Profils: „Jahrelang pendelte Becker zwischen Vernay und Teligrath, über die Ost-West-Magistrale und ein Stück des Rings. Erst in diesem Jahr kam dann der Salon in Galgenwardt hinzu, also in dem Fall von Berschweiler aus nördlich auf dem Ring bis Neuheim, und ein kleines Stück Nord-Süd-Magistrale. Aufgrund der kurzen Zeit, die der zweite Salon besteht, dürfte die Strecke nach Teligrath interessanter sein.“
Der letzte Mausklick ließ die Karte sehr farbig werden. Marino stieß einen Pfiff aus, und Lüttges sagte: „Das ist mal deutlich.“ Auch die anderen Ermittler schienen ziemlich beeindruckt zu sein, besonders Pesch, wie Delamotte zufrieden bemerkte.
Er erläuterte das Bild trotzdem: „Wir sehen hier vor allem eines – die ganzen anderen Verkehrsadern, die nach Marßen führenden Autobahnen, die Zubringer, die Magistralen: alles zumeist einfarbig. Manchmal zwei, höchstens drei Farben.“
Sein Finger fuhr den bunt schillernden Kranz entlang, der sich um die Stadt herum bildete: „Aber alle Opfer waren mehr oder weniger regelmäßig auf dem Ring unterwegs, wenn auch nicht alle auf dem gleichen Teilstück.“
„Also kein Lauerjäger“, stellte Maas fest.
„Was meinst du damit?“, fragte Henseler.
„Im Tierreich“ erklärte die Kommissarin, „gibt es Prädatoren, die ihre Beute nicht aktiv jagen, sondern irgendwo auf der Lauer liegen und die Beute plötzlich überraschen. Chamäleons zum Beispiel, oder viele Spinnen.“
Delamotte war überrascht, von Maas‘ Interesse an Biologie hatte er noch nichts mitbekommen.
„Und unser Uhu“, fuhr sie fort, „liegt offenbar nicht an einer festen Stelle auf der Lauer, sondern sucht sich ganz aktiv seine Beute – auf dem Marßener Ring.“
„Wenn er denn seine Opfer auf diese Art und Weise findet“, warf Lüttges ein.
„Der Gedanke hat aber schon was für sich“, erwiderte Pesch, „auch wenn dann immer noch die Frage offen ist, wie er an die Daten seiner Opfer kommt. Bei Mölders wüssten wir das, aber der ist es ja definitiv nicht.“
„Was passiert jetzt eigentlich mit dem?“, wollte Henseler wissen.
„Na, ein Disziplinarverfahren wird es wohl geben“, antwortete Pesch, „und wahrscheinlich eine kleine Zurückstufung, vielleicht eine Vergütungsgruppe tiefer.“
Lüttges schien skeptisch: „Wenn überhaupt.“
Pesch blickte Delamotte an: „Prima Arbeit, Markus. Wir können, denke ich, schon davon ausgehen, dass unser Mann oft auf dem Marßener Ring unterwegs ist und dort auf seine möglichen Opfer aufmerksam wird.“
Delamotte ergänzte: „Eine plausible Erklärung dafür wäre, dass er im Osten der Stadt wohnt und im Westen arbeitet. Oder umgekehrt. Dann würde er zwangsläufig den Ring täglich nutzen.“
„Das stimmt“, bestätigte Pesch, „aber das Problem dabei ist: jeden Tag nutzen tausende, eher zehntausende Pendler den Ring. Selbst wenn wir die Möglichkeit hätten, durch Videoüberwachung und automatische Auswertung an die Daten der Leute zu kommen, die täglich längere Strecken auf dem Ring zurücklegen – es sind einfach zu viele.“
Der Psychologe stimmte ihm zu; zudem war er nicht sicher, ob der Uhu überhaupt noch aktiv nach möglicher Beute suchte, oder bereits einen Vorrat passender zukünftiger Opfer angelegt hatte.
Auf dem Rückweg in die Büros fragte Marino: „Warum hast du eigentlich den Arzt komplett außen vor gelassen?“
Die Erklärung fiel Delamotte leicht: „Sein Bewegungsprofil ist ein weiterer Grund, warum er nicht zu den anderen Opfern passt. Ein relativ kurzes Stück die Eins von seinem Wohnort zu seinem Arbeitsplatz. Kein bisschen Ring.“
Marino blieb stehen: „Erinnerst du dich noch an den Morgen nach dem Mord an Becker – als wir uns am Globus in Berschweiler getroffen haben?“
Delamotte nickte, natürlich erinnerte er sich.
„Das geht mir schon nahe“, sagte Marino, „wir haben uns dort an einem Ort getroffen, den eines der Opfer regelmäßig angefahren hat, im Rahmen seiner Arbeit. Und wer weiß, wie oft ich schon an Orten war, an denen jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist.“
Delamotte brauchte eine Weile, um eine Antwort zu formulieren: „Die Geschichte der Menschheit, Claudio, ist leider auch eine Geschichte der Gewalt.“
„Da sagst du was“, warf Marino ein.
„Ich betonte das Wort ‚auch‘“, stellte Delamotte klar, „fast an jedem Ort werden schon mal Menschen Gewalt erlitten haben – allein hier in Marßen, denk mal an Diktatur und Krieg. Die Bombenangriffe, die Straßenkämpfe, oder schon vorher die Verhaftungen unschuldiger Leute. Die ganze Stadt ist voll von solchen Orten.“ Er hielt einen Moment inne: „Wenn du halbwegs sicher sein willst, an einem Ort zu sein, an dem es schon lange keine Gewalttat mehr gegeben hat – dann geh in eine Kirche.“
Marino blickte verblüfft: „Machst du Witze, Alter?“
Delamotte lächelte: „Ganz und gar nicht. Selbst die übelsten aller Übeltäter haben doch meist davor zurückgeschreckt, Gewalt in einem Gotteshaus anzuwenden.“
Er drückte den Oberarm seines Kumpels: „Und noch was, mein Bester. Sieh es einmal so: genau so berechtigt ist die Feststellung, dass es kaum einen Ort gibt, an dem nicht schon mal ein Kind gelacht oder ein verliebtes Pärchen geknutscht hat.“ Marino nickte mit einem breiten Lächeln. „Die Welt ist nicht so schlimm, wie wir sie manchmal sehen“, sagte Delamotte.
Katharina Delamotte parkte ihren Alfa vor dem Haus. Als sie ausstieg, stand ihre Mutter bereits in der Haustüre, strahlend lächelnd. Wenn du wüsstest, dachte Kata grimmig. Denn sie war sauer – richtig sauer. Das durfte sie jetzt natürlich nicht direkt zeigen. Erst mal ein bisschen quatschen, und dann plötzlich und präzise zuschlagen – nicht zu hart natürlich, Kata kannte ihre Mutter. Aber es musste auf jeden Fall sein.
Von Silke Peters hatte sie die Geschichte am Vortag erfahren, ihrer in längst vergangenen Zeiten mal besten Freundin, mit der sie ab und an mal telefonierte. Meistens war es Silke, die anrief. So auch dieses Mal. Und Silke hatte die Sache durch ihre Eltern erfahren, die immer noch in der Wiesenau wohnten, nur ein paar Häuser von den Delamottes entfernt.
Unmittelbar nach diesem Gespräch hatte Kata ihren Bruder angerufen, und Markus hatte erst mal herum geeiert, wie immer wenn es um bestehende oder mögliche Konflikte ging. Schließlich hatte er Silke grundsätzlich bestätigt und nein, natürlich ließ er sich nicht unter Druck setzen. An der Stelle hatte Kata instinktiv genickt, Markus hatte sich noch nie wirklich unter Druck setzen lassen – aber er war dem Druck dann immer ausgewichen, anstatt mal standzuhalten und auf den Putz zu hauen. Das musste sie jetzt übernehmen, nicht nur für Markus, sondern auch für sich selbst; und auch für Hardy.
Aber erst quatschten sie und ihre Mutter über dies und das; und selbstverständlich hatte mal wieder irgendwer erwähnt, wie sehr Harald immer noch unter der Trennung litt. Pech für ihn, dachte Kata, sie selber hatte die Leidenszeit mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit möglichst kurzgehalten. Und den nächsten Partner, nahm sie sich vor, würde sie aus einem Personenkreis wählen, der garantiert absolut keine Berührungspunkte mit irgendwelchen Morenhovens hatte, und auch nicht mit Bliesfeld allgemein.
Als ihre Mutter auf Markus zu sprechen kam, der ja nun in der Cestonarostraße wohnte und dort Gott weiß was an Miete zahlte, und wo doch Hardy schon so weit weg wohnte und sie selber, Kata, ja auch – als läge Schwabstadt auf einem anderen Kontinent, dachte sie, und nutzte die Gelegenheit zu einer kleinen, aber keineswegs harmlosen Frage: „Sag mal, Mama, was ist eigentlich dran an dieser Geschichte, Ihr wolltet das Haus verkaufen?“
Die Verblüffung stand Hildegard Delamotte im Gesicht, und sie verplapperte sich: „Hat Markus etwa…“
Kata grinste, ein wenig gemein wie sie sich eingestehen musste, aber trotzdem: „Markus hat gar nichts gesagt. Du kennst ihn doch, er war noch nie der Typ, der ein Fass aufmacht“ – es sei denn, es wäre gefüllt mit gutem Wein, dachte Kata – „und ich habe ja auch noch andere Informationsquellen.“
„Die Wohnung Eurer Großmutter steht nun schon seit zwei Jahren leer, und wir haben sie letztes Jahr extra renoviert, als klar wurde, dass es zwischen Markus und Sonja kriselte“, versuchte sich Hildegard Delamotte zu verteidigen.
„Und dann habt Ihr Euch gedacht“, erwiderte Kata, „oder eher du hast dir gedacht, dass der Junge ja in die Wiesenau zurückziehen kann.“
„Das wäre doch für alle die beste Lösung“, sagte Hildegard, „warum soll er woanders Miete zahlen, noch dazu in so einem Mehrfamilienhaus, wo du nie weißt, wer da neben dir wohnt.“
Kata schüttelte den Kopf: „Neben Markus wohnt, was ich so mitbekommen habe, eine ganz nette junge Frau mit Kind.“
„Ja, und in Scheidung“, warf ihre Mutter ein.
Kata ging darauf gar nicht erst ein: „Und Markus ist über dreißig und lebt sein eigenes Leben, genau wie Hardy, und ich werde nächstes Jahr dreißig, Gott behüte, und Mama, falls du das noch nicht mitbekommen hast: wir sind erwachsen.“
Die Haustüre wurde geöffnet. Heinz-Paul Delamotte kam nachhause, hängte wie schon seit Menschengedenken sein Jackett auf den gewohnten Kleiderbügel an der Garderobe im Flur, und legte seine Aktentasche auf das kleine Tischchen direkt daneben. Warum hatte heutzutage überhaupt noch jemand eine Aktentasche, fragte sich Kata, als sie ihren Vater umarmte, es wurde doch so langsam eh alles digitalisiert – nun gut, im städtischen Kulturamt vielleicht noch nicht. Ihr Vater setzte sich zu den beiden Frauen an den Wohnzimmertisch.
„Stell dir vor, Heinz, unsere Tochter hat Einwände gegen unsere Pläne mit dem Haus“, sagte ihre Mutter.
„Darum geht es doch gar nicht“, widersprach Kata, „und du glaubst doch selber nicht, dass Ihr dieses Haus verkaufen werdet.“
„Es ist doch viel zu groß für uns beide“, protestierte Hildegard Delamotte.
Kata schlug vor: „Warum vermietet Ihr Omas Wohnung nicht einfach? Einen vernünftigen Mieter zu finden wird in Bliesfeld doch nicht schwer sein.“
„Das habe ich ihr auch schon mal gesagt“, murmelte ihr Vater, um gleich danach aufzustehen und das Wohnzimmer zu verlassen. Typisch, dachte Kata, als sie ihn die Kellertreppe hinuntergehen hörte – und ihr fiel auf, wie sehr ihr Bruder, eigentlich beide Brüder, auf ihren Vater kamen. Kam sie dementsprechend dann nach ihrer Mutter? Sie konnte den Gedanken nicht verdrängen; zumindest den Sturkopf hatten die beiden miteinander gemein.
„Ich will nun mal keinen Fremden hier im Haus haben“, erklärte ihre Mutter, „das hier ist ein Familienhaus – unser Familienhaus.“
Kata widersprach: „Technisch gesehen habt Ihr ein Zweifamilienhaus gebaut. Und wenn es Euch zu groß ist, dann verkauft es halt. Kauft Euch was Kleineres.“ Hildegard blickte geschockt, aber Kata war noch nicht fertig: „Aber setzt diese Option bitte nicht als Drohkulisse gegenüber Markus ein.“
Ihre Mutter wehrte sich: „Tochter, das ist nicht fair!“
Kata schüttelte den Kopf: „Wenn Ihr ernsthaft an einen Verkauf denken würdet, dann müsstet Ihr nicht nur mit Markus reden, sondern auch mit Hardy und mir – das wäre fair.“
Hildegard Delamottes Augen wurden feucht, derartigen Widerspruch war sie nicht gewohnt; zumindest seit zehn Jahren nicht mehr, seit Kata zum Chemiestudium nach Heidelberg gezogen war.
Und nun machte ihre Mutter noch einen letzten Versuch: „Dein Vater und ich, wir haben dieses Haus ja nicht für uns gebaut. Sondern für die ganze Familie, besonders für Euch.“
Kata platzte fast der Kragen: „Und was willst du damit sagen, Mama? Sollen Hardy, Markus und ich jetzt hierher zurückkommen, vielleicht in Omas Wohnung eine Geschwister-WG aufmachen? Nur weil du nicht loslassen kannst?“
Hildegard wollte etwas erwidern, aber Kata musste noch einen weiteren Gedanken loswerden: „Und nur mal angenommen, Markus und Sonja hätten sich nicht getrennt? Was dann? Ich bin seit letztem Jahr auch wieder solo, wie du weißt. Würdest du in dem Fall dann diesen Druck auf mich ausüben, damit ich in Omas Wohnung ziehe?“
Zu ihrer Verblüffung erschien ein versonnenes Lächeln in Mutters Gesicht: „Sei doch nicht so dumm, mein Kind – das wäre doch ganz was Anderes.“
Kata verstand den Hinweis nicht. „Na, du bist eine Frau“, sagte ihre Mutter, „du kommst auch alleine klar.“ Katharina Delamotte traute ihren Ohren nicht – was für einen Unterschied dreißig Jahre doch machen konnten.
Vorsichtig stellte Sabine Greven ihren Schirm vor Peschs Büro ab. Trotz des leichten Regens war sie persönlich von der Lennéstraße zum Polizeipräsidium gegangen, um dem leitenden Ermittler die neuen Erkenntnisse mitzuteilen. Sie trat ein; Pesch begrüßte sie freundlich, nach dem kurzen Telefonat hatte er Delamotte hinzu gerufen, der ihr mit der Andeutung eines Lächelns zunickte.
„Ich habe da was“, sagte sie, „das könnte Euch interessieren, auch wenn es nur ein weiterer kleiner Mosaikstein ist.“ Der Hauptkommissar nickte – jedes kleine Steinchen war in der gegebenen Situation wertvoll, dachte Delamotte, besonders für Pesch.
Die letzten Tage waren schwer gewesen, sie kamen nicht wirklich voran, und im „Marßener Tageblatt“ hatte ein Kommentator Zweifel am Vermögen der örtlichen Polizei geübt. Damit musste man rechnen, das wussten sie alle – und wenn der „Blitz“ derartige Kritik geübt hätte, wäre das sowohl an Pesch als auch am gesamten Team eher abgeprallt. Aber das „Tageblatt“? So, wie Delamotte den Hauptkommissar einschätzte, entsprach die politische Linie dieser Zeitung vermutlich am ehesten Peschs Vorstellungen. Das musste dann besonders schmerzen.
Sabine setzte sich auf den Stuhl neben Delamotte, sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche. „Wir wissen jetzt, in was dieses Hustenbonbon eingewickelt war“, erklärte sie.
Delamotte erinnerte sich an das Gespräch in ihrem Labor, und an die Buchstaben und Zahlen, die sie auf dem Scan entdeckt hatten.
„Es ist tatsächlich eine Karteikarte“, sagte Sabine, „anhand des Aufdrucks konnten wir es mit einiger Mühe identifizieren.“
Pesch nahm sich das Papier, überflog es: „Ziemlich bekannter Hersteller, deren Produkte hatten wir hier früher auch im Einsatz.“ Er überlegte einen Moment: „Na, es würde mich nicht wundern, wenn es bei manchen Abteilungen immer noch solche Karteikarten gäbe.“
„Das mag schon sein“, sagte Sabine, „aber wenn hier von diesem speziellen Produkt noch welche genutzt werden, dann höchstens im Archiv oder als Restposten. Wir haben mit dem Hersteller gesprochen – Karteikarten mit dieser Produktnummer werden seit fünf Jahren nicht mehr hergestellt. Der Vertriebsmanager, den ich am Apparat hatte, ging davon aus, dass sie auch seit mindestens drei Jahren nicht mehr im Handel sind.“
Pesch beugte sich vor und sprach Delamotte direkt an: „Was könnte uns das sagen?“
Der Psychologe hatte auf Anhieb zwei mögliche Erklärungen parat: „Gehen wir mal davon aus, dass Bonbon und Papier vom Uhu stammen. Es könnte bedeuten, dass er beruflich Zugang zu solchen Karten hat – wir alle kennen den Bürobetrieb zu Genüge, sich mal eben einen Packen Karteikarten mit nachhause zu nehmen ist keine schwere Übung und fällt nicht auf.“
„Und es passt zu jemandem, der sich die Daten von Verkehrsteilnehmern beschaffen kann, die ihm vorher aufgefallen sind“, warf Pesch ein, „ob nun bei uns, bei der Straßenverkehrsbehörde, beim Finanzamt.“
„Es gibt noch eine andere mögliche Erklärung, die zum Täterprofil passt“, sagte Delamotte. Sowohl Pesch als auch Greven blickten interessiert in seine Richtung. „Wenn ich mit dem Ansatz richtig liege“, fuhr der Psychologe fort, „dass der Uhu schon seit langer Zeit Tötungsphantasien hatte, dann könnte er diese Karteikarten auch schon seit Langem im Besitz haben. Er hat Dinge aufgeschrieben – Datum, Uhrzeit, Kfz-Kennzeichen, was weiß ich sonst noch alles – hat sie irgendwo abgelegt, die Fahrzeughalter ermittelt, sie vielleicht mal ausgekundschaftet.“
„Du spielst auf Sötenich an?“, fragte Pesch.
Delamotte nickte.
„Aber warum tötet er dann jetzt?“, wollte der Hauptkommissar wissen.
„Ein einschneidendes Erlebnis“, antwortete Delamotte, „nicht allzu lange vor dem ersten Mord. Ein schwerer Verlust, vielleicht ein Unfall, auch wenn mir die Herleitung sehr banal erschiene.“
„Manchmal liegt die Lösung eines Rätsels gerade in banalen Dingen“, widersprach Pesch. Delamotte fand unmittelbar kein Argument, dass gegen Peschs Einwurf sprach.
„Mir ist da diese Tage noch ein anderer Gedanke gekommen“, erwähnte Pesch, „wenn wir uns mal die geografische Verteilung der Morde ansehen, und dabei den Arzt außen vor lassen. Und die beiden Holländer auch.“
„Mit den holländischen Kollegen sind wir übrigens im Austausch, gleichen Dinge ab, die an den Tatorten gefunden wurden und so weiter“, warf Greven ein. Pesch dankte ihr knapp – ein wenig zu knapp, wie Delamotte empfand, aber der Hauptkommissar war gerade auf seine eigenen Gedankengänge fixiert. Das passierte ihm selber auch recht häufig, musste der Psychologe sich eingestehen.
Pesch zog eine Karte der Stadt aus einer Schublade seines Schreibtischs, entfaltete sie. „Sötenich hat er in Holzweiler ermordet, Fischer in Beyel“ – sein Zeigefinger fuhr auf der Karte südwestlich und überquerte dabei den Fluss – „dann Dorn in Neringen“ – der Finger bewegte sich wieder in nordöstlicher Richtung, abermals über den Fluss – „und zuletzt Becker in Vernay.“
Delamotte nickte, während Peschs Finger einmal quer über das Stadtgebiet wanderte, bis ganz in den Westen. Ost – West – Ost – West.
„Könnte sich dahinter ein Muster verbergen?“, fragte Pesch.
Delamotte nickte: „Das könnte sein, ja.“
„Und das nächste Opfer sucht sich der Uhu dann wieder östlich des Flusses“, mutmaßte Pesch.
„Ist durchaus denkbar“, bestätigte der Psychologe.
Im Gegensatz zu Pesch entging Sabine Greven nicht die Skepsis in Delamottes Blick. Das fand sie interessant – der Psychologe war in zwischenmenschlichen Dingen doch nicht ganz so unbeholfen, wie er bisweilen wirkte.
Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht setzte er den Blinker, gab etwas mehr Gas und fädelte mit der gebotenen Vorsicht ein. Er hatte genug gesehen und kannte nun die richtige Vorgehensweise. Sie unterschied sich nur unwesentlich von derjenigen bei mehreren früheren Zielpersonen.
Dabei hatte dieser Mann es ihm zu Beginn verdammt schwer gemacht. Ihn aufzufinden war harte Arbeit gewesen, viel schwieriger als bei den meisten anderen. Der Computer hatte sich mal wieder als ein Segen erwiesen – und er hatte neue Wege gelernt, dem Computer die Antworten zu entlocken, die er suchte. Knifflig, ziemlich knifflig. Aber er hatte es geschafft.
Der Rest war Routinearbeit gewesen, auch wenn ihn überrascht hatte, dass dieser Mann in seinen täglichen Gewohnheiten nicht ganz so festgefahren war, wie er nach Auswertung der Computerergebnisse erwartet hätte. Aber jeder Mensch hatte seine Schwachstellen, wusste er – nun gut, fast jeder, der Langweiler fiel ihm ein, er hatte ihn verschont weil so ein Langweiler seiner selbst nicht würdig war. Rasch drängte er diese unangenehme Erinnerung auf Seite.
Den Medien hatte er entnommen, dass die Polizei jetzt auch einen Psychologen auf ihn angesetzt hatte. Aber das sorgte ihn nicht. Gewiss, sein erster Therapeut hatte ihn ein wenig geängstigt, er hatte die Therapie nach ein paar Sitzungen abgebrochen. Leider konnte er es sich nicht leisten, die Behandlung komplett zu verweigern. Aber er hatte einen anderen Therapeuten gefunden, einen jungen Kerl, so ahnungslos wie harmlos. Dieser Polizeipsychologe war wohl auch noch recht jung – vermutlich also keine Herausforderung für ihn. Und es reichte ja auch, dass die Polizei ihm einmal Angst eingejagt hatte; und diese Angst war völlig überflüssig gewesen.
Nach kurzer Fahrt fuhr er von der Autobahn ab. Seine Stimmung war gut. Ein paar Tage musste er sich noch gedulden. Er würde diese Tage schon zu nutzen wissen. Den Schießstand hatte er schon länger nicht mehr aufgesucht, fiel ihm ein.
„Nimmst du mich mit?“ Sofort erkannte Delamotte die helle Stimme hinter sich und ja, er freute sich sehr, sie zu hören. Marino hatte ihn eingeladen, irgendein neuer Italiener hatte am Robert-Blum-Platz aufgemacht. Lissy verbrachte das Wochenende bei ihrer Schwester in Hamburg, und allein zuhause fiel Claudio Marino rasch die Decke auf den Kopf. Und Delamotte hatte an diesem Freitag auch noch nichts vorgehabt, und ein Abend mit Marino konnte selbst dann amüsant sein, wenn sie zumindest hin und wieder auf den Beruf zu sprechen kamen.
Am späten Nachmittag hatte Delamotte – rein zufällig – akustisch mitbekommen, dass Timmy von seinem Vater abgeholt wurde. Radi selbst hatte er nur einmal kurz getroffen, zwei Wochen zuvor, als der das letzte Mal seinen Sohn für ein Wochenende in Empfang genommen hatte. Brittas Ex hatte Delamotte ein wenig kritisch angeschaut, vielleicht hatte Britta ihm bereits von ihrem neuen Nachbarn erzählt, oder eher noch Timmy. Und Delamotte hatte ein bisschen mit dem Mann gefühlt.
Er drehte sich um, der Lift war eh gerade auf dem Weg nach unten und bis er wieder im vierten Stock landen würde konnte noch dauern. Und es verschlug ihm nicht direkt die Sprache, aber mehr als ein „Hallo“ brachte er nicht über die Lippen. So wie in diesem Augenblick hatte er Britta noch nie gesehen.
Sie hatte sich zurechtgemacht, dezent geschminkt, Delamotte erkannte Kajal, ein wenig Rouge und einen unaufdringlichen Lippenstift. Gekleidet war sie verblüffend figurbetont, in einem sommerlichen Top und einer leichten Lederjacke. Darunter trug sie einen Minirock und recht hohe Pumps, die es ihm ermöglichten, ihr direkt in die Augen zu schauen.
„Nanu, auf dem Weg zu einer Party?“, fragte er.
Britta lachte: „Nee, du, ich gehe mit zwei von den Mädels aus der Kanzlei aus. Da soll es so einen alten Tanzschuppen in Baassem geben, die beiden kennen ihn schon.“
Delamotte kannte ihn auch, wenn auch nur dem Namen nach, in der Corrida Bar hatten schon seine Eltern geschwoft.
„Und wohin bist du unterwegs?“, fragte Britta, als sie bereits im Aufzug standen.
„Treffe mich mit Claudio zum Abendessen, er hat da einen neuen Italiener entdeckt“, antwortete Delamotte.
„Schade“, sagte Britta, „sonst hätte ich dich jetzt zum Tanzen ausgeführt.“
Er schüttelte den Kopf: „Lass mal lieber, ich und tanzen, das passt gar nicht.“
Britta grinste: „Das würden wir dir schon beibringen, die Mädels und ich.“
Der Lift kam im zweiten Untergeschoss an, Brittas Stellplatz lag im linken, Delamottes im rechten Teil der Tiefgarage. Sie verabschiedeten sich, Delamotte schaute ihr hinterher. Sein Blick blieb an ihrem Hintern hängen, und er schämte sich darob kein bisschen.
Als sein Xsara durch den Tunnel unter dem Parkgürtel fuhr, stellte Delamotte fest, dass er die ganze Zeit über an Britta gedacht hatte. Kein Wunder, dachte er – wenn seine liebe Nachbarin es darauf ankommen ließ, konnte sie verteufelt knusprig aussehen. Er musste sich rasch korrigieren; Britta sah generell verteufelt knusprig aus – nur war ihm das bisher völlig entgangen.
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