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Tag #953: Du siehst müde aus

Mit dem "Montagsinterview" der taz nord vom 30. Mai 2011 wurde die ganze Seite 23 bedruckt. Befragt von Maximilian Probst wurde der Hamburger Germanist Leonhard Fuest zum Thema "Literatur als Heilmittel gegen die Verzweiflung der Melancholie".

Dieser Text "Werdet Zwerge!" ist kostenlos auch im Archiv der Digitaz zu lesen, und ich finde es immer wieder überraschend, wie kurz so ein Text auf einer Webseite ist, der in der Zeitung nach so viel ausgesehen hat. Man liest im Netz offenbar mehr Text, als einem gewahr wird.

Dafür lockt so eine Zeitung mit Haptik, Layout und mehr Fotos. (Und schwarzen Fingern.. ;-) ) Vor allen Dingen aber ist eine Zeitung ohne Gerät lesbar, und so konnte es passieren, dass es jenem Text über "Melancholie oder Utopie" gelang, mich zu erreichen, als ich draußen im Garten in der Sonne sitzend verweilte.

Tags zuvor hatte mich in einem Moment der Desillusionierung selber die Melancholie erwischt, ohne dass ich mir dessen gewahr wurde. "Deine Augen sehen traurig aus" beobachtete meine Liebste, und "Du siehst müde aus" noch am nächsten Tag meine Mutter. Den Zusammenhang mit meinem häufigen Sinnieren über Utopien erkannte ich nicht selbst.

Eigentlich war es das Foto in der Druckfassung des Interviews, das mich ansprach. (Wie so oft, fehlt es auf der Webseite. Fast immer sind in der Digitaz ja andere Fotos als im Print -- bei diesem Text war dort sogar gar kein Bild.) Die leuchtenden Augen des Interviewten, der laut Überschrift "über die dunklen Seiten des Lebens" schreibt und hier "ein Gespräch über das tägliche Grauen" führt -- sie waren so unmelancholisch.

Absurderweise habe ich mir die Seite aus der Zeitung ausgerissen, um dann später nach einem Fragment daraus zu googlen und den gefundenen Text dann online zu lesen. Er wirkt online so viel kürzer, so dass man ihn dort ganz lesen kann. Online lesen ist man außerdem gewohnt, während man trotz gleicher Textmenge eine ganze Zeitungsdruckseite zu lesen kaum noch schafft. Das Netz ist das führende System geworden, der Print nur noch Werbung für Netzlocations. Ich find's prima, denn Netzartikel kann man verlinken. Zeitungsartikel hingegen schmeißt man weg. Netz heißt Wissen archivieren und teilen. Print ist bloß Konsum.

Netz heißt aber auch: kopieren. Es heißt die Hoheit abgeben über die Verbreitung der Daten. Ein Urheberschutzrecht muss es geben, ein Verbreitungsschutzrecht aber nicht. Kopieren ist das Wesen des Netzes, und deswegen will ich nun auch dem erwähnten Text zu Ehren aus ebendiesem hier hemmungslos zitieren. Es geht um Melancholie. Meine Melancholie.

taz: Herr Fuest, was verstehen Sie unter Melancholie?

Leonhard Fuest: Erstmal ist der Begriff konnotiert mit radikaler Traurigkeit und Mattigkeit, Suizidalität. Und es gibt diesen Gedanken, dass der Melancholiker der enttäuschte Utopist ist. Der Melancholiker leidet daran, dass sich das, was er von der Welt erhofft hat, nicht realisieren lässt.

Die moderne Übersetzung der Melancholie ist Depression. Was halten Sie davon?


Nichts. An die Depression knüpft sich ein ganz anderer Diskurs. Nach Baudelaire ist die Melancholie die "erlauchte Freundin der Schönheit". Man muss die Melancholie mindestens ästhetisch lesen, man kann sie philologisch und philosophisch lesen, aber natürlich auch politisch.

Wieso politisch?

Der Melancholiker ist der Widerständige. Er ist ein unruhiger Geist, er begnügt sich nicht.

Wie wird man Melancholiker?

Vor allem über die Beobachtung der Welt, beispielsweise das Konsumieren der Medien. Das bedeutet: tägliche Konfrontation mit dem Grauen. Zeitung lesen heißt, an den Rand des Abgrunds treten.

Aber es gibt doch manchmal auch Freudiges zu vermelden.


Ja, aber am Ende läuft es doch hinaus auf das Problem des Nicht-Fertig-Werdens mit jenen Grausamkeiten und Dummheiten, die die Welt zu regieren scheinen.

Was also tun?

Da wird es schwierig. Der Melancholiker ist ja einer, der ein gestörtes Verhältnis zur Tat hat. Der Melancholiker schätzt die Unermesslichkeit des Wissens. Die aber verhindert die Tat, weil dazu immer die Entscheidung nötig ist, das Urteil, jetzt genug zu wissen.

Es gibt für den Melancholiker gar keine Lösung?

Doch, über das Schreiben. Obwohl auch hier gleich eine Einschränkung kommen muss: Denn kein Schreiber, und schon gar nicht wir im 21. Jahrhundert, könnte behaupten, dass sein Schreiben jemals etwas Wesentliches verändert hätte.

Das letzte Wort soll der Melancholiker haben?

Das auch nicht, denn das Letzte und Beste, was man sich selbst und seiner Sicht auf die Welt angedeihen lassen sollte, ist das Gelächter. Das Pathos, die Larmoyanz, all das, was die Melancholie ausmacht, das hat man naturgemäß zu korrigieren über den Witz. Sich selbst ernst nehmen ist die größte Katastrophe, die man sich leisten kann im Leben. Daran krankt ja die halbe Welt.


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Eine schöne Botschaft: Melancholie ästhetisch lesen -- sie über den Witz korrigieren -- sich selbst nicht ernst nehmen. Aber weiter über Utopien sinnieren.

Ich werde jedenfalls weiter meine Augen aufmachen. Nicht zu. Weiter nachdenken.

Auch wenn es immer wieder schmerzt.