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Tag #869: Das neue Bremer Wahlrecht

Am (glaube ich) 15. November 2010 war ich auf einer Veranstaltung in (glaube ich) einer Turnhalle einer Schule in Bremerhaven, auf der im Kontext einer sog. "Stadtteilkonferenz Wulsdorf" ein (glaube ich) Abgeordneter der Bremer Bürgerschaft das neue Bremer Wahlrecht vorstellte, das er (glaube ich) mit entwickelt und verantwortet hat. Er (den Namen weiß ich nicht mehr -- da hilft auch kein Glaube ;-)) tourte (glaube ich) damals durch etliche Veranstaltungen in Bremen und Bremerhaven und präsentierte in aufwendigen Folien und Beispielen das neue Wahlrecht bis ins letzte Detail. Ich hatte leider keinerlei Notizen gemacht, weil gehofft, dass man in Anschluss irgendwann auch Informationen dazu im Internet finden würde.

Weit gefehlt. Bis heute, weit mehr als 4 Monate danach, bin ich nicht in der Lage, die entsprechenden Informationen zu ergooglen, ertwittern oder erfacebooken. Sie sind einfach nicht da. Oder vielleicht sind sie es inzwischen doch, aber ich habe aufgegeben. Es ist auch egal, denn ich kann mich trotzdem daran erinnern, was ich als wichtigste Information mitgenommen hatte, nämlich dass es einen enormen Unterschied macht, ob man die Kandidaten auf den vorderen Listenplätzen per Listenstimme oder per Kopfstimme wählt.

Und das geht so: Wenn z.B. 70% der Stimmen Kopfstimmen sind, dann werden auch 70% der Mandate allein nach Reihenfolge der Kopfstimmenanhäufung vergeben, und erst die anderen 30% nach der Reihenfolge auf der Liste. Ist der Kopfstimmenanteil niedriger, werden entsprechend mehr Leute von der Liste berücksichtigt. Wählt man also z.B. den Spitzenkandidaten per Kopfstimme, weil der auf den Plakaten so schön lächelt, und einem die anderen Namen nichts sagen, dann erhöht das den Kopfstimmenanteil, schwächt also den Einfluss der von den Parteien aufgestellten Listenreihenfolge.

Gerade die hinteren Plätze auf der Liste kriegen aber viele Mitleids-Kopfstimmen, und auch lustige Namen werden leicht mal bevorzugt. Jede Kopf-statt-Listenstimme für den Spitzenkandidaten verdrängt also mittlere Listenplätze, was gar nicht im Interesse der Parteien ist, die deshalb in der Regel parteiintern auch jeglichen Kopf-Wahlkampf (z.B. einzeln auf Plakaten zu sehende Kandidaten abseits des Spitzenkandidaten) strikt verbieten. Es ist aber sehr im Interesse der Wähler, denn endlich fallen solche Listenkandidaten raus, die sich nicht selber um Wähler bemühen, sondern nur um parteiinterne Karriere. Das ist der ganze Sinn des neuen Wahlrechts!

Umso verwunderter war ich, als gestern die Artikel Wahlleiter unter Beschuss in der taz online (gedruckt heute in der taz bremen) und Die Tücken des neuen Wahlrechts im Weser-Kurier erschienen waren. Der taz-Artikel beschreibt die heftigen Angriffe der Grünen auf den Landeswahlleiter anlässlich des Artikels im Weser-Kurier. Ich verstehe beide Artikel nicht. Der Weser-Kurier schreibt: "Umgerechnet auf das viel kleinere Bremen mit etwa einem Drittel an Wahlberechtigten würde das bedeuten: Bei einem annähernd so populären Spitzenkandidaten wie Scholz könnten 200 bis 250 Wähler genügen, um für die Partei ins Parlament einzuziehen. Zum Vergleich: Nach dem alten Wahlrecht repräsentiert jeder Abgeordnete in der Bremischen Bürgerschaft ungefähr 6000 Wahlberechtigte."

Hä? Kann mir das jemand erklären? Nach dem alten Wahlrecht konnte man doch überhaupt keine Personen wählen! Allenfalls über die Erststimme, die eine einzelne Personen (pro Wahlkreis) an der Landesliste vorbei mit einem Mandat versehen konnte (was dann zu Überhangmandaten führen konnte, wenn eine Partei zu viele Wahlkreise gewonnen hatte). So hatte ich das jedenfalls immer verstanden. Der Satz im Weser-Kurier ist aber dennoch komplett unsinnig. Auch die taz zitiert den Weser-Kurier: "Die per Volksbegehren durchgesetzte Novelle habe zur Folge, das 'Personenstimmen nicht unbedingt auch dieser Person zugute kommen', sagte Wayand da. Dadurch würden 'andere profitieren, die der Wähler gar nicht will.'"

Nochmal hä? Doch, der Wähler, der dem Spitzenkandidaten Kopf-statt-Listenstimmen gegeben hat (man hat ja fünf), der hat beabsichtigt, dadurch zugleich auch hintere Listenplätze vor die mittleren zu verschieben, da er seine Stimmen bewusst als Kopfstimmen vergeben hat, um die Reihenfolge der vergebenen Mandate in Richtung eines stärkeren Einflusses durch die Kopfstimmen der anderen Wähler zu verschieben. Denn wenn er das nicht gewollt hätte, dann hätte er ja Listenstimmen vergeben! Die Aussage des Landeswahlleiters war vermutlich nur, dass das nicht jeder weiß! Wahrscheinlich hat der Weser-Kurier nur (wie immer) scheiße berichtet.

Dann müssten die Grünen aber den Weser-Kurier kritisieren und nicht den Landeswahlleiter. Aber wahrscheinlich ist das nur ein wahltaktisches Manöver. Mit dem Vorwurf an den Landeswahlleiter, sich angeblich gegen die wählerwillenstärkende Kopfstimmenvergabe ausgesprochen zu haben, wollen sie wohl den Eindruck erwecken, sie stünden für mehr Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung. Gerade die Grünen stehen in Bremen gerade dafür aber NICHT.

Ob der dumme Weser-Kurier-Leser das blickt?