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Eine Lampengeschichte

von Gerda

Vor langer, langer Zeit gab es einmal viele Lampen. Sie waren alle Geschwister, da sie aus der gleichen Fabrik kamen. Die Fabrik war wie Vater und Mutter für die Lampen und versorgte sie ständig mit Strom und die Legende sagt, dass sie so hell leuchteten, dass es im ganzen Universum keine dunkle Stelle gab. Sie erfreuten sich an der Helligkeit und auch die Fabrik erfreute sich an dem, was sie geschaffen hatte.
Eines Tages jedoch fing eine Lampe an zu denken und sie dachte, ob es nicht doch vielleicht etwas Besseres gäbe als diese Stromzufuhr. Da der Strom auf höchster Stufe lief, konnte sie ihn nur verändern, indem sie ihn zurückdrosselte. Die Lampen waren so erschaffen worden, dass dies in ihrer Macht stand und so drosselte sie die Zufuhr leicht herab. Die anderen Lampen sahen, dass das Licht der einen Lampe schwächer wurde und sie fürchteten sich. Was hatte das zu bedeuten? Und auch sie fingen an zu denken. Was hatte diese Lampe vor? Wollte sie sich vielleicht wichtig machen oder wollte sie gar die anderen ausspionieren? Weil diese heller waren, konnte man sie besser sehen. Also schraubten auch die anderen Lampen nach und nach die Stromzufuhr zurück.
Die Lampe, die zuerst den Strom zurückgeschaltet hatte, fühlte sich mittlerweile schlecht, denn sie war erschaffen worden, im hellsten Licht zu erstrahlen. Da sie glaubte, der Strom sei noch zu hoch, drosselte sie ihn weiter zurück. Die anderen, nun misstrauisch geworden, taten es ihr gleich. Sie hatten angefangen, sich gegenseitig zu beobachten und es entstand Angst, Neid und Missgunst. Es wurde immer dunkler. Die Zeit verging und die Geschwister hatten bald nur noch eine sehr vage, verschwommene Erinnerung an ihren natürlichen, hellen Zustand, und dass sie Geschwister waren, hatten sie gänzlich vergessen. Dann kam es, dass vollkommene Finsternis herrschte. Die Lampen hatten vergessen, dass sie Lampen waren und warteten im Dunkeln darauf, aus ihrer Angst und ihrem Vergessen erlöst zu werden.
Endlich - eines Tages - flammte ein kleiner, zaghafter Lichtschimmer in der Dunkelheit auf. Die Neugier hatte über die Angst gesiegt. Da die Lampe den Strom nicht noch weiter zurückdrosseln konnte, tat sie das Einzige, was ihr zu tun übrig blieb - sie drehte ihn ein wenig höher. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, dass sie sich gleich besser fühlte. Sie räusperte sich und fragte, noch ein bisschen heiser nach dem langen Schweigen:
„Warum sitzen wir eigentlich alle im Dunkeln?“
Stille! Dann:
„Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber wenn du schon fragst - vielleicht ist es gemütlicher so.“ schlug eine etwas zaghafte Stimme vor.
„Ja, und man fühlt sich sicherer“, entgegnete eine andere.
„Vielleicht auch deswegen, weil man dann den Dreck nicht sieht.“ meldete sich eine andere Lampe und es war nicht auszumachen, ob sie es ironisch meinte.
„Was heißt hier man! Wen meint ihr mit man?“ brummte eine griesgrämige Stimme dazwischen.
„Wäre es in diesem Fall nicht besser, wenn wir den Dreck, falls es welchen gibt, sehen würden. Dann könnten wir doch etwas dagegen tun.“ fuhr die erste Lampe, ohne den Zwischenruf zu beachten, fort.
„Was hätten wir denn davon? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“ konterte eine andere und musste über diese ungewollte Zweideutigkeit kichern.
„Ja“, übernahm eine andere das Wort, „wenn wir heller wären, würden wir dann nicht verbrennen?“
Aufgeregtes Gemurmel war aus allen Ecken zu hören.
„Was wäre, wenn wir in dem helleren Schein entdecken würden, dass es nur etwas zu entdecken gibt, nämlich - nichts!“ bemerkte eine andere mutig.
„Ja“, überlegte eine sanfte Stimme, „ich konnte mir im Dunkeln so farbige und schöne Dinge ausmalen. Wenn das alles nur Illusionen waren? Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke!“
„Oder es ist vielleicht schrecklich langweilig“, ergänzte eine andere.
„Aber womöglich sind die Dinge, die wir im hellen Licht sehen, noch schöner“, wandte eine andere hoffnungsvoll ein.
„Und wer garantiert mir das?“ fragte eine skeptische Stimme.
„Siehst du nun, was du angerichtet hast? Wer weiß, was jetzt noch alles passiert, und das ist deine Schuld!“ versuchte eine Lampe ihre unguten Gefühle auf die erste Lampe abzuwälzen.
„Bleib friedlich, meine Liebe“, erwiderte die erste Lampe verständnisvoll. „Ich verstehe dich ja. Ich hatte auch Angst, sonst wäre ich nicht so lange im Finstern sitzen geblieben.“
„Jetzt willst du mir wohl auch noch unterstellen, ich hätte Angst“, reagierte die Angesprochene wütend, weil sie sich ertappt fühlte. „Ich habe keine Angst. Ich will nur meine Ruhe haben, aber das ist hier anscheinend nicht mehr möglich.“
Sie schniefte indigniert.
„Ich fühle mich jedenfalls besser, wenn ich heller bin.“ sagte die erste Lampe ungerührt und drehte den Strom noch höher.
Erschrockene Warnschreie ertönten von allen Seiten, aber die erste Lampe ließ sich nicht einschüchtern. Sie machte die anderen Lampen neugierig mit ihrem immer heller werdenden Licht. Vorsichtig drehte mal hier, mal da eine Lampe den Strom etwas an, bekam Angst und drehte ihn wieder zu, aber einige von ihnen hatten genug Mut und ihr Licht blieb an. Die, die ihrem Beispiel folgten, erkannten, dass sie selbst die Verantwortung für ihren jetzigen Zustand trugen, und sie konnten sich in dem helleren Schein als Geschwister wiedererkennen. Und hatte es nicht vor langer Zeit eine Elternfabrik gegeben? Wo war das gewesen und wie hatte es sich angefühlt, zu Hause zu sein? Vielleicht konnten sie durch den helleren Schein den Heimweg finden; den Heimweg zur Elternfabrik, von der sie in Wirklichkeit nie getrennt gewesen waren, außer durch ihren eigenen Willen...
Noch viele Lampen sitzen im Dunkeln, haben Angst und verstehen nicht, dass es nur ihr eigener Wille ist, der sie von der Helligkeit fernhält. Die Lampen, die wieder die volle, oder fast volle Stromzufuhr zulassen können, haben durch die Qualen und Ängste der Dunkelheit erkannt, dass sie nur in hellem Licht glücklich sein können. Sie haben erkannt, dass sie alle durch den gemeinsamen Lebensstrom Geschwister sind, gleichgültig ob ihre Lampenschirme rot, braun, schwarz, weiß oder gelb sind.
Und wie ist es mit dir, liebe Lampe? Sitzt du noch immer im Dunkeln, fühlst dich allein und verlassen und fürchtest dich? Drehe doch den Energiestrom ein wenig höher! Die Elternfabrik existiert noch immer und du bist mit ihr verbunden. Ich verrate dir auch wie die Stromzufuhr heißt - Liebe! Wie die Elternfabrik heißt, musst du schon selbst herausfinden!

Ich liebe dich, mein Bruder, wer immer du auch seiest - ob du in einer Kirche betest, in einem Tempel kniest oder in einer Moschee Gott verehrst. Du und ich, wir sind beide Kinder eines Glaubens. Die mannigfaltigen Pfade der Religion entsprechen den Fingern der einen liebenden Hand des einen höchsten Wesens. Diese Hand streckt sich nach allen aus, bietet allen die Vollendung des Geistes an und ist begierig, alle zu umschließen.
Khalil Gibran

1 comment

Elbertinum said:

die Geschichte gefällt mir - Das Buch 'Der Prophet' von Khalil Gibran liebe ich sehr :-)
10 years ago ( translate )