Der Weihnachtsbaum
von Gerda
Wir haben die Welt vergiftet: tote Fische in toten Gewässern, sterbende Bäume in sterbenden Wäldern. Wir haben die Welt geplündert: Vergeudung der Rohstoffe, Verschwendung der Nahrungsmittel in den reichen Ländern und bitterstes Elend bei den Armen.
Die Welt: eine Wüste. Wer wird sie retten? Nicht die Generäle, nicht die Politiker, nicht die Technokraten! Die "Welt-Wüste" kann nur gerettet werden durch "Oase-Menschen". Menschen mit einem neuen Bewusstsein für die Werte, die uns durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt geraubt wurden. Nicht andere Menschen, sondern veränderte Menschen. Menschen, die einfacher, zufriedener, menschlicher leben.
Mitten in der Wüste wächst die Oase.
Oase-Menschen machen keine Revolution.
Oase-Menschen sind die Revolution.
~ Phil Bosmans
Es war kurz vor Weihnachten, und es ging darum, den Weihnachtsbaum zu besorgen, als sich die Tochter des Hauses zum ersten Mal querstellte. Sie liebte die Natur und wollte keinen gefällten Weihnachtsbaum in der Wohnung. Ihr Vater versuchte, sie zu beschwichtigen:
„Da ist doch nichts dabei. Schließlich werden die Tannen speziell zu diesem Zweck gezüchtet.“
„Ach so, und das entschuldigt wohl alles“, sagte sie schnippisch. „Dann kannst du sie ja ruhig nach drei Wochen wegschmeißen. Was würdest du sagen, wenn man das mit dir machen würde?“ fragte sie entrüstet.
„Das ist doch etwas ganz anderes“, erwiderte der genervte Vater.
„Wieso?“ hielt ihm die Tochter entgegen. „Was ist anders? Der Baum lebt und du lebst. Es geht doch um das Leben. Wie kann man da Unterschiede machen? Hat der Wal mehr Anrecht auf Leben als ein Veilchen, weil er größer ist? Oder das Veilchen, weil wir finden, dass es besser riecht?“
Sie ereiferte sich immer mehr.
„Wenn ich euch nicht mehr in den Kram passe, könnt ihr mich ja auch gleich wegschmeißen. Nach welchen Kriterien wird hier eigentlich das Recht auf Leben definiert?“
Der Vater fragte sich überrascht, wie sie an diese Ausdrucksweise kam. Sie war erst 15 Jahre alt, und er mochte keine altklugen Kinder. Wie kam er sich da als Erwachsener vor! Sie schaute den Vater herausfordernd an.
“Ich verstehe nicht, warum ihr Erwachsenen nicht einsehen könnt, dass das Leben an sich heilig ist. Nicht einmal die gescheitesten Menschen dieser Erde haben eine genaue Vorstellung davon, was das Leben eigentlich genau ist. Ich habe manchmal schlimme Träume; Träume von der Vernichtung unserer Lebensgrundlagen. Ich sehe mich mit einer Gasmaske, weil wir die Luft nicht mehr atmen können; das Wasser können wir nicht mehr trinken; die künstliche Nahrung macht uns alle krank, und ich habe Angst, dass das, was geschieht, vielleicht bald nicht mehr zu reparieren sein wird.“
Nachdenklich schwieg sie einen Moment.
„Und das alles wegen eines Weihnachtsbaums!“ stöhnte der Vater, trotzdem war er beeindruckt.
Was dieses Kind für Ideen hatte.
„Es geht ja nicht nur um den Weihnachtsbaum“, wandte sie ein. „Es ist die allgemeine Respektlosigkeit dem Leben gegenüber, die mir Angst macht. Hier ist es der Weihnachtsbaum, da Tierversuche und Massentierhaltung. Hier die Wälder im Amazonas und da die Nordsee. Irgendwo müssen wir doch anfangen umzudenken. Wie, glaubst du, ist uns jungen Menschen zumute? Ihr habt euer Leben ja schon zum größten Teil gelebt.“
„Moment mal, junges Fräulein“, unterbrach der Vater indigniert ihren Redefluss. „So alt bin ich nun auch wieder nicht!“
Er liebte es gar nicht, wenn man sein Alter erwähnte.
„Ist ja auch egal“, fuhr sie fort. „Es macht mich nur wütend, dass ihr nicht an unsere Zukunft denkt. An all den Dreck und die zerstörte Natur, die ihr uns hinterlasst.“
„Ich glaube, jetzt übertreibst du aber“, sagte er irritiert. „Außerdem bist du noch nicht großjährig und hast nicht zu bestimmen, was hier im Haus geschieht. Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, wirst du wohl tun müssen, was ich bestimme, hast du verstanden? Wenn du dein eigenes Geld verdienst, kannst du es halten, wie du willst.“
Wenn der Vater mit diesem Thema anfing, war es besser für sie, den Mund zu halten. Sie gab sich für den Moment geschlagen, und für den Vater war die Diskussion hiermit beendet. Er hatte schon länger zugehört, als das sonst seine Art war, und der Weihnachtsbaum wurde gekauft. Schließlich hatten schon die Großeltern und die Eltern ihren Tannenbaum gehabt, und folglich konnte doch nichts falsch daran sein.
Trotzdem, die Eltern hatten Mühe, sich von der aufmüpfigen Tochter nicht das Weihnachtsfest verderben zu lassen. Anklagend ließ sie immer wieder ihre Blicke zwischen dem Baum und ihren Eltern hin-und hergehen.
„Hoffentlich wirft niemand euch weg, wenn ihr alt und nicht mehr zu gebrauchen seid!“ murrte sie vor sich hin. „Wenn wir so anfangen, können wir ja gleich alles wegschmeißen.“
Bei jeder Gelegenheit bekamen die Eltern die philosophischen Ergüsse ihres Teenagers über den Kopf und sie waren fast froh, als sie den Stein des Anstoßes, der in diesem Fall ein Baum des Anstoßes war, aus dem Wohnzimmer entfernen konnten. All die Jahre vorher stand er mindestens 3 Wochen im Zimmer; die Mutter liebte seinen Geruch und die vielen farbigen Lichter, mit denen er geschmückt war. Die Wohnung bekam dadurch so etwas Romantisches, fand sie. Dieses Jahr hatte sie jedoch einen Konflikt - die Tanne oder die Tochter! Sie und ihr Mann entschieden sich für einen Kompromiss. Der Vater würde die Tanne dieses Jahr nicht zersägen und in die Mülltonne werfen, wie er es sonst immer tat. Die Bemerkungen der Tochter hatten mehr Spuren hinterlassen, als er sich eingestehen mochte. Eigentlich hatte er noch nie über solche Dinge nachgedacht. Da muss eine 15-Jährige daherkommen, um einen 40-Jährigen zum Grübeln zu bringen, dachte er leicht frustriert, doch nicht ohne Bewunderung. Sie war schließlich seine Tochter. Vielleicht hatte sie nicht so ganz Unrecht mit dem, was sie sagte. Schließlich sind wir alle verantwortlich für das, was auf der Welt geschieht, und wir können es doch nicht ewig immer nur auf andere schieben, dachte er einen erleuchteten Moment lang. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit genauer darüber nachzudenken.
Schon nach einer Woche entschieden sie gemeinsam, den Baum in den Garten zu stellen. Hier in der Kälte würde er sich bestimmt länger halten, als in dem geheizten Wohnzimmer. Nachdem sie ihn abgeräumt hatten, befestigten sie Futterringe für die Meisen an seinen Ästen und konnten vom Küchenfenster aus das lustige Treiben der putzigen Tierchen beobachten. Die Tochter verbuchte es als Teilsieg, dass die Tanne dieses Jahr nicht direkt in die Mülltonne wanderte. Der Weg beginnt mit dem ersten Schritt, dachte sie, denn das hatte sie gerade irgendwo gelesen. Da die Tanne eine Silbertanne von guter Qualität war, hatte sie fast alle Nadeln behalten, trotzdem dachten die Eltern mit Schrecken an den Moment, wenn sie kahl sein würde und sie sie entfernen müssten.
Das letzte Wort sollte jedoch die Tanne behalten. Als die Tochter eines Tages in den Garten ging, um neue Futterringe für die Meisen aufzuhängen, stieß sie einen Freudenschrei aus. Sie rannte zu ihrer Mutter in die Küche und rief:
„Mami, Mami, komm schnell!“
Sie zog ihre Mutter in den Garten, und als sie vor dem Tannenbaum standen, zeigte sie aufgeregt auf ein paar kleine Wurzeln, die sich am unteren Ende des Stammes gebildet hatten. Eine Wurzel hatte sich sogar schon in die Erde gebohrt. Der Mutter fiel ein Stein vom Herzen.
„Bitte, bitte, Mami“, bettelte die Tochter, „lass mich den Baum in unseren Vorgarten pflanzen.“
Natürlich hatte die Mutter keine Einwände, aber der Vater hatte schließlich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Als der Vater am Abend nach Hause kam, zog ihn die Tochter noch im Mantel in den Garten. Sie zeigte ihm begeistert die Wurzeln, und der Vater konnte nicht anders, als seine Zustimmung zur Verpflanzung zu geben.
„Ich glaube, die Natur ist doch stärker als die Dummheiten, die wir Menschen machen“, sagte er leise und ungewöhnlich berührt und legte den Arm um seine Tochter.
„Ja, aber wir dürfen uns nicht zu sehr darauf verlassen“, warnte die Tochter. „Ich denke, dass wir unseren Beitrag leisten müssen, denn schließlich sind wir Menschen doch auch ein Teil der Natur.“
„Dann fangen wir jetzt eben mit unserem Baum an“, lächelte der Vater versöhnlich. „Er wird das Symbol für den Anfang unseres Umdenkens sein.“
Am Wochenende pflanzten sie mit viel Liebe und guter Erde den Weihnachtsbaum in den Vorgarten ihres gepflegten, kleinen Reihenhauses und nahmen sich vor, ihn jedes Jahr für Weihnachten festlich zu schmücken. Sie hatten ihn so platziert, dass sie ihn vom Wohnzimmer aus sehen konnten, und die Mutter kam auf diese Weise auch auf ihre Kosten. Sie konnte die farbigen Lichter so oft ansehen, wie sie wollte, und der herrliche Tannenduft hielt sich draußen das ganze Jahr über und nicht nur 3 Wochen. So hatte die Tanne die Diskussion auf ihre Art beendet, und bald sollte sie ihre Dankbarkeit dadurch beweisen, dass sie der schönste Baum aus der ganzen Gegend wurde.
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Wir würden vor dem Glühwürmchen ebenso ehrfürchtig stehen wie vor der Sonne, wenn wir nicht an unsere Vorstellungen von Gewicht und Maß gebunden wären.
~ Khalil Gibran
3 comments
Gerda said:
Gerda said:
Elbertinum said:
Eine gute Geschichte :-)