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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 28
Das Bild auf dem kleinen Monitor neben der Wohnungstür überraschte ihn. „Vierter Stock, und dann rechts den Gang entlang“, sagte Delamotte und betätigte den Türöffner.
Kurze Zeit später sah er die wuchtige Gestalt Hans-Jakob Peschs den Aufzug verlassen. „Ich hoffe, du hast ein bisschen Zeit für mich“, sagte der Hauptkommissar, der offensichtlich mit dem Motorrad gekommen war. „Ich brauche deinen Rat.“
Delamotte bat ihn rein und führte ihn ins Wohnzimmer. Er hatte gut gefrühstückt, sich dabei ein paar Gedanken über Osterfeld gemacht, und danach ein paar Mails gelesen. Ausgeruht war er auf jeden Fall, und bereit sich Peschs Sorgen anzuhören. „Nimm Platz“, sagte er.
Pesch ließ sich in einen der Sessel fallen und fragte: „Hast du was zu trinken?“
„Klar“, antwortete der Gastgeber, „wonach steht dir der Sinn? Tee? Kaffee?“
„Ich dachte eher an etwas Alkoholisches“, erwiderte Pesch mit einem etwas verlegenen Lächeln.
Delamotte überlegte: „Ich könnte einen Wein aus dem Keller holen, einen eher leichten Weißen zum Beispiel.“
Pesch schüttelte den Kopf: „Hast du auch was Stärkeres da?“
„So schlimm?“, fragte Delamotte und lächelte. Der Hauptkommissar nickte. Delamotte nahm den Pierre Ferrand aus dem Schrank und goss zwei Cognacschwenker ein.
„Worum geht’s denn?“, fragte er, nachdem er die beiden Gläser auf den Tisch gestellt und sich in den anderen Sessel gesetzt hatte.
„Mich lässt diese Sache mit dem Schützenverein nicht los“, erklärte Pesch und nahm einen Schluck Cognac. „Ich habe das Ding richtig vermasselt. Wir hätten den Namen Osterfeld schon viel früher auf dem Schirm haben können. Ein kurzes Gespräch mit Ludes, ein Gerichtsbeschluss – voila, wir hätten einen weiteren Meisterschützen identifiziert. Das war der Kerl nämlich, ich habe gestern Abend noch mit dem Vorsitzenden des Vereins gesprochen. Übrigens ein Kollege von uns. Der hat Osterfeld sogar mal vorgeschlagen, für den Verein bei Meisterschaften anzutreten. Wir hätten ihn schon längst kennen können, verdammt!“
„Und dann?“ Delamottes Zwischenfrage schien Pesch zu verwirren.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
Der Psychologe ging in die Details: „Nur mal gesetzt den Fall, Osterfeld wäre irgendwo auf Henselers Liste der Meisterschützen aufgetaucht. Was hätte uns das gebracht? Im Prinzip nichts.“ Er trank selber etwas Cognac, bevor er fortfuhr: „Diese Geschichte mit dem Unfall hätten wir nicht erfahren, denn erstens war das nicht hier in Marßen und zweitens schon vor verdammt langer Zeit. Und von seiner Suspendierung hätten wir auch nichts mitbekommen. Verdammt, der Typ ist Beamter. Sein Dienstherr hätte uns damals nicht so ohne weiteres mitgeteilt, dass der Mann disziplinarische Probleme hat. Und die Personalakte dann einfach so über einen Gerichtsbeschluss bekommen? Du hast doch gesehen, wie dieser Richter in Brandenburg gezickt hat, und da ging es um einen früheren Stasimann. Und dann geh hier mal zu einem Richter und sag ihm: ‚Wir hätten gerne die Personalakte eines Oberstudienrats, denn der ist ein exzellenter Pistolenschütze und wir denken er könnte der Uhu sein‘. Nicht mal Ludes oder Hamacher kämen mit so einer Nummer durch.“
Pesch hatte sich ein Stück weit beruhigt, aber der Fehler nagte dennoch an ihm: „Ich hätte trotzdem was tun müssen. Immerhin, ich bin der leitende Ermittler in diesem Fall, ich hätte diesen Verein weiter auf dem Schirm haben müssen.“
Delamotte erinnerte sich an eine Begegnung mit Pesch im Kleinen Theater zu Bliesfeld, vor einigen Jahren. „Gibst du jetzt den König Peter aus ‚Leonce und Lena‘?“
Hans-Jakob Pesch stutzte einen Moment, lachte dann schallend und zitierte Büchners Duodezfürsten: „Der Mensch muss denken, und ich muss für meine Untertanen denken. Denn sie denken nicht. Sie denken nicht.“
„Wolltest du sowas andeuten?“, fragte Delamotte und lachte ebenfalls.
„Nein, nein, ganz bestimmt nicht, entschuldige bitte“, bekräftigte Pesch, „so ein Denken liegt mir fern.“
„Wir alle hätten dran denken können, und haben’s nicht getan“, erklärte der Psychologe, „wir hatten einen vorrangigen Verdächtigen, der hieß Brückner, der sah passend aus. Und überhaupt: wenn einer nie Fehler macht, dann macht er wahrscheinlich gar nichts. Und damit den schlimmsten Fehler von allen.“
Pesch nickte. Die beiden Männer schwiegen eine Weile. „Was machst du aus diesem Familienfoto, das wir dort im Müll gefunden haben“, wechselte Pesch schließlich das Thema.
Delamotte brauchte etwas Zeit für die Antwort: „Nun, die Frau dürfte seine frühere Partnerin sein, und die Jungs seine Kinder. Soweit scheint mir die Sache einfach. Aber wenn die drei bei einem Unfall getötet worden sind: warum hat er das Bild dann weggeworfen?“
„Das wundert mich auch die ganze Zeit“, bestätigte Pesch.
Der Psychologe präzisierte seine Gedanken: „Wenn er das Bild schon vor langer Zeit weggeworfen hätte, kurz nach dem Unfall. Weil es schmerzhafte Erinnerungen in ihm auslöst. Weil es ihn belastet. Das würde ich verstehen. Aber warum jetzt?“
Pesch versuchte sich an einer Erklärung: „Vielleicht wollte er nicht, dass wir es finden, und hat dann vergessen, den Papierkorb zu leeren. Ich meine, nach den Morden an Strack und Bussmann – Osterfeld musste klar sein, dass wir zwangsläufig auf seinen Namen stoßen würden.“
Delamotte überzeugte dieser Ansatz nicht: „Dann stellt sich die Frage aber anders: warum hat er vergessen, den Papierkorb zu leeren? Oder generell das Bild nachhaltiger zu entsorgen. So wie den Computer. Denn da bin ich sicher: den hat er gründlich verschwinden lassen, weil er Angst hatte, dass wir auf dem Gerät was finden. Etwas, das wir nicht finden sollen.“
Er goss Cognac in beide Gläser nach. Pesch seufzte: „Wir haben jetzt einen Namen, aber immer noch verdammt viele offene Fragen.“
Delamotte nickte und hob sein Glas: „Sonst wäre es ja auch langweilig. Zum Wohl!“ Sie stießen an und kippten den Cognac runter – wieder so ein Männerritual, dachte der Psychologe, man konsumierte gemeinsam Alkohol und löste die Probleme dieser Welt.
„Übrigens, Osterfeld hat eine Waffenbesitzkarte“, erwähnte Pesch, „auf der sind ganz offiziell zwei Pistolen eingetragen. Die können aber beide nicht die Tatwaffe der Morde sein.“
„Haben wir die beiden Pistolen in seiner Wohnung gefunden?“, fragte Delamotte.
„Leider nein“, antwortete Pesch, „also ist der Kerl jetzt höchstwahrscheinlich mit drei Schusswaffen unterwegs. Mindestens.“ Er stand auf. „Vielen Dank für deine Zeit und deinen Rat“, sagte er, „und natürlich für den exzellenten Cognac.“
Delamotte begleitete seinen Gast zur Türe. „Pass auf, dass du in keine Kontrolle gerätst“, warnte er ihn.
Pesch lachte: „An einem Samstagvormittag? Wohl kaum.“ Er trat in den Korridor, drehte sich nochmal um: „Jutta und Claudio befragen gerade die Nachbarn, vielleicht kommt dabei noch was rum.“ Dann huschte ein Eindruck von Erinnerung über sein Gesicht: „Und einen wichtigen Punkt hätte ich jetzt fast vergessen. Du hattest ja von Beginn an vermutet, etwas haben den Uhu nach den ersten drei Morden aufgeschreckt. Ich glaube, ich weiß auch, was das war. Zwei Tage nach dem Mord an Dorn gab es ganz in der Nähe, in einer Parallelstraße, eine große Razzia. Irgendwas wegen Drogenhandel. Das gewaltige Polizeiaufgebot könnte er auf sich bezogen haben.“
Delamotte nickte: „Das macht Sinn. Er haut erst mal ab, beobachtet die Situation aus der Ferne, und kehrt erst zurück, als ihm klar wird, dass nicht er das Ziel dieser Aktion war.“ Manche Rätsel lösten sich irgendwann von selber.

„Markus, was kann ich für dich tun?“ Dr. Reinhard Schultes schien aufrichtig erfreut darüber zu sein, mal wieder mit seinem früheren Kollegen Markus Delamotte plaudern zu können. Als einer der beiden leitenden Psychiater am Klinikum Grafschaft Altenstein hatte er den Werdegang Delamottes eine Zeitlang begleitet und auch danach noch verfolgt. Delamotte hatte sein allererstes Praktikum in Altenstein unter der Führung von Schultes absolviert, und nach dem Diplom an dessen Abteilung als Therapeut gearbeitet. An den Erfahrungen aus Delamottes Zeit in Amerika hatte Schultes in vielen persönlichen Gesprächen partizipiert.
„Es geht um einen Mann, der kurzzeitig Patient bei dir war“, erklärte Delamotte und nannte den Namen Leo Osterfelds.
„Ich erinnere mich an den Mann, auch wenn ich ihn maximal zwei oder drei Male gesprochen habe“, antwortete Schultes. „Wenn du so direkt nach ihm fragst, gehe ich davon aus, dass die Polizei ein Interesse an ihm hat. Und dass das Verhältnis zum Patienten von Vertrauen geprägt sein soll, brauche ich dir bestimmt nicht zu erklären.“
Delamotte hatte mit solchen Einwänden gerechnet. „Um es mal aus zwei verschiedenen Perspektiven zu betrachten, mein Lieber“, sagte er, „einerseits – ohne jeden Druck auf dich ausüben zu wollen – bedürfte es sicherlich nur zweier Telefonate, um einen richterlichen Beschluss zur Herausgabe der Patientenakten zu bekommen; sowohl deiner als auch die deines Nachfolgers als Osterfelds Therapeut.“
„Er hat es doch noch mal mit einer Therapie versucht?“, fragte Schultes sichtlich überrascht.
„Das musste er“, erwiderte Delamotte, „sein Dienstherr hat entsprechend Druck gemacht.“
„Den du jetzt auf mich ausübst“, sagte Schultes.
„Nein, ganz ehrlich, das tue ich nicht“, wehrte sich Delamotte, „denn andererseits, um meinen Gedanken von vorhin zu Ende zu führen, haben wir genug harte Beweise gegen Osterfeld. Auf Patientenakten können wir zum aktuellen Ermittlungsstand verzichten. Das hat im Zweifelsfall Zeit bis zu einem etwaigen Strafverfahren gegen ihn.“
„Und was erwartest du dann von einem Gespräch mit mir?“, fragte Schultes.
„Ich will ihn näher kennenlernen“, sagte Delamotte.
Schultes überlegte eine Weile: „Ich hatte zuletzt gelesen, dass du an dieser Uhu-Geschichte dran warst.“ Sein Gesprächspartner reagierte nicht auf diesen Einwurf.
Es dauerte, bis Schultes wieder etwas sagte; fast schien es Delamotte, er könne den erfahren Therapeuten denken hören.
„Ich habe mir den Vorgang gerade mal gezogen – einer der Vorteile dieser ganzen Computertechnik. Man kommt recht schnell an Informationen, wenn man weiß, wie man suchen muss.“ Schultes ergänzte: „Wie ich eben schon sagte, es gab ein Vorgespräch Mitte Mai letzten Jahres, die Sache hatte eine gewisse Dringlichkeit, den Grund wirst du wissen. Osterfeld hat also sehr rasch einen Termin bekommen. Wir vereinbarten einen zweiwöchentlichen Turnus. Das erste Therapiegespräch wäre Anfang Juni gewesen – dem Termin ist er gleich mal unentschuldigt ferngeblieben. Da hätte ich am liebsten schon einen Schlussstrich gezogen – es gibt ja schließlich genug Patienten, die auf eine Therapie warten.“
Ein kurze Pause, Delamotte ahnte, dass sein Gesprächspartner einen Schluck Tee trank. Schultes hatte Delamotte vor Jahren mit den verschiedensten Teesorten vertraut gemacht. „Wir haben dann noch einen Anlauf gemacht. Osterfeld erschien zu den nächsten beiden Terminen, am 18. Juni und am 2. Juli. Das nächste Gespräch hat er telefonisch abgesagt. Ein paar Tage später kam dann eine Email, hier, am 24. Juli – adressiert an einen Thomas Bussmann, das muss sein Chef sein, und mich. Kurz und knapp gehalten. Osterfeld meinte, er sähe in der Therapie keinen Sinn, halte sie für überflüssig, er sei schließlich geistig und seelisch völlig gesund.“
Noch ein Schluck Tee. „Auf Bitten von Herrn Bussmann…“ Schultes stockte, bevor er fragte: „Ist das nicht der, der die ganze Zeit in den Nachrichten ist? Der ermordete Schulleiter?“ Delamotte brauchte nicht zu antworten; er hörte, wie Schultes die Erkenntnis mit einem lauten Durchatmen verarbeitete. „Also, Herr Bussmann bat mich um eine Stellungnahme. Die habe ich abgegeben. Natürlich bedurfte Herr Osterfeld einer Therapie, das war auch nach zwei Sitzungen schon unübersehbar“, fuhr er fort, „wobei mir das Ausmaß dieser Bedürftigkeit damals natürlich nicht klar war. Mein Gott!“
„Wenn du dich an Osterfeld erinnerst“, sagte Delamotte, „und dabei das ignorierst, was dir gerade klar geworden ist – welchen Eindruck hat er auf dich gemacht?“
Schultes antwortete überraschend schnell. „Kontrolliert. Sehr kontrolliert. Fast schon möchte ich sagen: zu kontrolliert. Er war wortkarg, und wenn er etwas erzählte, dann sehr formell. Distanziert. Es waren ja nur zwei echte Therapiegespräche, aber du kennst das ja selber, ein wenig kommt man auch da schon an die Persönlichkeit des Patienten ran. Bei Osterfeld war das anders. Sehr verschlossen.“
Er zögerte etwas, bevor er weitersprach: „Das mag jetzt nach dem klingen, wovor du mich gerade gewarnt hast. Aber ich habe damals tatsächlich im Protokoll der zweiten Sitzung geschrieben: ‚Man hat den Eindruck, der Patient möchte etwas verbergen‘. Das steht hier so. Unter dem Eindruck dessen, was ich jetzt über Osterfeld weiß – gespenstisch, nicht wahr?“
Als Delamotte schon schien, das Gespräch neige sich dem Ende zu, fiel Schultes noch etwas ein: „Und weißt du, was besonders merkwürdig war? Ich wusste ja, aus dem was die Schule mir mitgeteilt hatte, von seiner tragischen Vergangenheit. Natürlich habe ich versucht, das Thema frühzeitig zur Sprache zu bringen – ich vermutete die Ursache seiner Probleme im Unfalltod seiner Frau und seiner Kinder. Aber Osterfeld wollte darüber nicht reden. Bei der ersten Sitzung habe ich nicht weiter nachgebohrt, um ihn nicht gleich unter Druck zu setzen. Doch auch beim zweiten Termin hat er komplett zugemacht. Nicht mal über die einfachsten Fakten wollte er reden – Datum, Ort, ungefährer Hergang. Nichts. Dabei lag das Geschehen doch schon so weit zurück.“
Nach dem Gespräch dachte Delamotte längere Zeit über das Gehörte nach. Vieles von dem, was sein alter Kollege in den beiden Gesprächen mit Osterfeld festgestellt hatte, passte zu den Eindrücken, die ihm die Taten des Uhu bislang vermittelt hatten. Und doch waren da einige Untertöne, die er einordnen musste. Er machte sich ein paar Notizen und klebte sie auf das Whiteboard. Den zweiten Therapeuten, einen gewissen Simon Rettich, konnte er nicht erreichen – er hinterließ ihm eine Rückrufbitte. Immerhin, dachte Delamotte, den harten Hund konnte er auch spielen, falls das bei Rettich nötig sein würde. Bei Reinhard Schultes hatte die Nummer auf jeden Fall funktioniert – Delamotte hatte ein bislang verborgenes Talent an sich entdeckt.
Da er gerade etwas Zeit hatte, kontrollierte er seine eingegangenen Anrufe und wählte die Nummer, die mit keinen seiner Kontakte verbunden war.
Es dauerte eine Weile, bis die Frauenstimme sich meldete: „Ja, bitte.“
„Hallo Frau Rosen, Delamotte hier, Polizei Marßen. Wir haben vorgestern miteinander telefoniert“, sagte er. Im Hintergrund hörte er ein Rauschen, es mochte Wind sein oder das Meer oder beides, und laute Stimmen, offenbar in guter Laune.
Auch Sabrina Rosen schien in weit besserer Stimmung zu sein als bei ihrem vorherigen Telefonat. „Ach Herr Delamotte, schön Sie zu hören. Ich bin hier in Vlissingen am Strand. Geht es Ihnen gut?“
Irgendwie, dachte Delamotte mit einem Lächeln, schienen heute alle Leute erfreut zu sein, ihn zu sprechen. „Mir geht’s gut, danke sehr“, sagte er, „Ihnen hoffentlich auch. Ich wollte Sie nur etwas beruhigen – ich bin mir inzwischen sicher, der Mann den die Medien den Uhu nennen, wird Ihnen nicht mehr nahe kommen.“
„Danke sehr“, antwortete sie, „ich habe es heute Morgen hier im Fernsehen gesehen, er hat einen Lehrer getötet oder so.“
„Ja, das stimmt“, bestätigte Delamotte, „und wir glauben, dass der Täter sich jetzt in eine ganz andere Richtung entwickelt.“
„Aber ich kann doch wohl noch ein paar Tage hierbleiben, oder?“, fragte die Krankenschwester.
Delamotte konnte sie gut verstehen. „Natürlich“, sagte er, „dagegen spricht überhaupt nichts. Bleiben Sie ruhig noch ein paar Tage da und entspannen sich ein bisschen, Sie hatten ja genug Stress.“
„Ach, vielen Dank“, er hörte ihre Erleichterung, „und fahren Sie auch mal nach Vlissingen. Das ist wunderschön hier.“

Sie saßen zu dritt bei einer Flasche von dem kalifornischen Rosé, als es abermals klingelte. Ali war der erste Gast des Abends gewesen, völlig überraschend hatte er gegen halb sieben unten gestanden und grinsend eine große Tüte in die Kamera gehalten.
Von seinem Kumpel im Mühlenviertel hatte er eine ganze Reihe libanesischer Mezze mitgebracht. Delamotte hatte für den Abend eigentlich eine Dorade besorgt, aber die konnte auch gerne noch einen Tag im Kühlschrank verbleiben, und zu den Mezze würde der bereits geöffnete Viognier genauso gut passen und weitere Weine hatte er ja im Keller.
„Hallo mein Freund“, hatte Ali bereits vom Korridor getönt, „ich dachte mir, du könntest beim aktuellen Ermittlungsstand in Sachen Uhu ein bisschen Abwechslung und Gesellschaft brauchen.“
Delamotte hatte gelacht und seinen alten Freund umarmt: „Ali, deine Gesellschaft kann ich immer brauchen, das solltest du wissen – auch wenn ich Stoffel sowas nicht immer zeige.“
Und kaum dass sie sich im Wohnzimmer hingesetzt und die libanesischen Köstlichkeiten geöffnet und auf dem Tisch verteilt hatten, war Kata eingetroffen. Ebenfalls unangekündigt, mit zwei selbst vorbereiteten Pizzen, die nur noch in den Ofen geschoben werden mussten. Und passend dazu eine Flasche Primitivo.
Seine Schwester und Ali kannten sich bereits seit Jahren, sie hatten sich herzlich begrüßt, und schon bald hatten alle drei sich über das Essen hergemacht und festgestellt, dass man ganz hervorragend abwechselnd Hummus, Mutabbal oder Kibbeh und Pizza capricciosa sowohl mit klassischem als auch mit typisch wallonischem Belag essen konnte. Und als der Viognier und der Primitivo zur Neige gegangen waren, hatte Delamotte die Flasche Rosé aus dem Keller geholt. Über den Fall hatten sie nur kurz geplaudert. „Ich gehe davon aus, dass wir ihn bald haben“, hatte Delamotte gesagt, „wir kennen seinen Namen und damit habe ich eigentlich schon mehr erzählt, als ich dürfte.“
Und nun klingelte es also erneut, und Delamotte, angenehm überrascht von seiner plötzlichen Popularität, checkte zunächst einmal die Kamera. Doch im Hauseingang war niemand zu sehen. Er ignorierte den Spion und öffnete die Wohnungstüre direkt.
Dort stand Britta, einladend lächelnd, die Haare neu arrangiert – die Bezeichnungen für Frisuren konnte sich Delamotte nie merken. „Hi Markus“, sagte sie, „wir sitzen gerade zusammen und vielleicht hast du ja Lust, rüberzukommen.“
Er erwiderte ihr Lächeln und schüttelte gleichzeitig den Kopf: „Wir sitzen auch gerade zusammen, aber vielleicht habt ihr ja Lust rüberzukommen und wir sitzen dann in größerer Runde zusammen.“
„Warte einen Augenblick“, sagte sie und ging zurück in ihre Wohnung. Seine Augen folgten ihr, unter einem leichten Pulli trug sie eine enge Stretch-Jeans, und ja verdammt, ihr Hintern sah mindestens so knusprig aus wie vor Monaten in der Tiefgarage. Aber das waren andere Zeiten gewesen, ermahnte er sich.
Mehrere Stimmen kamen näher, Britta trug ein Tablett mit Ćevapčići und Ajvar, Nicky eine Schüssel mit den süßen Teigbällchen, Theo einen großen Teller mit Mezedes, und Erwin zwei Flaschen Wein. Wie eine Prozession zogen sie ins Wohnzimmer ein, Kata und Ali standen auf, um die ihnen noch unbekannten Gäste zu begrüßen.
Delamotte brachte aus dem Arbeitszimmer seinen Bürosessel und den alten Schaukelstuhl, den Nicky mit Begeisterung für sich reklamierte. Und so fand schließlich jeder einen Platz. Und entweder war der Wohnzimmertisch auf wundersame Weise gewachsen, oder Erwin entpuppte sich gerade als logistisches Naturtalent. Die verschiedenen Weinflaschen standen harmonisch nebeneinander auf dem Boden, und es entwickelte sich ein Abend, wie er für Delamotte in der aktuellen Situation nicht besser sein konnte.
Wobei es Britta Kowallik keinesfalls entging, dass Katharina Delamotte sie etwas kritisch unter die Lupe zu nehmen schien. Sie konnte es Kata nicht übelnehmen, denn der Grund dafür lag auf der Hand. Vermutlich hatte Markus seiner Schwester schon mal von ihr erzählt – und als Frau hatte sie gewusst, dass Männer nie ohne Grund von einer anderen Frau erzählten. Und nun tauchte diese andere Frau, für die Katas Bruder einiges empfunden hatte, mit einem anderen Mann im Schlepptau in Markus Wohnung auf. Doch, Britta konnte Katas Reaktion gut verstehen. Was sie beruhigte war, dass Markus selber mit der Situation unheimlich cool umging. Falls er noch Gefühle für sie hatte – und ein Teil von ihr wünschte sich, dass es so wäre – so verbarg er diese nicht, sondern drückte sie in einer fast altmodischen Zuvorkommenheit aus. Sie musste ein wenig Abbitte leisten – Markus Delamotte war ein stärkerer und souveränerer Mann, als sie erwartet hatte.
Auch Katharina Delamotte machte sich einige Gedanken über ihren Bruder. Rasch war ihr klargeworden, dass ihre Vermutung bezüglich Brittas Verwandlung, von der Markus erzählt hatte, zutraf. Dass Britta und Erwin ein Paar waren, konnte niemand übersehen. Und sie wunderte sich auch nicht, dass Markus sich zu seiner Nachbarin hingezogen gefühlt hatte. In vielen Dingen schien ihr Britta als das genaue Gegenteil von Sonja. Und Kata erkannte, dass ihr Bruder und Britta sich noch immer blendend verstanden. Auch mit Erwin ging er freundschaftlich um. Katharina Delamotte war in nicht geringem Maße verwirrt: war dieser vermeintlich souveräne Umgang mit der Situation wieder nur so eine Art Konfliktvermeidung, wie Kata es von den Männern ihrer Familie gewohnt war? Oder hatte die ganze Entwicklung der letzten Monate ihren Bruder tatsächlich stärker gemacht?
Von all diesen weiblichen Grübeleien bemerkte Markus Delamotte, durchaus nicht untypischer Vertreter seines Geschlechts, natürlich gar nichts. Er genoss das Beisammensein mit Menschen, die er mochte. Und er genoss es ganz bewusst. Die Unterhaltung mit Ray Greene fiel ihm ein, vor gerade einmal 48 Stunden. Ja, er hatte das, was in ihm steckte, endlich wieder rausgeholt. Und er hatte begonnen, dieses Etwas zu entstauben. Falsch, er musste sich korrigieren. Es wurde von anderen entstaubt. Und das fühlte sich verdammt gut an.

Es kam nicht gerade häufig vor, dass Delamotte einen Sonntagmorgen im Polizeipräsidium verbrachte. Doch an diesem Sonntag war genau dies der Fall. Die spontane abendliche Feier hatte er gut überstanden, und im Präsidium gab es einige Artefakte, die er sich gerne genauer anschauen wollte. Der Ursprung von Osterfelds Mordwünschen war ihm immer noch ein Rätsel. Vielleicht fanden sich weitere Schlüssel zu diesem Rätsel in einigen Unterlagen, die im Präsidium bereitstanden.
Erst widmete er sich der Akte, die die Kanzlei Strack dem Vorgang Osterfeld gewidmet hatte. Den Schriftwechseln war zu entnehmen, dass alle Beteiligten sehr viel Verständnis für den Lehrer mit der tragischen Vorgeschichte hatten. Die auftraggebende Familie Breuer hatte Verständnis, und somit natürlich auch der Auftragnehmer, Rechtsanwalt Strack. Schulleiter Bussmann sowieso. Lediglich die Dame im Kultusministerium hatte das ganze etwas strenger beurteilt. Osterfelds Suspendierung ging auf sie zurück. Warum hatte er dann Strack und Bussmann erschossen? Interessant fand Delamotte auch, dass der Anwalt die Vorgeschichte Osterfelds niemals hinterfragt oder gar überprüft hatte.
Die Personalakte des Lehrers sah bezüglich dieses Punktes ganz ähnlich aus. Auch hier fand Delamotte, unmittelbar als Erklärung von Osterfelds erstem cholerischen Ausfall im Frühjahr 1992, einen kurzen Verweis auf die Tragödie des Unfalltods von Frau und Kindern des Betroffenen. Kein Datum, kein Ort, keine Beschreibung des Hergangs. Nicht einmal aus der Sicht Osterfelds. Hatte man seitens der Schule davor zurückgeschreckt, ihn zu befragen?
Interessant fand Delamotte die zeitliche Verteilung von Osterfelds Ausrastern. Er hatte erwartet, hier eine langsame Steigerung vorzufinden, und schließlich dann die Eskalation im Frühjahr 2003. Was er vorfand, was fast schon das Gegenteil. Osterfeld hatte den Höhepunkt seiner cholerischen Anwandlungen Mitte der 90er Jahre, danach gingen die Vorgänge zurück. Nun ja, die aktenkundigen Vorgänge, dachte Delamotte. Ab 1998 berichtete die Akte kaum noch von entsprechenden Vorkommnissen. Ein Gedanke klopfte von innen an Delamottes Stirn: im Herbst 1997 hatte jemand – vermutlich Osterfeld – Karlheinz Sötenich observiert. Bestand da möglicherweise ein Zusammenhang? Und wo war dann, ohne echte Vorwarnung, die Eskalation im Jahre 2003 hergekommen?
Etwas hilfreicher waren da Osterfelds Karteikarten. Die Karten seiner Opfer hatte er offenbar vernichtet, ob aus Kalkül oder nicht. Die meisten stammten aus den Jahren ab 1997 – nur einzelne Karten verwiesen auf die früheren Jahre 1992 bis 1996. Osterfeld musste also bereits zwei Jahren nach seinem Umzug nach Marßen mit der Suche nach potentiellen späteren Mordopfern begonnen haben.
Die älteren Karten wiesen als Hauptmerkmal noch das Kennzeichen auf, während der Hinweis auf die Beschriftung des Wagens wie ein Beifang ziemlich achtlos hinzugefügt war. Erst ab Mitte 1997 tauchte dann die Beschriftung als erstes erfasstes Attribut auf, und etwa ab diesem Zeitpunkt hatte Osterfeld sich dann auch um eine Beschreibung der Person am Steuer bemüht. Was alle Karten allerdings gemeinsam hatten, war die Beschreibung des jeweiligen dem Fahrer vorgeworfenen Vergehens.
Die Protokolle der Aussagen von Kollegen und Nachbarn waren wenig hilfreich. Osterfeld wurde beschrieben als eher wortkarger, verschlossener Mann. Offen unfreundlich und zurückweisend schien er aber nicht gewesen zu sein. Delamotte schien hier ein gewisses Maß an Schauspieltalent hervor zu scheinen, was bei Psychopathen nicht gerade selten war. Und allem Anschein nach schien Osterfeld ein sehr unauffälliger Zeitgenosse zu sein. Ein Mann ohne herausragende Eigenschaften. Ein Mann, der nirgendwo auffiel.

Um die Mittagszeit erschien Lüttges kurz in Marinos Büro, wohin Delamotte sich zurückgezogen hatte. Auf die beiden Anfragen bezüglich des Unfalls waren noch keine Rückmeldungen erfolgt. Am Vortag hatte der Kommissar ein Gespräch mit Felix Breuer geführt. Der junge Mann war nicht bereit, die Ursache seines Streits mit Leo Osterfeld offenzulegen. „Er legte allerdings Wert auf die Feststellung, dass es nicht um den Unfall von Osterfelds Familie ging“, sagte Lüttges. „Ich werde mir mal die anderen Schüler vornehmen, die den Streit beobachtet haben.“
„Bevor du das tust“, empfahl Delamotte, „frag doch einfach mal bei der Schule an, um welches Thema es denn überhaupt in der fraglichen Unterrichtseinheit ging.“ Lüttges nickte und machte sich eine Notiz.
Das machte er dann auch, als der Psychologe empfahl, Manuela Sötenich mal ein vergleichsweise aktuelles Foto von Osterfeld vorzulegen. „Das wäre dann wohl das aus dem Ausweis des Schützenvereins“, sagte der Kommissar.

Etwas später, Delamotte war bereits auf dem Weg zum Ausgang, lief ihm Sabine Greven über den Weg. Die Kriminaltechniker hatten in Osterfelds Wohnung Fingerabdrücke gefunden, die zu denen auf dem bei Münster gefundenen Böxli ebenso passten wie zu der Bonbonverpackung, die am Tatort in Galgenwardt gefunden worden war.
„Wenn wir ihn jetzt bald kriegen“, sagte Sabine, „ist die Beweislage so eindeutig, dass dem Kerl lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung garantiert ist.“
„Wenn wir ihn lebend kriegen“, schränkte Delamotte ein, „Urteile gegen Leichen sind bei uns ebenso unüblich wie solche in effigie.“

Die Dorade lag bereits, innen wie außen von Kräutern gestreichelt, im Backofen. Begleitet wurde sie von einer großen Kartoffel, Fenchel, Radicchio sowie Zwiebeln und Knoblauch. Ein sizilianischer Weißwein, den ihm Marino vor einiger Zeit empfohlen hatte, schien Delamotte eine perfekte Wahl, um den Genuss zu vervollkommnen. Nachdem er die Arbeitsfläche aufgeräumt und abgewischt, und die benutzten Utensilien in die Spülmaschine geräumt hatte, goss er sich ein erstes Glas ein. Er schnupperte, ein Duft wie von frischen Birnen, vielleicht auch grünen Melonen entfaltete sich in seiner Nase. Gerade, als er das Glas zu den Lippen führte, hörte er ein Geräusch vom Tisch. Sein Mobiltelefon bettelte um seine Aufmerksamkeit, fast so wie ein verdammtes Tamagotchi.
Simon Rettich entschuldigte sich ausgiebig dafür, nicht früher zurückgerufen zu haben. „Es geht um Herrn Osterfeld, haben Sie gesagt?“, fragte er vorsichtig. Delamotte bestätigte. „Und Sie arbeiten für die Kriminalpolizei?“ –
„Schauen Sie, Herr Rettich, das hier wird erst mal ein Gespräch unter Kollegen“, versuchte Delamotte ihn zu beruhigen. „Sie müssen nicht mit mir reden – in dem Fall müssten wir dann den offiziellen Weg gehen, über richterliche Anordnung und so weiter. Im Endeffekt kostet das uns alle nur Zeit und Nerven.“
Rettich lenkte rasch ein: „Nein, das ist schon in Ordnung. Ich habe Sie im Internet gefunden, alles OK.“ Er wartete ziemlich lange, bevor er stockend weitersprach: „Er ist es, nicht wahr? Er ist der Uhu. Ich meine Osterfeld. Osterfeld ist der Uhu.“ Wie bereits gegenüber Schultes blieb Delamotte an dieser Stelle schweigsam.
„Herr Osterfeld ist seit Anfang des Jahres mein Patient“, fuhr Rettich fort, „das werden Sie schon wissen, die Schule wurde ja immer informiert. Und Sie merken, ich rede von Herrn Osterfeld, nicht von Leo. Normalerweise gehen wir nicht so formell mit unseren Patienten um.“
Delamotte verdrehte bei dieser Aussage die Augen und hoffte, keine hörbare Reaktion gezeigt zu haben.
„Bei Herrn Osterfeld war das anders, irgendetwas an ihm erzwang so etwas wie eine respektvolle Distanz“, erklärte der offenbar recht junge Therapeut. Gerade zu Beginn der Therapie sei der Patient sehr verschlossen gewesen, Rettich hatte dies auf den Umstand zurückgeführt, dass Osterfeld nicht freiwillig an den Sitzungen teilnahm. „Der Druck war ihm anzumerken“, führte Rettich aus, „und manche Termine hat er sehr kurzfristig abgesagt.“
Delamotte bat ihn darum, ihm per Email eine Auflistung der durchgeführten und der abgesagten Sitzungen zu schicken.
„Ab Mai wurde er dann gesprächiger, ich hatte ehrlich das Gefühl, dass er sich öffnete“, erzählte Rettich, „er begann über seine Frau und die Kinder zu sprechen, über ihren tragischen Tod. Ich glaubte, er mache sich Vorwürfe, gebe sich selber die Schuld an dem Unfall, obwohl er ja selber gar nicht dabei gewesen war. Er war ja auf der Arbeit, aber das werden Sie ja schon wissen.“
„Wann hatten Sie das letzte Gespräch mit Herrn Osterfeld?“, wollte Delamotte wissen.
„Das war am 21. Juli“, antwortete Rettich, „Herr Osterfeld hat dann noch zwei Termine mit Marion vereinbart. Die pflegt die Kalender unserer Therapeuten. Im Nachgang wundert es mich schon, dass er den ersten dieser Termine für den 23. August gemacht hat, also mehr als einen Monat später. Vielleicht hat er Marion ja einen Grund genannt. Aber dieser Sitzung ist er dann unentschuldigt ferngeblieben. Das werden Sie ja auch schon wissen.“
Delamotte bedankte sich für die Informationen. „Ich muss Sie natürlich bitten, über dieses Gespräch Stillschweigen zu wahren.“
„Denken Sie vielleicht, ich könnte ihn warnen?“, fragte Rettich mit gequältem Unterton. „Selbst wenn ich das wollte – ich habe von Leo Osterfeld weder eine Telefonnummer noch eine Emailadresse.“

Es war stockfinster, und fast schon vier Uhr in der Früh, als er endlich fand, wonach er gesucht hatte. Die ersten drei Parkplätze hatten sich als unergiebig herausgestellt. Aber hier, vor einem Landgasthof, wie er für diese Region typisch war, stand das perfekte Objekt seiner Begierde. Und der Stellplatz direkt neben dem Saab war frei. Und was sein Glück perfekt machte: sollte zufälligerweise jemand vom Hotel aus in Richtung Parkplatz blicken, wäre dieser Blick durch eine Baumreihe versperrt.
Er stellte den Peugeot neben den Saab und öffnete vorsichtig den Kofferraum. Werkzeug brauchte er keines, zum Glück war es inzwischen viel einfacher, ein Nummernschild zu montieren oder eben auch zu entfernen. Früher hätte er dafür noch zu einem Schraubenzieher greifen müssen, doch heutzutage reichten ein paar einfache Handgriffe, sofern man diese kannte. Die gesamte Aktion kostete ihn nur ein paar Minuten, dann verschwanden die Nummernschilder unter dem Reserverad im Kofferraum.
Für den baldigen Grenzübertritt brauchte er die Dinger noch nicht. Aber er war sich nicht ganz sicher, was den Künstler anging. Warum hatte auch genau im entscheidenden Moment dieser blöde Besucher aus dem Nebenzimmer auftauchen müssen? Er hatte den Künstler getroffen, so viel war schon klar, und wenn er sich recht erinnerte, war gleich eine ganze Menge Blut geflossen. Mehr hatte er in dem Handgemenge mit diesem Störenfried dann nicht mehr mitbekommen, und zu allem Überfluss hatte er dann auch noch seine Pistole verloren. Nun gut, an Schusswaffen mangelte es ihm nicht.
Falls der Künstler überlebt hatte – erkannt hatte er ihn wohl kaum. Trotzdem würde die örtliche Polizei die Pistole untersuchen, und sich dann mit den Kollegen in Marßen in Verbindung setzen. Und der Künstler, so er denn überlebt hatte, könnte ihnen eventuell einen Hinweis liefern auf den Höhepunkt seiner Mission. Und sie würden eine Menschenjagd starten, besonders an neuralgischen Punkten. Wie gesagt: der bevorstehende Grenzübertritt sollte kein Problem darstellen. Anders sah es dann schon bei der Brücke aus, und den gut tausend Kilometern, die dann noch folgen würden. Mit den neuen Nummernschildern dagegen waren seine Chancen viel besser. Er würde sie kurz hinter der Grenze am Peugeot anbringen.