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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 27
XV.

Etwa um halb acht in der Früh bog Kommissar Manfred Lüttges in die Eulogius-Schneider-Straße ein, die sich im Stadtteil Berschweiler befand – genauer gesagt in der Ortschaft Ringen, also direkt am Stadtrand gelegen. Die örtlichen Kollegen hatten knapp eine Stunde zuvor Alarm gegeben: ein offenkundiger Mord, vermutlich mit einer Handfeuerwaffe. Die Kollegin in der Zentrale hatte sofort reagiert und Lüttges, der Bereitschaft hatte, angerufen. Er fuhr an den Absperrungen vorbei, bemerkte dass einige Kriminaltechniker bereits vor Ort waren, und suchte nach einer Parkmöglichkeit. Erst mehrere hundert Meter vom Tatort entfernt war ein Platz frei, hinter einem umzäunten Spielplatz und mehreren Flachbauten, die vermutlich zu einem Kindergarten oder eher noch zu einer Grundschule gehörten.
Als er schließlich vor dem Haus mit der Nummer 7 ankam, erkannte er, dass er die Dienstmarke in der Jackentasche steckenlassen konnte. Der Einsatzleiter, Jupp Schöller, war ihm wohlbekannt. Als Lüttges selber noch bei der Hafengarde getanzt hatte, war Schöller bereits Präsident der Karnevalsgesellschaft Alte Blumenthaler gewesen. Vermutlich war er das heute noch, dachte Lüttges, als der stämmige, immer etwas rotgesichtige Beamte auf ihn zukam.
„Morgen Manni“, sagte er, „auch wenn es wohl kein guter Morgen ist.“
„Morgen Jupp“, antwortete Lüttges, „dann bring mich mal kurz auf den Stand.“
Schöller blickte auf seinen Notizblock: „Das Opfer ist der Besitzer des Hauses – Thomas Bussmann, 51, lebte alleine. Schulleiter.“
„Da wo ich geparkt habe“, unterbrach ihn Lüttges, „das sieht nach einer Schule aus.“
„Ja, das ist die örtliche Grundschule“, erklärte Schöller, „aber Bussmann war am Gymnasium, das liegt in Enken-Nord, ungefähr fünf Kilometer von hier.“ Er blickte noch einmal auf den Zettel: „Der Mord muss gegen sechs Uhr passiert sein. Ein paar Nachbarn sagen, um diese Zeit ging Bussmann immer joggen.“
„Ein Mord mit einer Handfeuerwaffe?“, fragte Lüttges nach.
Der uniformierte Beamte nickte: „Davon ist auszugehen – und es war ein präziser Kopfschuss, deshalb haben wir gleich in der Zentrale Bescheid gegeben.“
Lüttges sah, wie Gustavsson in die Straße einfuhr, ebenfalls auf der Suche nach einer Parkmöglichkeit. Er selber würde jetzt einige Telefonate führen müssen. Der Uhu schien gerade dabei zu sein, durchzudrehen. Out of control, wie Henseler das auf Neudeutsch nannte.

Etwa eine Stunde später trafen Pesch, Marino und Delamotte ein. Maas und Henseler suchten derweil im Präsidium weiterhin nach Spuren in den Akten von Rechtsanwalt Strack.
Lüttges fasste zusammen, was er in der Zwischenzeit in Erfahrung gebracht hatte: „Thomas Bussmann, 51, Rektor am Albrecht-Dürer-Gymnasium, das liegt hier im Bezirk Berschweiler. Er ist geschieden, die Scheidung liegt schon länger zurück. Danach hatte er noch einige Jahre lang eine Lebensgefährtin, diese Beziehung ist wohl vor etwas über drei Jahren in die Brüche gegangen. Seither lebt er alleine in dem Haus, er ist der Eigentümer.“
Pesch fragte nach dem Zeitpunkt des Mordes.
„Wahrscheinlich gegen sechs Uhr“, antwortete Lüttges, „um diese Zeit ging Bussmann laut Aussagen der Nachbarn täglich joggen, und die Leiche wurde um kurz vor halb sieben gefunden.“ Er hatte noch einen weiteren Punkt: „Bussmann besitzt übrigens kein Auto – laut den Nachbarn hat er auch nie eins besessen. In der Garage hat früher das Auto seiner Lebensgefährtin gestanden, noch früher wohl das seiner damaligen Frau. Ich habe die Kollegen bei der Verkehrsbehörde schon mal gefragt, ob er überhaupt einen Führerschein hat oder jemals ein Wagen auf ihn zugelassen war. Zur Schule ist er bei gutem Wetter mit dem Fahrrad gefahren, sagen die Nachbarn. Die liegt etwa fünf Kilometer von hier. Im Winter und bei schlechtem Wetter hat er die S-Bahn genommen. Bis zur hiesigen Station braucht man zu Fuß fünf Minuten, und zur Schule ist es nur eine Station weit mit der Vorstadt-Ringbahn.“
Pesch blickte in Richtung des Hauseingangs, wo sich Gustavsson über die Leiche beugte. „Und es sieht alles nach dem Uhu aus?“, fragte er.
„Auf jeden Fall wieder ein Kopfschuss – und ich kann mich nicht an viele Kopfschüsse in jüngster Zeit erinnern, die nichts mit dem Uhu zu tun gehabt hätten“, erwiderte Lüttges. Ein bisschen zu scharf, wie Delamotte fand.
„Was machst du aus dieser Sache, Markus“, sprach Pesch ihn an.
Der Psychologe überlegte einen Augenblick, ob er den ersten Gedanken, den er an diesem Tatort gehabt hatte, so früh aussprechen sollte. Er entschied sich dafür: „Sie kannten sich.“
Pesch wirkte überrascht: „Wie meinst du das?“
„Bussmann und sein Mörder“, sagte Delamotte, „also genau genommen Bussmann und der Uhu. Sie kannten sich – schon länger, denke ich.“ Bedachtsam sammelte er die Punkte, die ihn zunächst instinktiv zu dieser Schlussfolgerung geführt hatten. Er dachte an etwas, das Ray Greene öfter gesagt hatte: „Traut Euren Bauchgefühl. Denn Bauchgefühl ist nichts anderes als geronnene Erfahrung.“
„Der Täter wusste, dass Bussmann morgens um sechs joggen geht“, erklärte er seinen Kollegen. „Genau deshalb war er um diese Zeit auch hier. Aber zwischen dem Mord an Strack und diesem hier liegen gerade mal zwei Tage, plus ein paar Stunden. Nicht genug Zeit, um durch Beobachtung des Opfers genügend Sicherheit zu gewinnen, dass es wirklich jeden Morgen um diese Zeit joggen geht. Und ich glaube nicht, dass der Uhu parallel Strack und Bussmann beobachtet hat. Das ist nicht seine Art. Dafür ist er viel zu organisiert.“
„Bist du denn sicher, dass er Strack beobachtet hat“, warf Marino ein.
„Die Vermutung liegt zumindest nahe“, sagte Delamotte. „Zwischen dem Mord an Monika Zerres und dem an Rechtsanwalt Strack liegen etwa vier Wochen. Nach ungefähr zwei Wochen haben wir die Geschichte mit der Verwechslung der beiden Krankenschwestern lanciert. Selbst wenn der Uhu ein paar Tage gebraucht hat, um diese Information zu verarbeiten – vielleicht auch, um sie überhaupt zu glauben. Er hatte auf jeden Fall die Zeit, herauszubekommen, wo der Anwalt wohnt. Und vielleicht hat er dann gesehen, dass Strack abends zu Fuß sein Haus verließ, und einfach auf seine Rückkehr gewartet. Und wenn Bussmann abends joggen ginge, und er ihn bei der Rückkehr erschossen hätte – ich glaube, wir hätten eine etwas andere Situation. Andere Schlussfolgerungen.“ Er sah, dass seine Kollegen dem Gedankengang folgten.
„Aber er war frühmorgens hier“, sagte Lüttges.
„Eben“, bestätigte Delamotte, „was mir sagt: er wusste, dass sein Opfer um diese Zeit das Haus verlassen würde. Und das wusste er schon seit langem.“
„Das bedeutet dann aber auch“, bemerkte Pesch, „dass wir über Bussmann hoffentlich eine direkte Verbindung zum Uhu herstellen können.“
„Ich denke schon“, antwortete Delamotte, „eine direktere als über Strack. Wobei ich glaube, dass es auch zwischen Strack und Bussmann eine Verbindung gibt.“
Lüttges nahm sein Handy aus der Tasche: „Ich sage Jutta und Niclas mal Bescheid – vielleicht findet sich der Name Thomas Bussmann ja in einer der Akten des Rechtsanwalts.“
Der schlaksige Kommissar ging ein paar Schritte zu Seite, um zu telefonieren. Hugo Alvarez kam auf die kleine Gruppe zu. „Die Patronenhülse zumindest sieht wieder nach der Waffe des Uhu aus“, sagte er. Das Projektil würde er erst später bekommen, aber zumindest untermauerte das Ergebnis schon mal den ersten Verdacht.
Auch Gustavsson, der sich inzwischen dazugesellt hatte, bestätigte den Gedanken: „Ja, wieder ein Kopfschuss, aus sehr kurzer Distanz. Der Täter kann nicht mehr als zwei Meter vom Opfer entfernt gestanden haben. Und keine erkennbare Abwehrreaktion.“
Marino berührte Delamottes Oberarm: „Ich glaube, du hast recht, Alter. Die beiden kannten sich.“
Lüttges trat wieder hinzu: „Wir haben eine rasche Rückmeldung von der Verkehrsbehörde. Einen Führerschein hatte Bussmann – aber ein Auto war zuletzt vor fast 25 Jahren auf ihn zugelassen.“
Delamotte fügte diese Information in das Mosaik ein, an dem er seit Monaten schon arbeitete. Der Uhu war komplett von seinem alten Beuteschema abgekommen. Und darin lag wahrscheinlich die beste Chance, ihn endlich zu erwischen.

Isabel Mayerhofer erwartete Marino und Delamotte bereits auf dem Parkplatz des Gymnasiums. „Als uns die schreckliche Nachricht erreichte, habe ich das ganze Lehrerkollegium nachhause geschickt. Eigentlich wollten wir die letzten Planungen für das anstehende Schuljahr machen, aber daran war nicht mehr zu denken“, sagte sie.
Lüttges war am Tatort geblieben, um weitere Befragungen in der Nachbarschaft durchzuführen, während Pesch sich auf den Weg ins Präsidium gemacht hatte. Marino und Delamotte waren zur Schule aufgebrochen, die sich im Nachbarort Enken-Nord befand.
Viele Ortschaften des Stadtbezirks Berschweiler waren erst in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren zu ihrer heutigen Größe angewachsen, als verschiedene private Fernsehsender und Produktionsgesellschaften Marßen zur Fernsehhauptstadt des Landes gemacht hatten. Im benachbarten Bezirk Teligrath war, von der Landesregierung üppig subventioniert, der Verwaltungs- und Studiokomplex TeleCity entstanden, und der Zuzug der vielen Mitarbeiter hatte im Westen der Stadt einen mittleren Bauboom ausgelöst.
In Mayerhofers Büro angekommen, nahmen sie an einem Ecktisch Platz. Die schwarzhaarige Endvierzigerin amtierte als Bussmanns Stellvertreterin. Sie bot ihren Besuchern Kaffee an, was beide dankend ablehnten.
„Was für eine Tragödie“, sagte Mayerhofer, der man ihre Herkunft aus Süddeutschland anhörte. „Thomas war das Albrecht-Dürer-Gymnasium, ich glaube damit übertreibe ich nicht. Wissen Sie, die Schule besteht erst seit etwas mehr als zwanzig Jahren, und Thomas Bussmann war von Beginn an dabei. Lange Zeit als Lehrer für Geschichte und Deutsch – besonders Geschichte hatte es ihm angetan. Viele unserer Schüler haben eigentlich keinen engen Bezug zu Marßen, ihre Eltern sind wegen der guten Jobs hierhergekommen, besonders bei den Fernsehfirmen. Aber Thomas hat bei den Jugendlichen immer wieder das Interesse an der Stadt geweckt, indem er sie mit der Marßener Geschichte vertraut machte. ‚Ihr habt hier überall Geschichte zum anfassen‘, hat er immer gesagt. Der Uelemer Bruch, die Altstadt mit ihren Plätzen und Hafenbecken, das Bliesfelder Schloss – diese ganzen Orte konnte er mit Leben erfüllen.“
Seit vier Jahren, erklärte sie, amtierte Bussmann als Rektor. „Und er war ein Rektor, wie man ihn sich wünscht. Nach innen hin immer fair, gegenüber Lehrern wie Schülern, immer um Ausgleich bemüht. Nach außen hin manchmal etwas schroff, wenn er glaubte, die Interessen der Schule fänden nicht genug Aufmerksamkeit in Politik und Verwaltung.“
Die Schule hatte, wie Mayerhofer bekräftigte, einen sehr guten Ruf, nicht zuletzt dank Thomas Bussmann. „Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, dass Berschweiler ein sehr bürgerlicher Stadtbezirk ist, ganz überwiegend Mittelschicht“, gab seine Stellvertreterin zu. Sie wies aus dem Fenster auf die Hochhäuser, die in vielleicht zwei Kilometer Entfernung emporragten. „Sogar dort, Enken-Süd – als diese Häuser vor zwölf Jahren fertiggestellt wurden, dachten viele hier, um Gottes Willen, noch so ein Viertel. Aber Enken-Süd ist nicht Antoniusberg – dort leben viele junge Leute, die in TeleCity gute Jobs haben. Singles, junge Paare.“ Es schien Mayerhofer ein Herzensbedürfnis zu sein, ein gutes Bild der Schule und des Stadtbezirks zu vermitteln.
„Herr Bussmann ist ja immer mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln hierhergekommen“, unterbrach Marino ihren Redefluss, „ein Auto hat er schon seit langem nicht besessen – vermutlich noch bevor es diese Schule hier gab.“
Mayerhofer nickte: „Ja, das Autofahren hat Thomas schon vor Langem aufgegeben. Die genaue Geschichte kenne ich selber gar nicht. Es hat da wohl mal einen Beinahe-Unfall mit einem LKW gegeben. Thomas hat mir mal erzählt, sein Tod wäre nur ein paar Sekunden entfernt gewesen. Danach hat er das Auto gemieden, sogar als Beifahrer ist er nur ungerne mitgekommen.“
„Könnten Sie sich jemanden vorstellen“, fragte Delamotte, „der etwas gegen Herrn Bussmann gehabt haben könnte?“
Sie blickte erstaunt: „Gegen Thomas? Undenkbar! Sie meinen einen solchen Groll, dass daraus ein Mord wird? Absolut undenkbar.“ Mayerhofer schien sich in diesem Punkt ganz sicher zu sein. „Ich kann mir überhaupt niemanden vorstellen, der Thomas hätte töten wollen. Aber trotzdem hat es jemand getan. Ähnlich wie den armen Herrn Strack vor ein paar Tagen. Ist das nicht furchtbar? Auch da habe ich mich gefragt, wer macht denn sowas? Aber Strack kannte ich natürlich nur flüchtig, nicht so gut wie ich Thomas kannte.“
Delamotte und Marino tauschten kurz ein paar Blicke aus. „Woher kannten sie Rechtsanwalt Strack denn?“, fragte Claudio vorsichtig.
„Ach ja, das ist auch so eine traurige Geschichte“, seufzte sie, „Herr Strack hatte vor anderthalb Jahren mit der Schule zu tun. März und April 2003, wegen dieser unseligen Sache mit Leo Osterfeld.“
„Was ist damals denn vorgefallen?“, wollte Delamotte wissen.
Mayerhofer setzte zu einer langen Erklärung an. „Leo Osterfeld war Lehrer hier. Was heißt ‚war‘, technisch ist er es immer noch. Deutsch, Sozialkunde und Ethik. Ja, Ethik. Wenn Sie gleich die ganze Geschichte hören, wird sie das wundern.“
Sie stand auf, ging ein paar Schritte hin und her. „Die Schüler im Abiturjahrgang waren kurz vor ihren Abschlussprüfungen. Leo unterrichtete unter anderem einen Grundkurs Sozialkunde“, erzählte sie. „Es gab einen Streit, worum genau es ging haben wir nie erfahren. Einen Streit mit einem der angehenden Abiturienten, Felix Breuer. Nun ja, Leo wurde handgreiflich. Schleuderte Felix gegen die Wand, wollte wohl auch hinterhergehen – zum Glück sind ein paar andere Jungs dazwischen gegangen. Ziemlich unreifes Verhalten für einen erfahrenen Lehrer, immerhin ist Leo einer der Älteren im Kollegium. 55 oder 56 muss er jetzt sein. Der Vater von Felix schaltete dann Rechtsanwalt Strack ein. Sie kennen den Vater vielleicht.“
Dr. Carsten Breuer, klärte sie die Besucher auf, war Personalchef in einem großen Molkereiunternehmen. Delamotte kannte das Unternehmen, von dem Personalchef hatte er allerdings noch nie gehört.
„Wissen Sie, wenn das der erste Vorfall dieser Art gewesen wäre“, sagte Mayerhofer, „aber leider hatte sich Leo schon einen etwas zweifelhaften Ruf erworben. Nicht mit Handgreiflichkeiten, Gott behüte. Aber cholerische Ausfälle gegenüber Schülern, die hatte es bei Leo früher schon mal gegeben. Meistens gegenüber Schülern aus der Oberstufe, und meistens gegenüber Jungs. Ich glaube fast, immer gegenüber Jungs. Ich müsste das mal prüfen. Aber es kam schon öfters mal vor, dass Eltern hier saßen und sich darüber beschwerten, dass Leo ihr Kind angeschrien hatte.“
„Hat das denn keine Konsequenzen gehabt?“, fragte Delamotte.
Mayerhofer setzte sich wieder und blickte ihn lange an: „Nun ja, natürlich haben wir immer wieder das Gespräch mit Leo gesucht. Und unsere Vorgänger, um genau zu sein. Aber Konsequenzen im Sinne von disziplinarischen Maßnahmen hat es nie gegeben. Es hat sie auch nie jemand gefordert, auch die betroffenen Schüler und ihre Eltern nicht. Spätestens dann, wenn sie Leo Osterfelds tragische Vorgeschichte erfahren hatten.“
Delamotte wurde hellhörig: „Was für eine Vorgeschichte?“
Die Konrektorin zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr: „Leo Osterfeld ist seit vierzehn Jahren an dieser Schule. Vorher war er woanders, ich müsste nachgucken wo genau. Und die Vorgeschichte muss sich an seinem früheren Wohn- und Arbeitsort zugetragen haben.“ Sie beugte sich vor: „Damals hat Leo seine Frau und zwei Kinder durch einen Autounfall verloren.“
„Ein Autounfall?“, fragte Marino ziemlich verblüfft nach.
„Ja, irgendwas fremdverschuldetes, ein Raser oder Drängler, irgendwo auf der Autobahn. Der ist wohl nie erwischt worden“, antwortete Mayerhofer.
„Und sehen Sie, bei so einer Tragödie – jeder Mensch hat doch Verständnis, wenn der Mann, der so einen Verlust erlitten hat, manche…“ Sie suchte nach passenden Worten. „Na, manche etwas auffälligen Verhaltensweisen entwickelt. Und es war ja auch nicht die Norm, in den unteren Klassen war Leo geduldig und verständnisvoll. Nur bei den Älteren, da verlor er schon mal die Contenance.“
„Aber dieses Mal fiel die Reaktion auf sein Verhalten nicht so verständnisvoll aus“, warf Delamotte ein.
„Oh, verständnisvoll waren sowohl die Breuers als auch Rechtsanwalt Strack durchaus“, antwortete Isabel Mayerhofer, „aber der Anwalt hatte nicht nur Thomas angeschrieben, sondern auch das Kultusministerium. Und dort war Frau Dr. Berning-Vöckelkamp zuständig. Und die fand den Vorgang schon schwerwiegend genug für eine deutliche, disziplinarische Maßnahme. ‚Der Kollege braucht mal einen Schuss vor den Bug‘, so ähnlich hat sie das ausgedrückt.“
„Und was für ein Schuss war das?“, hakte Delamotte nach.
Die stellvertretende Rektorin erwiderte: „Leo wurde vom Dienst suspendiert, bei reduzierten Bezügen. Recht deutlich reduzierten Bezügen, wenn Sie mich fragen. Und ihm wurde aufgetragen, eine Therapie zu machen – an sich zu arbeiten, wie Frau Dr. Berning-Vöckelkamp das nannte. Erst nach bestätigtem Erfolg dieser Therapie dürfte er wieder in den Dienst zurück, dann wieder bei vollen Bezügen.“
„Macht er denn eine Therapie?“, fragte Delamotte. Dass er Marino das Gespräch etwas aus der Hand genommen hatte, schien ihm angebracht – schließlich ging es jetzt um sein Metier.
„Ja und nein, gewissermaßen“, sagte Mayerhofer, „eine erste Therapie hat er recht schnell abgebrochen, nach gerade mal zwei Sitzungen. Das war Anfang Juli. Wir haben ihm dann Druck gemacht, und so hat er im Januar 2004 wieder eine Therapie aufgenommen – allerdings bei einem anderen Therapeuten. Und das schien auch recht gut zu laufen, zumindest waren die letzten Rückmeldungen des jungen Mannes durchaus hoffnungsvoll. Aber zuletzt hat Leo mal wieder einen Termin versäumt, unentschuldigt. Deshalb sollte heute eigentlich ein Schreiben an ihn rausgehen, mit der Bitte um ein weiteres klärendes Gespräch.“
„Gut, Frau Mayerhofer“, sagte Marino, „ich habe jetzt ein paar Bitten. Könnten Sie mir bitte die Adresse von Herrn Osterfeld raussuchen, und seine Personalakte bereitstellen?“
Ihre Augen weiteten sich: „Sie glauben doch nicht, dass Leo…“
Marino unterbrach sie: „Ich glaube erst mal gar nichts. Ich suche nur nach Spuren und gehe Hinweisen nach – das ist mein Beruf.“ Mayerhofer wirkte fassungslos. „Außerdem möchte ich Sie bitten“, sprach Marino weiter, „für heute Nachmittag um drei Uhr das Kollegium einzubestellen. Uns interessieren besonders solche Mitarbeiter, die näher mit Herrn Osterfeld zu tun hatten.“
Bevor die Frau etwas antworten konnte, schob Delamotte noch eine Bitte hinterher: „Und könnten Sie mir bitte die Namen der beteiligten Therapeuten nennen?“
Als die beiden wieder auf dem Weg zum Parkplatz waren, eine sehr nachdenkliche Isabel Mayerhofer in der Schule zurücklassend, fragte Marino: „Glaubst du, der ist es?“ Delamotte überlegte eine Weile, bevor er antwortete: „Ja. Ich bin mir ziemlich sicher, das ist er.“

„Sieht ja so aus, als hätten wir ihn“, sagte Stegmayer.
Pesch, der neben ihm den Gang entlang ging, stimmte zu, wenn auch etwas halbherzig: „Ja. Sieht so aus. Ein Lehrer. Ein Oberstudienrat. Kaum zu glauben.“
Sie betraten den Besprechungsraum. Die mit dem Fall befassten Kommissare warteten bereits, ebenso Greven und Alvarez von der Kriminaltechnik, Gustavsson von der Gerichtsmedizin, Staatsanwalt Ludes und natürlich Delamotte. Die Akten der Kanzlei Strack lagen gestapelt auf dem Boden, Henseler hatte die Akte zum Vorgang Osterfeld bereits rausgesucht.
Die Erkenntnisse von Marino und Delamotte hatten sich bereits im Vorfeld allgemein herumgesprochen. Lüttges ergänzte sie um einen Punkt aus seinen Gesprächen in der Nachbarschaft: „Einer der Nachbarn hat um kurz nach sechs ein graues Auto wegfahren sehen.“
„Was für einen Wagen fährt dieser Osterfeld, wissen wir das?“, fragte Pesch.
Henseler kannte die Antwort bereits: auf den Lehrer war ein grauer Peugeot 307 zugelassen.
Stegmayer nickte Ludes zu: „Thomas hat auf Basis all dessen, was wir bereits wissen, eine Hausdurchsuchung angeordnet. Ein Team vom SEK ist bereits auf dem Weg nach Neu-Kaiserbruch, da wohnt dieser Bursche. Hoffentlich erwischen sie ihn da noch. Falls nicht…“
„Steht in jedem Fall die Kriminaltechnik bereit“, unterbrach ihn Sabine Greven, „unser Team wartet auf Euren Ruf.“
„Danke, Sabine“, sagte Stegmayer, „und nach Euch werden dann Jakob, Manni und Markus sich die Wohnung anschauen.“
Maas, Marino und Henseler würden sich nach der Besprechung nach Enken-Nord begeben, um die Kollegen von Osterfeld zu befragen.
„Apropos Kollegen“, warf Pesch ein, „für diese Frau Mayerhofer sollten wir Polizeischutz bereitstellen. Immerhin war sie als stellvertretende Schulleiterin zumindest am Rand an der Suspendierung von Osterfeld beteiligt. Gleiches gilt natürlich auch für Vater und Sohn Breuer. In dem Zusammenhang ist natürlich auch von Interesse, was den Lehrer so in Rage versetzt hat, dass er dem Bengel an den Kragen gehen wollte.“
Die Formulierung schien Delamotte ein wenig unpassend, fast als hätte Pesch auf einmal Empathie für den mutmaßlichen Serienmörder entwickelt.
Marino meldete sich zu Wort: „Was ist denn mit dieser Frau vom Kultusministerium, die mit diesem Doppelnamen? Sollte die nicht auch Polizeischutz bekommen?“
Pesch nickte: „Guter Hinweis, Claudio. Wie hieß die Dame noch mal genau?“
Henseler guckte in der Akte nach: „Berning-Vöckelkamp. Dr. Marie-Therese Berning-Vöckelkamp.“ Neben ihm saß Jutta Maas und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Pesch erhob sich von seinem Stuhl. Eine Sache fiel ihm noch ein: „Manni hat bereits eine offizielle Anfrage bei der Verkehrspolizei laufen, ob denen etwas über einen Unfall bekannt ist, bei dem Osterfeld als Hinterbliebener auftaucht. Es kann natürlich etwas dauern, bis wir da was hören.“
„Bevor er nach Marßen gekommen ist, hat Osterfeld in der Nähe von Minden gewohnt. Steht so in seiner Personalakte, und laut Mayerhofer muss dieser Unfall noch damals passiert sein“, erwähnte Marino.
Stegmayer nickte anerkennend: „Schick den Kollegen dort bitte auch mal eine Anfrage – speziell nach diesem Unfall, und generell ob der Name Leo Osterfeld denen etwas sagt.“

Die Mailänder Straße in Neu-Kaiserbruch war, dem klangvollen Namen zum Trotz, ein von grauen Wohnblocks gesäumtes Ergebnis städtebaulicher Präferenzen der frühen siebziger Jahre. Im Gegensatz zum eigentlichen Städtchen Kaiserbruch, das mit seiner intakten Stadtmauer und den kleinen Gässchen rund um den Kirchplatz ein beliebtes Ausflugsziel war, bot die gleich nebenan auf der grünen Wiese errichtete Siedlung, in der sich Osterfelds Zuhause befand, dem Auge kaum etwas reizvolles. Den Bewohnern schien der Aufmarsch unzähliger Polizeikräfte an diesem Freitagnachmittag eine angenehme Abwechslung von der gepflegten Langeweile zu sein, die Neu-Kaiserbruch ausstrahlte.
Das SEK hatte die Wohnung leer vorgefunden, von Osterfeld fehlte jede Spur. Die Spurensicherung war schon seit einiger Zeit zugange. Dennoch wurden Pesch, Lüttges und Delamotte am Eingang zur Wohnung aufgefordert, Handschuhe und Plastikhauben überzuziehen und sich nur innerhalb bereits untersuchter Bereiche zu bewegen.
Vorsichtig folgte Delamotte den beiden Kommissaren, und versuchte einen ersten Eindruck von Osterfelds Wohnung zu gewinnen. „Typische Männerwohnung“, dachte er beim Gang durch den Flur. Er sah nur praktische Gegenstände, etwa eine Garderobe, die aus den achtziger Jahren stammen mochte, und einen kleinen Telefontisch. Was völlig fehlte, war schmückendes Beiwerk wie Erinnerungsstücke an Reisen. Rechterhand lag die Tür zur Küche, Delamotte warf einen Blick hinein. Weitergehen konnte er nicht, die Kriminaltechniker hatten sich den Raum wohl gerade erst vorgenommen. Später würde er sich die Küche genauer anschauen, nahm der Psychologe sich vor. Der Inhalt von Kühlschrank, Schränken und Gewürzregalen würde ihm mehr Einblicke in das Leben des Uhu geben. Wobei ein Gewürzregal zumindest nicht an prominenter Stelle sichtbar war – neben dem Herd erkannte er nur einen Salzstreuer und eine Pfeffermühle.
„Ziemlich gruselig, was?“ Delamotte drehte sich um, hinter ihm stand Sabine Greven.
Er nickte ihr zu: „Das habe ich eben auch schon gedacht – diese Wohnung hat seit Jahren keine Frau mehr betreten, geschweige denn bewohnt.“
Sabine grinste: „Kein Wunder, jede Frau hätte spätestens im Flur kehrtgemacht.“ Dann wechselte sie das Thema: „Komm mal mit ins Wohnzimmer, wir haben da was gefunden, das Euch sicher interessiert.“
Er folgte ihr den Korridor entlang. Das Wohnzimmer war im Vergleich zum Rest der Wohnung überdimensioniert – in der linken Zimmerhälfte stand ein vermutlich recht alter, wuchtiger Schreibtisch. Pesch und Lüttges beugten sich über etwas, das auf dem Schreibtisch stand. „Markus, das musst du dir anschauen“, sagte der Hauptkommissar, als er Delamotte bemerkte.
Gegenstand des Interesses war ein hölzerner Kasten, in dem sich eine große Zahl von Karteikarten befand. „Ich nehme an, die passen zu dem Stück, das Ihr in Beyel gefunden habt“, sagte der Psychologe zu Sabine Greven. Sie nickte.
Lüttges reichte Delamotte eine Karte. „Kanalsanierung Robert Fricke“ lautete der Inhalt der ersten Zeile, gefolgt von einem KFZ-Kennzeichen und Beschreibung des Autos, dann einer Adresse und Telefonnummer. Die folgende Zeile beschrieb den Fahrer als „Dunkelblonder Mann Mitte Dreißig, Vokuhila, ziemlich übergewichtig“. Nach einer Leerzeile folgte dann ein mit Tathergang überschriebener Block: „16.05.2001, 7:15, kurz hinter AS Neuheim-West, dichtes Auffahren und Lichthupe in linker Spur.“
Delamottes Blick fiel auf den Kasten, der sehr gut gefüllt war. „Das müssen hunderte von Karten sein“, murmelte Pesch.
„Eher tausende, auf jeden Fall eine vierstellige Zahl“, warf Sabine ein.
„Wie kann das sein?“, fragte Lüttges fassungslos. „Sagen wir mal, er fährt 200 Mal im Jahr zur Arbeit. Hin- und Rückweg machen also 400 Fahrten. Mein Gott, er kann doch nicht fast jedes Mal bedrängt, rechts überholt oder geschnitten worden sein. Oder was auch sonst immer er als ‚Tathergang‘ erfasst hat.“
„Warum denn nicht?“, erwiderte Delamotte. „Er kann solche Situationen ja regelmäßig provoziert haben. Er ist langsam in der linken Spur gefahren, parallel zu einem LKW rechts. Ich gehe davon aus, dass er so vorgegangen ist.“
Pesch fragte Sabine: „Wann können wir dieses Zeug haben?“
Sie überlegte: „Am schnellsten wäre, wir scannen Euch die ganzen Karten heute noch ein. Oder spätestens morgen.“
„Was ganz merkwürdig ist“, sprach sie einer der Kriminaltechniker an und wies auf einen Drucker hin, der unter dem Schreibtisch stand, „wir haben hier einen Drucker. Wir haben einen Zugang zum Internet. Wir haben jede Menge Kabel.“ Er schüttelte den Kopf: „Aber wir haben weder einen PC, noch einen Laptop, und auch keinen Monitor. Zumindest bis jetzt noch nicht.“ Delamotte musste dem Mann recht geben, vermutlich hatte der Uhu zumindest mal einen Computer besessen.
„Könnt Ihr mal in die Küche kommen?“ Sabine hatte kurz mit einem anderen Kollegen gesprochen und ergänzte: „Sie haben da was im Papierkorb gefunden.“ Das fragliche Objekt lag auf dem Küchentisch – ein gerahmtes Foto, das Glas wies mehrere Sprünge auf. Delamotte erkannte einen brünetten Mann von etwa Ende Dreißig, eine erkennbar jüngere blonde Frau und zwei kleine blonde Jungs, die irgendwo um die drei oder vier Jahre alt sein mochten.
„Ist das Osterfeld“, fragte Pesch und wies auf den Mann.
Lüttges hatte das Foto aus der Personalakte besser im Kopf und nickte bestätigend: „Ja, das ist er. Das Bild muss schon etwas älter sein.“
„Haben wir eigentlich ein aktuelleres Foto von ihm?“, wollte Delamotte wissen.
„Bislang noch nicht“, sagte Lüttges, „wir hoffen, dass seine Kollegen vielleicht etwas haben.“
„Eine Frau und zwei Kinder“, murmelte Pesch, „das passt soweit ins Bild, nicht wahr?“
„Kann ich mich hier mal umgucken?“, fragte Delamotte.
Sabine nickte: „Ja, ich denke schon. Wir sind hier eigentlich durch.“
Der Psychologe begann seine Untersuchung mit dem Kühlschrank, der im Vergleich zu seinem eigenen ausgesprochen leer war. Es fand sich, was wohl zu erwarten war: Butter, Marmelade, ein paar angebrochene Packungen Aufschnitt, eine noch ungeöffnete Packung geschnittener Gouda. Im Obst- und Gemüsefach zwei Äpfel. Kein Gemüse. Das Fach für Fleischwaren war komplett leer. Entweder war der Uhu keiner, der gerne kochte, oder er hatte nicht vor, innerhalb kurzer Frist in die Wohnung zurückzukehren. Im Tiefkühlfach fand Delamotte lediglich eine angebrochene Plastiktüte mit grünen Erbsen, sowie ein Päckchen, dessen Inhalt laut Aufschrift „italienische Kräuter“ waren. Er schloss den Kühlschrank und widmete sich dem Schrank daneben. Olivenöl, Kochbeutelreis, Nudeln, dazu verschiedene Gemüsekonserven. Es wäre interessant zu wissen, dachte er, ob die Schule über eine voll funktionsfähige Kantine verfügte. Das Gymnasium war noch recht neu, der Gedanke läge also nahe – und das würde auch den reichlich traurigen Zustand von Osterfelds Küche erklären.
„Ich bin so ein Vollidiot!“ Delamotte drehte sich überrascht um. Pesch stand in der Küchentür – kurz dachte Delamotte an eine andere Begegnung der beiden, in der Küche der Familie Pesch, vor einigen Monaten. Der Hauptkommissar hielt ein transparentes Plastiktütchen in der Hand, aus dem so etwas wie ein Ausweispapier durchschimmerte. „Das haben die Kollegen gerade im Schlafzimmer gefunden“, sagte er.
„Was ist das?“, fragte Delamotte und kam näher. Es war tatsächlich eine Art Ausweis, er sah ein Passbild des Mannes auf dem Familienfoto, allerdings weitaus aktueller. Daneben die persönlichen Daten Leo Osterfelds. Samt einer Mitgliedsnummer, und einem Ausstelldatum. Und darunter, in Grün auf silbernem Untergrund, der Vereinsname. Bürgerlicher Schützenverein – Zeilenumbruch – Amicitia zu Marßen – Zeilenumbruch – gegründet 1911.
„Falls du dich nicht mehr erinnerst“, erklärte Pesch, „das ist dieser arrogante Haufen, die uns die Daten ihrer Mitglieder nicht freiwillig rausrücken wollten.“ Delamotte erinnerte sich sehr wohl, aber er war dezent genug, das Thema nicht selber anzusprechen. „Verdammt“, schimpfte Pesch, „Ludes hätte ohne Problem einen Gerichtsbeschluss erwirken können, und wir hätten die Daten bekommen.“ Er zeigte auf den Ausweis: „Inklusive der Daten von diesem Vogel hier. Und ich hab’s verkackt!“ Der Hauptkommissar wandte sich zum Gehen: „Jetzt werde ich die Daten von Osterfeld über Ludes bekommen, aber leider reichlich spät. Und ich will wissen, ob der Kerl auch ganz regulär im Besitz von Schusswaffen ist.“
Noch bevor Delamotte mit seiner Erkundung der Küche weitermachen konnte, erschien Lüttges. „Henseler hat gerade angerufen“, berichtete er, „offiziell verheiratet war Osterfeld nie. Die Kollegen erzählen aber unisono von einer längeren Beziehung, aus der zwei Kinder hervorgegangen seien. Und diese Partnerin und die gemeinsamen Kinder seien dann – so hat es Osterfeld selber wohl immer erzählt – bei diesem besagten Unfall getötet worden. Soweit das, was die anderen Lehrkräfte der Schule berichten können.“
„Wenn Niclas, Jutta oder Claudio sich das nächste Mal bei dir melden: fragst du sie bitte, ob die Schule eine richtige Kantine hat? Und falls ja, ob Osterfeld dort täglich gegessen hat“, bat Delamotte.
Lüttges nickte und ergänzte: „Ich habe gerade mal das Einwohnermeldeamt angerufen – mich würde interessieren, ob in dieser Wohnung außer Osterfeld selber mal jemand gemeldet war. Obwohl ich mir die Antwort schon denken kann.“
„Ich glaube, da denken wir beide das gleiche“, antwortete der Psychologe.
Delamottes weitere Untersuchung der Küche verlief genauso unspektakulär wie seine Streifzüge durch den Rest von Osterfelds Wohnung. Sabine Greven hatte von Grusel gesprochen, aber das mochte eine Spur übertrieben sein. Was das Zuhause aber über den Bewohner aussagte, passte durchaus zu dem Bild, das der Psychologe sich bereits seit langem vom Uhu gemacht hatte. Er war, zumindest nach außen hin, unauffällig, um nicht zu sagen langweilig. Das Innenleben dagegen, dies war Delamotte klar, mochte gänzlich anders aussehen. Gerade jetzt. Gerade in dieser Phase.
Am frühen Abend meldete sich das Team an der Schule noch einmal telefonisch bei Manni Lüttges. Viel über Osterfelds Privatleben konnten die anderen Lehrkräfte nicht berichten, er war ein Einzelgänger, der Kontakte über das rein berufliche hinaus meist vermieden hatte. Und ja, die Schule hatte eine laut Aussage der Konrektorin wohl ganz hervorragende Kantine, die Osterfeld auch täglich besucht hatte.
Pesch hatte in der Zwischenzeit eine bundesweite Fahndung nach Osterfeld initiiert, verdächtig des elffachen Mordes. Das Foto vom Mitgliedsausweis des Schützenvereins würde allen Polizeidienststellen zugehen, ebenso Beschreibung und Kennzeichen von Osterfelds Auto. Von nun an würden alle Polizeistreifen im Land Ausschau halten nach Leo Osterfeld. Zumindest theoretisch.