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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 26
Pesch sah müde aus. Klar, dachte sich Delamotte, er hatte vermutlich die Nacht durchgemacht. Aber das war es nicht alleine. Der Psychologe erinnerte sich an das Gespräch, dass er vor scheinbar unendlich langer Zeit mit Ali geführt hatte, über Peschs Verletzlichkeit. Seither hatte der erfahrene Hauptkommissar immer wieder mal Momente gehabt, in denen ihm anzumerken gewesen war, wie sehr dieser Fall ihn an seine Grenzen brachte. Oder auch darüber hinaus. Doch noch nie hatte Delamotte das so deutlich gespürt wie in diesem Augenblick im Besprechungsraum des Dezernats.
Lüttges, Maas, Marino und Henseler saßen am Tisch, ebenso wie Sabine Greven, Hugo Alvarez und Doc Wittmann. Niclas hatte Delamotte bereits auf dem Korridor knapp über die Ereignisse des späten Abends berichtet – nicht nur über den Mord, sondern auch über den Blumenstrauß, der bei Sabrina Rosen eingegangen war. Delamotte hatte keinen Zweifel, dass der Absender der Blumen mit dem Mörder des Anwalts identisch war. Henseler sah dies ähnlich: „Er spielt mit uns.“
„Nein, das tut er nicht“, hatte der Psychologe widersprochen. „Er will nur, dass wir das glauben.“
Alvarez hatte noch nicht alle Untersuchungen an dem Projektil abgeschlossen, war sich jedoch ausgesprochen sicher. „Gleiches Kaliber, die Eindruckspuren an der Hülse passen auf jeden Fall. Es sieht sehr stark danach aus, dass wir es wieder mit dem Uhu zu tun haben.“
Pesch nickte und wandte sich Lüttges zu: „Kannst du im Nachgang bitte mit Markus zum Tatort fahren?“ Dann blickte er Delamotte an: „Ohne dir vorweggreifen zu wollen – ich war diese Nacht vor Ort, die Gegend dort erinnert mich sehr an die Tatorte in Vernay, in Heppel oder auch in Burbach. Also Holzweiler, um genau zu sein. Vielleicht noch ein bisschen schicker.“ Er überlegte eine Weile, bevor er weitersprach: „Auf Basis dieser ersten Eindrücke – was sagt dir das? Was sagt dein Bauchgefühl?“
Delamotte zögerte ein wenig; wieder kam ihm das Gespräch mit Ali in den Sinn, bei Rotwein und Arak. Sollte sein Bauchgefühl jetzt wirklich die Karriere von Hans-Jakob Pesch retten? Spielte das überhaupt eine Rolle? Durfte es überhaupt eine Rolle spielen? Nein, dachte er, das durfte es nicht – es ging um niemandes Karriere. Es ging um den Uhu. Und es ging um Delamottes Fähigkeiten. Ob Peschs Karriere davon abhing oder nicht.
Er räusperte sich: „Fangen wir mit dem Offensichtlichsten an. Zum ersten Mal hat ihn jemand bewusst gesehen. Und dass die Frau des Opfers ihn beschreiben kann, zumindest in groben Zügen, muss ihm klar gewesen sein.“
„Eins Achtzig groß, schlank, mittleres Alter“, warf Henseler ein, „das Alter passt genau zu deinem Profil. Und die ganze Beschreibung stimmt ziemlich gut mit dem überein, was die Witwe von diesem Malermeister erzählt hat. Viel Neues haben wir hier also nicht.“
Delamotte ging direkt darauf ein: „Entscheidend ist: all das konnte der Uhu nicht wissen. Er kannte das Profil nicht, und auch nicht die Aussage von Manuela Sötenich. Es sei denn, er säße hier mitten unter uns.“ Er lächelte: „Nein, bisher konnte er davon ausgehen, dass wir keinerlei Idee haben, wie alt er ist, wie groß er ist, welche Statur und so weiter.“
Sein Blick glitt über die Anwesenden. Er fuhr fort: „Und trotzdem tötet er den Anwalt vor den Augen seiner Frau. Und die Frau lässt er leben. Dass wir nun vielleicht Dinge über ihn erfahren, die wir vorher nicht mal ahnen konnten – es ist ihm egal.“
„Was bedeutet das?“, drängte Pesch.
„Darauf komme ich noch“, erwiderte Delamotte, „lass mich erst noch eine Frage loswerden: was für einen Wagen fuhr der Anwalt?“
Henseler antwortete: „Mercedes, gleiches Modell wie Jakob.“
„Das meinte ich nicht“, sagte Delamotte.
„Ich weiß“, erwiderte Henseler mit dem Anflug eines Grinsens, „ich habe mir das Auto diese Nacht mal angeguckt, er stand vor der Garage. Nein, kein Werbeaufdruck. Weder links noch rechts noch auf der Heckscheibe. Nichts.“
Der Psychologe nickte, so etwas hatte er erwartet. „Niclas, frag bitte mal bei der Witwe nach, ob Strack früher mal einen Wagen mit Firmenaufdruck hatte“, bat Pesch. Henseler machte sich eine Notiz.
Marino erwähnte ihre Diskussion vom Vortag. „Alter, wenn der Kerl nicht einfach wieder einen von seiner Liste umgebracht hat“, sagte er, „ist es dann vielleicht diese andere Variante, die du für möglich gehalten hast? Dass er zum Ursprung zurückkehrt?“
„Was für ein Ursprung?“, fragte Pesch.
Delamotte griff den Gedanken wieder auf: „Eines erscheint mir ganz klar zu sein – alle Opfer, die der Uhu bislang gefordert hat, waren ein Stück weit Ersatz für etwas anderes.“ Auf persönlicher Ebene, führte er aus, hatte der Täter mit keinem der Opfer jemals eine Auseinandersetzung gehabt – von Sötenich bis Zerres.
„Du meinst, mit diesem Anwalt hätte er schon mal zu tun gehabt“, warf Lüttges ein.
„Ich meine im Moment noch gar nichts“, erwiderte Delamotte, „aber ich halte es für möglich, ja. Wenn dieser Anwalt weder anhand seines Autos identifizierbar war, noch durch besonders sportliche Fahrweise aufgefallen ist – wie ist der Uhu dann auf ihn aufmerksam geworden?“ Er blickte in Peschs Richtung: „Falls die Verwechslung dieser beiden Krankenschwestern ihn wirklich tief getroffen hat, falls ihm klargeworden ist, dass er Menschen tötet, die ihm nichts angetan haben.“
Nach einer künstlerischen Pause sprach Delamotte weiter: „In dem Fall könnte er zu dem Schluss gekommen sein, sich dem Ursprung seiner Mordwünsche zu nähern.“
Der Hauptkommissar nickte: „Du hast sowas schon mal erwähnt. Ein traumatisches Erlebnis als Auslöser dieser Mordserie.“
Delamotte bestätigte: „Das könnte eine Scheidung gewesen sein, ein Jobverlust. Der Tod einer nahestehenden Person.“
Maas stimmte ihm zu: „Bei solchen Sachen ist meistens ein Rechtsanwalt involviert, oder auch mehrere.“
„Und was schlägst du vor?“, wollte Pesch von Delamotte wissen.
„Nehmt Euch mal alle Fälle vor, die Rechtsanwalt Strack zwischen Mitte 2002 und Mitte 2003 zu Ende geführt hat“, empfahl der Psychologe. „Wenn meine Vermutung in die richtige Richtung geht, könnte irgendwo in diesem Wust der Uhu stecken.“
„Das Jahr, bevor die Mordserie losging, das leuchtet ein“, sagte Pesch, bevor er Marino anblickte: „Claudio, das ist deiner – sprich mit der Kanzlei, wir brauchen diese Akten.“
Bevor der Hauptkommissar die Runde beenden konnte, brachte Delamotte noch einen Gedanken an: „Ich habe da noch was – es geht um diese Blumen für Sabrina Rosen.“ Er bemerkte durchaus, dass Pesch dieses Thema gerne vermieden hätte. „Ich weiß, das ist jetzt etwas unangenehm für uns alle“, sagte er.
„Der Kerl hat uns gewissermaßen verhöhnt“, ergänzte Maas.
Delamotte nickte: „Ja, das sehe ich auch so. Die Blumen hat der Uhu geschickt.“ Die Artikel im „Blitz“ waren zu plakativ gewesen, der Täter hatte die Falle gewittert und sich einen Spaß mit der Polizei erlaubt. „Das ist zum Teil ein gutes Zeichen, er wird etwas arrogant – er will den Eindruck erzeugen, klüger zu sein als wir alle“, schloss er ab.
„Ich spreche eh gleich mit den Mädels von diesem Lieferservice“, sagte Maas, „da kann ich gleich mal fragen, ob der Rosenkavalier persönlich dort war. Vielleicht bekommen wir ja eine weitere Personenbeschreibung.“

„Was war das eben mit diesem wahren Ursprung der Mordserie?“, fragte Manni Lüttges, als der Audi in den Tunnel unter dem Hohenzollernufer einfuhr.
„Nur so eine Idee, oder eher ein Erklärungsansatz, was den Uhu angeht“, antwortete Delamotte, „ein Ansatz allerdings, der mir immer stichhaltiger vorkommt.“
„Und der wäre?“, wollte Lüttges wissen.
Der Psychologe setzte an: „Wir haben uns in den letzten Monaten immer wieder gefragt: was treibt diesen Kerl an? Irgendwann haben wir rausgefunden, dass seine Opfer sportliche und vielleicht manchmal auch risikobereite Autofahrer waren.“ Er spürte, was der Kommissar einwenden wollte, und ergänzte: „Zumindest hat unser Täter Grund zu solchen Annahmen gehabt, oder zumindest geglaubt, diesen Grund zu haben.“ Lüttges stimmte zu.
„Wir haben nach Angehörigen von Unfallopfern gesucht, und bei Brückner sah es kurz so aus, als kämen alle Teile des Puzzles zusammen“, fuhr Delamotte fort.
„Na ja, fast alle“, sagte Lüttges, „du hattest ja zu recht deine Zweifel, sogar nach dem Fund seiner Leiche.“
Sie passierten die Kaiser-Wilhelm-Brücke, bevor der A4 auf der westlichen Seite des Flusses wieder unter der Erde verschwand. „Wenn der Uhu tatsächlich jemanden durch einen Unfall verloren hat, der ihm sehr nahestand, und das ist ein großes Wenn“, erläuterte Delamotte, „dann liegt das schon lange zurück. Sehr lange. Viel länger zum Beispiel als der Tod von Brückners Tochter.“
„Weil der Kerl schon so lange dabei ist, Daten potenzieller Opfer zu sammeln“, erwähnte Lüttges.
„Unter anderem“, bestätigte sein Beifahrer, „seine Mordfantasien gehen jedenfalls viele Jahre zurück. Und trotzdem hat er erst vor gut einem Jahr angefangen, sie umzusetzen.“
Kurz hinter dem Boulevard kamen sie wieder ins Tageslicht eines vergleichsweise grauen Spätsommertages. Lüttges setzte den Blinker und fädelte in die rechte Abbiegerspur ein. „Also sind wir noch nicht am Ursprung der Morde angekommen“, sagte er.
Delamotte nickte: „Wenn meine Vermutung bezüglich des Anwalts zutrifft, nein. Dann sind wir bei dem Ereignis, das den Uhu dazu gebracht hat, von der Fantasie zur Ausführung überzugehen.“ Als der Wagen in ein Wohngebiet einfuhr, ergänzte er: „Aber ich könnte mir vorstellen, dass unser Täter gerade auf dem Weg zum eigentlichen Ursprung der Mordserie ist.“
„Mit dem Umweg über den unmittelbaren Auslöser?“, fragte Lüttges.
„Ganz genau“, erwiderte Delamotte.

Manni parkte am Straßenrand, die beiden stiegen aus. Das Haus der Stracks lag direkt vor ihnen. „Was ist mit der Frau?“, wollte Delamotte wissen.
Lüttges antwortete: „Bei ihrer Schwester in Reven.“
Der Psychologe blickte sich um; Pesch hatte mit seiner Beschreibung keineswegs falsch gelegen, die Ähnlichkeit mit einigen anderen Tatorten war verblüffend, insbesondere mit dem allerersten. Nicht einmal fünf Monate war das her, wie Delamotte einfiel, dass er mit Manni den Ort besucht hatte, an dem Sötenich erschossen worden war. Anders als seinerzeit glaubte er allerdings nicht, dass aus diesem Tatort irgendwelche Rückschlüsse auf den Täter zu ziehen waren.
Bis auf einen, korrigierte er sich, als er die vielen Fenster bemerkte, die offenbar den ungestörten Blick auf die Straße ermöglichten – überwiegend aus Wohnzimmern, hatte er den Eindruck. In Verbindung mit den vergleichsweise dicht angeordneten Laternen, die die Herrmann-Josef-Straße abends bestimmt in ein wohliges Licht tauchten, ohne dunkle Ecken wie beispielsweise in der Beyeler Nachbarschaft Silvio Fischers, konnte er nur eine Schlussfolgerung daraus ziehen.
Was ist los mit dir, du Vogel? Du hast dir immer solche Mühe gegeben, unerkannt zu bleiben. Hast dich hinter Bäumen versteckt, hinter Autos, oder im Dunkel einer kleinen Brücke über die Siever. Gewiss, bei Fischer ist etwas schiefgelaufen und du musstest aus deinem Versteck in dieser dunklen Gasse herauskommen. Aber geplant war das nicht. Sogar beim Mord an der jungen Krankenschwester konntest du mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass auf einer Landstraße kurz vor Altenstein um die Zeit nicht allzu viel Verkehr sein würde.
Aber hier? Die Frau des Opfers hat dich gesehen, und auch wenn es schon auf Mitternacht zuging: manche Leute haben die Rollladen auch dann noch oben. Schalten vielleicht gerade das Licht im Wohnzimmer aus, bevor sie schlafen gehen. Gucken noch mal nach draußen. Sehen, dass dort ein Fremder rumlungert. Rufen vielleicht die Polizei. War dir das alles egal? Warum hast du der Frau des Anwalts nicht gleich deine Visitenkarte gegeben, mit Name, Anschrift, Telefonnummer?
Oh, sicher, du hast noch etwas vor! Ein paar Pläne, die du noch umsetzen willst. Aber das sind nicht die gleichen Pläne, die du vorher hattest, nicht wahr? Ich glaube, du verfolgst jetzt Pläne mit einem definierten Endpunkt. Und ich könnte mir denken, dieser Endpunkt ist nicht hier in Marßen. Hab ich recht?

Er gab Manni ein Zeichen. Die beiden Männer spazierten schweigsam die Straße hinunter, bis zum Ufer. Majestätisch floss der große Strom an ihnen vorbei, Frachtschiffe passierten die Stadt, stromabwärts Richtung Holland, stromaufwärts bis hinauf an die Schweizer Grenze.
Die Zeitläufe mögen sich ändern, dachte Delamotte, aber der Strom blieb sich immer gleich. Wo schon vor Jahrhunderten die Schiffe der Sterckarms, der Grothmanns, der van Lohnens und wie sie alle hießen vorbeigefahren waren an der Stelle, die einst als Hinrichtungsstätte außerhalb der Stadtmauern gedient hatte, da passierten heute die Containerschiffe internationaler Reedereien ein bürgerliches Wohnviertel. Aber der Fluss war immer noch derselbe.
„Du rauchst schon lange nicht mehr, nicht wahr“, durchbrach Delamotte das Schweigen.
Lüttges nickte: „Seit vier Jahren – na ja, fast…“ –
„Schade“, sagte der Psychologe.
„Ich kann dich gut verstehen“, antwortete der Kommissar mit einem Lächeln.
„Weißt du“, wechselte Delamotte das Thema, „irgendwie glaube ich nicht, dass der Uhu aufgrund eines tödlichen Unfalls zum Mörder geworden ist. Das passt nicht.“ Lüttges blickte ihn interessiert an. „In dem Fall wäre er schon viel früher auffällig geworden. Und er hätte nicht irgendwelche Ersatzopfer gesucht.“

Am frühen Nachmittag kamen die Ermittler wieder im Besprechungsraum zusammen. Henseler hatte die Witwe von Rechtsanwalt Strack telefonisch erreicht. „Der Anwalt hat nie Werbeaufdrucke auf seinen Fahrzeugen gehabt. Nicht einen einzigen“, berichtete der junge Kommissar. „Es widersprach seinen ethischen Prinzipien, so hat sie es ausgedrückt. Die einzige legitime Werbung eines Anwalts sei der Erfolg für seine Mandanten, hat er wohl immer gesagt.“
Pesch schien mit dieser Wendung nicht ganz klarzukommen. „Wissen wir denn wenigstens, was für einen Fahrstil er hatte?“, wollte er wissen.
Lüttges konnte mit der Information dienen: „Ein paar Bagatellsachen, und auch da liegt die letzte Tempoüberschreitung schon sechs Jahre zurück. Das muss natürlich nichts heißen, vielleicht hat er Glück gehabt, aber…“ Er musste nicht weitersprechen. Jedem am Tisch war klar, dass selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Strack ein selten erwischter Raser gewesen wäre, das wesentliche Element seiner Identifizierung durch den Uhu fehlte.
Marino hatte sich mit einer Mitarbeiterin der Kanzlei zusammengesetzt. „Strack hatte mit Verkehrssachen schon mal nichts zu tun“, erzählte er, „der Anwalt war spezialisiert auf Arbeitsrecht, Mietsachen, zum Teil auch Familienrecht – Scheidungen, Unterhaltsfragen, Sorgerecht, auch Erbstreitigkeiten.“
„Verdammt, da sind ja die ganzen richtig emotionalen Sachen dabei“, warf Maas ein, „das riecht nach vielen potentiellen Verdächtigen.“ Delamotte blickte in die Runde und erkannte, dass Jutta mit dieser Einschätzung nicht alleine war. Die Kanzlei würde bis zum nächsten Morgen die Akten aller Fälle Stracks zwischen dem 1. Juli 2002 und dem 30. Juni 2003 zusammenstellen und der Polizei übergeben.
Jutta selber hatte am Vormittag das Büro des Lieferservices in Rödinghausen aufgesucht. Der Kunde, der Sabrina Rosen den Blumenstrauß geschickt hatte, war am frühen Nachmittag persönlich bei der Firma gewesen.
„Die Beschreibung, die die beiden Mädels mir gegeben haben, passt zu dem, was die Witwe des Anwalts gesagt hat, ist sogar noch etwas genauer“, sagte die Kommissarin. „Etwa Eins Achtzig groß, schlank, irgendwo Anfang oder Mitte Fünfzig. Dunkelblondes oder hellbraunes Haar, da waren die beiden sich nicht ganz einig“, fuhr sie fort. „Wo sie sich aber absolut einig waren: grau-blaue Augen und ein sehr intensiver Blick.“
Lüttges blickte auf: „Die Ex von Sötenich hat bei der Beschreibung des Mannes, der ihr vor Jahren schon aufgefallen ist, auch von einem intensiven Blick gesprochen.“
Delamotte bestätigte: „Da passt dann auch das Alter – er soll ungefähr so alt wie ihr Mann gewesen sein, hat Manuela Sötenich erwähnt.“
Einen weiteren Punkt hatte Maas noch: „Beide meinten, dem Akzent nach sei der Mann kein echter Marßener gewesen.“
„Was meinen sie denn damit?“, fragte Henseler. „Ein Ausländer etwa?“
Maas verneinte: „Kein Ausländer. Die Mitarbeiterinnen in dem Büro sagten, er sei schon ein Deutscher gewesen. Er habe aber anders gesprochen als die echten Marßener, wie eine der beiden das nannte, und auch anders als die Leute im Fernsehen. Also wohl kein perfektes Hochdeutsch.“
„Ob das wirklich eine Erkenntnis ist“, zweifelte Pesch.
Maas war davon überzeugt: „Beide sind keine Muttersprachlerinnen – die eine stammt aus Litauen, die andere aus der Ukraine. Zuwanderer haben oft ein besseres Gespür für sprachliche Feinheiten – besonders, wenn sie wie diese beiden schon ein paar Jahre hier sind.“

Er stellte den Teller, die kleine Salatschüssel und das Besteck in die Spüle. Der Geruch des gerade verzehrten Ribeye-Steaks waberte noch durch die Küche. Delamotte setzte heißes Wasser auf füllte einen seiner Lieblingstees in einen dafür vorgesehenen Beutel. Das rauchige Aroma des Lapsang Souchong würde zu der Duftnote des Steaks gut passen, dachte er. Neben dem Geschmack schätzte Delamotte die kurze Ziehzeit des Tees; ein beruhigender Kräutertee wäre an diesem Abend vielleicht die besser Wahl, zumal Delamotte nach Möglichkeit auf Alkohol verzichten wollte. Aber schließlich ging es ihm auch um den Genuss, und sobald das heiße Wasser in der Teekanne landete, regte sich bei ihm die Vorfreude.
Im Arbeitszimmer grübelte Delamotte über die jüngsten Wendungen des Falles. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Uhu gerade eine entscheidende Richtungsänderung vorgenommen hatte. Bislang fand der Psychologe seine Annahme bestätigt, der Fehler bei der Auswahl seines letzten Opfers – seines vorletzten, wie Delamotte rasch wieder einfiel – könnte den Täter derart stark erschüttert haben, dass er sich auf den Weg zu den Wurzeln seines Mordtriebs machen würde.
Fast war er geneigt, von zwei Mordserien auszugehen. Eine hatte mit Karlheinz Sötenich begonnen und mit Monika Zerres geendet – begangen von einem mysteriösen Killer, dem der Beiname Uhu durchaus passte, obschon der ausgerechnet in den Redaktionsstuben des „Blitz“ entstanden war. Und nun war Erhardt Strack zum ersten Opfer eines anderen Mörders geworden, der mit dem Uhu wohl den Körper teilte, nicht aber unbedingt den Geist. Bestenfalls zu einem Teil.
Was den Uhu ins Leben gerufen hatte – in den todbringenden Teil seines Lebens zumindest – lag mit Sicherheit nicht weit in der Vergangenheit. Das, was den Täter dann endgültig zur Waffe hatte greifen lassen, konnte durchaus mit dem Rechtsanwalt zu tun haben. Was könnte traumatisch genug sein, um einen bis dahin schlafenden Mörder im Körper eines nach außen hin vergleichsweise unauffälligen Zeitgenossen zu wecken? Delamotte dachte vorrangig an besonders emotionale Auseinandersetzungen, die vor Gericht ausgetragen wurden.
Scheidungen schienen ihm naheliegend, besonders solche der schmutzigeren Art. Streitigkeiten um das Sorgerecht konnte er sich nicht vorstellen – zum einen weigerte er sich weiterhin zu glauben, dass der Täter jemals tiefe väterliche Empfindungen gehabt hatte. Und zum anderen war er allem Anschein nach auch schon ein bisschen zu alt für derartige Auseinandersetzungen.
Da käme dann eher schon das Arbeitsrecht infrage. Angst vor dem Jobverlust, vielleicht sogar Existenzängste – das war bei einem Mann über Fünfzig weit eher denkbar als bei Jüngeren. Besonders dann, wenn der Betroffene sich sehr stark über seinen Job definierte, oder so spezialisiert war, dass eine anderweitige Tätigkeit für ihn undenkbar schien.
Doch selbst wenn sich in den Akten der Kanzlei Strack irgendwo ein Hinweis auf die Identität des gesuchten Serienmörders fand – der tieferliegende wahre Ursprung seines Tuns war Delamotte immer noch ein Rätsel.
Das Alter des Täters ließ den Psychologen nicht los. Der Uhu hatte aller Wahrscheinlichkeit nach erst mit über Fünfzig das Morden begonnen. Dies passte nicht wirklich zu allem, was Delamotte in Studium und Beruf gelernt hatte. Wenn es einen typischen Serienmörder überhaupt gab, dann war er zwischen 25 und 45 Jahre alt – so hatte er es bereits von Ray Greene gelernt. Einen kurzen Moment lang überlegte er, Ray anzuschreiben – die Meinung seines alten Dozenten wäre ihm durchaus wichtig. Er widerstand diesem Impuls und widmete sich wieder dem Gegenstand seiner Betrachtungen. Es war offensichtlich, dass der Uhu bereits Jahre vorher mit dem Gedanken gespielt hatte, Menschen zu töten. Er hatte sich nachgerade vorbereitet darauf. Entsprechende Fantasien mochte er bereits mit etwa Vierzig gehabt haben – aber getötet hatte er da noch nicht.
Was für ein Typ warst du vorher? Du bist so etwa zwanzig Jahre älter als ich. Was für ein Typ warst du in meinem Alter? Das muss also in den 80er Jahren gewesen sein. Bist du damals auf Demonstrationen gegangen, oder hast du dich auf die Karriere konzentriert? Vielleicht sehe ich das auch zu sehr durch die westdeutsche Brille. Vielleicht bist du ja ein Ossi, so wie Brückner. In dem Fall: bist du 1989 an Montagen auf die Straße gegangen, oder warst du in der Partei? Und egal, wo du aufgewachsen bist: warst du der Mittelpunkt jeder Féte, oder eher einer von den Stillen? Ich glaube fast, die Antwort auf diese Frage kenne ich schon. Aber was mich wirklich interessiert: steckte all das damals schon in dir drin? Dieser ganze mörderische Wahnsinn?
Delamotte schüttelte den Kopf über seinen emotionalen Ausbruch. Ja, irgendwann würde sich die Frage stellen, wie dieser Mann, den er und seine Kollegen zu stellen versuchten, zu einem Mörder geworden war. Momentan aber war die Frage belanglos.
Er blickte auf die Uhr, müde war er bestenfalls körperlich, aber sein Geist konnte nicht wirklich zur Ruhe kommen. Delamotte ging ins Wohnzimmer, öffnete die rechte Tür des Schrankes. Den Cognac hatte er seit dem Umzug noch nicht angefasst. Er war mild, nicht gerade preiswert, und würde ihm zur notwendigen Bettschwere verhelfen.

Delamotte hatte gerade gefrühstückt, als sein Handy klingelte. Wieder mal sah er eine unbekannte Nummer im Display. „Guten Morgen“, hörte er eine etwas zögerliche Frauenstimme, „Kommissar Lüttges hat mir ihre Nummer gegeben. Ich bin Sabrina Rosen.“
Nichts in der Stimme erinnerte ihn an die lebenslustige junge Frau, die Marino erst vor Kurzem so schelmisch angezwinkert hatte. „Ich brauche einen Rat von Ihnen“, sagte sie. „Dafür bin ich ja da“, erwiderte Delamotte, „worum geht es denn?“
Die Krankenschwester schüttete ihr Herz aus. Pesch hatte entschieden, die Personenschützer abzuziehen, und sie machte sich Sorgen um ihre Sicherheit. „Dieser Kerl hatte es doch wohl eigentlich auf mich abgesehen, oder?“, fragte sie.
Delamotte stimmte ihr zu: „Davon gehe ich auch aus. Ich glaube aber nicht, dass er noch an Ihnen interessiert ist, sozusagen.“
Sie schien nicht überzeugt: „Sind Sie sich da sicher?“
Er erklärte ihr seine Vermutung, dass der Uhu aufgrund der Verwechslung zwischen ihr und Monika Zerres sein Beuteschema geändert hatte.
„Aber warum hat er mir dann diese Blumen geschickt?“, wollte sie wissen.
„Ich glaube nicht mal, dass die Blumen Ihnen galten, Frau Rosen“, antwortete Delamotte. Der Täter habe zumindest ahnen können, dass die Artikel im „Blitz“ von der Polizei lanciert worden waren. „Die Möglichkeit, dass dahinter eine Falle für ihn steckte, musste er zumindest bedenken“, erklärte er. Und die Erleuchtung – dass er die ganze Zeit auf dem falschen Weg gewesen war – verdankte er somit der Polizei. Genauer gesagt Pesch, aber das erwähnte Delamotte nicht.
„Mir ist trotzdem sehr unwohl bei der Sache“, klagte die blonde Krankenschwester.
Delamotte konnte sie gut verstehen. Ihm kam eine Idee: „Sagen Sie, könnten Sie vielleicht kurzfristig Urlaub nehmen?“
„Das brauche ich gar nicht“, sagte sie, „wegen der psychischen Belastung bin ich bis auf Weiteres krankgeschrieben.“
„In dem Fall könnten Sie ja durchaus etwas unternehmen“, riet Delamotte, „zum Beispiel für ein paar Tage ans Meer fahren.“
Sabrina Rosen stimmte ihm zu. „Ich denke, die weitere Richtung dieses Falles wird sich recht bald klären“, sagte der Psychologe, „und das wird Ihnen dann auch die Sicherheit geben, dass der Kerl Sie nicht mehr auf dem Radar hat. Und mit Sicherheit findet sich doch auch jemand, der Sie für ein paar Tage begleiten kann, nicht wahr?“
Er hörte sie relativ befreit lachen: „Der findet sich auf jeden Fall. Vielen Dank für den Rat, das hat mir sehr geholfen.“
Delamotte lächelte: „Jederzeit gerne, Frau Rosen.“

„Ach du meine Güte“, entfuhr es Delamotte, als er am Vormittag im Besprechungsraum ankam. Ein ganzer Berg von Akten stapelte sich auf mehreren Tischen, die die Ermittler an den Wänden platziert hatten. Die Mitarbeiter der Kanzlei Strack hatten alle angeforderten Vorgänge rausgesucht und der Polizei zur Verfügung gestellt.
„Fast 150 Fälle“, erklärte Lüttges.
„Und die Leute in der Kanzlei sind wirklich auf Zack“, ergänzte Henseler. Jedem Fall hatten sie ein Vorblatt hinzugefügt, mit einer kurzen Erläuterung, worum es bei dem Rechtsstreit ging.
„Und hier haben wir noch eine tabellarische Übersicht aller Fälle“, sagte Lüttges und zeigte Delamotte ein einzelnes Dokument, „das ist ein ziemlich bunter Strauß, wenn du mich fragst. Familienrecht, darunter mehrheitlich Scheidungen, Arbeitsrecht, Disziplinarrecht, Mietrecht.“ Auch wenn sich der Uhu in einer dieser Akten verbarg, so war doch klar, dass die Suche vermutlich keinen schnellen Treffer hervorbringen würde.
„Wie die Stecknadel im Heuhaufen“, bemerkte Maas.
Marino betrat den Raum. „Hast du irgendeinen Tipp, Alter, womit wir anfangen sollten?“, wollte er wissen.
„Guckt Euch erst mal die Scheidungen an“, antwortete Delamotte.
Lüttges fragte ihn nach dem Grund. „Kein besonderer Grund“, erwiderte der Psychologe, „eher Bauchgefühl. Scheidungen scheinen mit am ehesten geeignet, emotionale Belastungen auszulösen. Vor allen Dingen solche, die nicht im beiderseitigen Einvernehmen erfolgen.“ Er überlegte eine Weile, bevor er weitersprach: „Konzentriert Euch auf solche Fälle bei denen die Frau die Scheidung verlangt hat. Und dort, wo der Mann die treibende Kraft ist, oder die Trennung vermeintlich einvernehmlich ist – guckt nach Aussagen über Untreue der Frau.“ Solche Fälle, glaubte er, könnten einen Mann ganz besonders in emotionale Ausnahmezustände versetzen.
„Nach den Scheidungen dann die anderen familienrechtlichen Dinge – Erbstreitigkeiten und sowas. Danach die Fälle zum Arbeits- und Disziplinarrecht – achtet besonders auf solche Männer, deren Beruf gleichzeitig so etwas wie eine Berufung ist. Die sich stark über ihren Beruf definieren.“ Pesch stand in der Türe und hörte interessiert zu. Einen Punkt hatte Delamotte noch: „Denkt daran, unser Täter ist schon ein gestandener Mann, um die Fünfzig. Und er kann verdammt gut schießen.“
Der Hauptkommissar nickte anerkennend: „Sehr gute Hinweise, Markus. Sabine hat übrigens gerade angerufen, sie hat da was gefunden. Kannst du sie bitte mal in der Lennéstraße besuchen?“

Der Monitor war fast die einzige Lichtquelle im Arbeitszimmer. Lediglich eine Stehlampe in der Ecke hatte Delamotte eingeschaltet, als es draußen langsam dunkel geworden war. Der in diesem Jahr vergleichsweise kurze Sommer schien schon dem Ende entgegen zu gehen. Was für ein Kontrast zum langen Jahrhundertsommer des Vorjahres.
Die Kriminaltechniker hatten unweit des Tatorts in Galgenwart ein Stück Verpackung von einem Hustenbonbon gefunden. Es war zwar eine andere Marke, aber der Fingerabdruck passte zu dem auf dem Fundstück aus dem Münsterland, wie ihm Sabine Greven mitgeteilt hatte. Das war zwar keine neue Erkenntnis, aber zumindest ein weiteres Beweisstück für einen Prozess. Wobei Delamotte Zweifel daran hatte, ob der Uhu jemals vor Gericht landen würde.
Nach einem Mittagessen in Begleitung von Sabine und Hugo Alvarez war Delamotte noch einmal in den Besprechungsraum gegangen. Die Ermittler hatten bereits einige Namen aufgeschrieben, für die eines der Verfahren der Kanzlei Strack traumatisch gewirkt haben könnte. Dem Psychologen war beim Gespräch mit Pesch aufgefallen, wie sehr sie alle noch im Konjunktiv unterwegs waren. Er hoffte, in den Akten würde sich irgendetwas Konkreteres finden. Pesch hatte ihn dann rasch nachhause geschickt, das Studium der Akten war für ihn klassische Ermittlerarbeit, wie er das gerne nannte. „Morgen früh um neun treffen wir uns wieder hier“, hatte Pesch gesagt, „bis dahin sollten wir zumindest mit den Scheidungen durch sein.“
Delamotte hatte einen Umweg über Neringen genommen. Nach einer kurzen Plauderei hatte ihm Hilbert einen neuen Wein aus Moldawien präsentiert. „Der wird dort gezielt für eine Handelskette in Großbritannien produziert, daher auch der englische Name. Über meinen Importeur komme auch ich an diesen Tropfen.“ Delamotte war durchaus angetan gewesen, und hatte drei Flaschen mitgenommen – zu einem deutlich geringeren Preis als er für den Vorzeigewein des Landes gezahlt hatte. Zudem war ihm in einer Ecke der kalifornische Rosé ins Auge gesprungen, den er seinerzeit im Bon Temps bestellt hatte. Auch von diesem Wein hatten drei Flaschen den Besitzer gewechselt.
Die neu erstandenen Weine lagen nun im Keller. Von dort hatte er einen Rosé aus dem Languedoc mit in die Wohnung genommen und kaltgestellt. Ein Glas davon stand vor ihm auf dem Schreibtisch, während er mit Ray Greene chattete. Er hatte seinen alten Lehrmeister dann doch angeschrieben, und Ray half seinen früheren Schülern wann immer sie der Hilfe bedurften. „Mir scheint, du bist ein bisschen zu sehr auf die Scheidungen fokussiert“, las Delamotte. „Sei mir nicht böse, wenn ich so persönlich werde“, schrieb Ray, „aber könnte es vielleicht sein, dass die schmerzhaften Umstände deiner eigenen Trennung in dieser Frage deine Objektivität untergraben?“ Markus Delamotte musste eingestehen, dass diese Frage sehr berechtigt war. Sie war bereits in seinem Hinterkopf aufgeflackert, als er den Ermittlern seine Hinweise zur Suche gegeben hatte. Ja, seine persönlichen Befindlichkeiten musste er viel stärker ausblenden, als er das in jüngster Zeit getan hatte.
Sie wechselten langsam zu privaten Themen über. Ray riet ihm, die nach der Trennung von Sonja gewonnene Freiheit zu nutzen, um sich den Menschen wieder zu öffnen. „Erinnere dich an deine Zeit bei uns“, empfahl Ray, „du warst jedermanns bevorzugter Gesprächspartner. Alle wollten was mit dir unternehmen. Charlie hat dich nach Louisiana mitgenommen, Bob in die Rocky Mountains. Und die Mädels am College waren alle vernarrt in dich.“ Delamotte lächelte breit, ein wenig schien ihm sein alter Mentor hier zu übertreiben. Aber ja, er war offener und selbstbewusster gewesen, in der Zeit vor Sonja. „Du hast das also in dir drin“, las er auf dem Monitor. Ja, dachte er, Ray hatte recht. Aber was immer es war, das in ihm drin steckte – er musste es erst mal rausholen. Und wahrscheinlich auch gründlich entstauben.

Der kleine Koffer stand gepackt im Korridor. Sein Blick glitt über das Wohnzimmer – seit vierzehn Jahren war ihm dieser Ort Heimat gewesen, Zuflucht, hatte ihm Schutz geboten und manches Mal auch Trost. Den alten Karteikasten würde er vermissen. Den Computer hatte er am Nachmittag den Regeln konform entsorgt, in einer Annahmestelle für Elektromüll, natürlich in einem Vorort. Um alle Spuren auf dem Gerät zu beseitigen, fehlten ihm die Fachkenntnisse. Aber ganz so rasch würden sie das Ding schon nicht finden – ihm bliebe für seine Mission noch genug Zeit.
Den Rechtsanwalt hatte er als ersten erledigt. Wie eitel und selbstgerecht hatte dieser Mann auf ihn gewirkt, nach außen hin voll Verständnis und Mitgefühl. Und dabei war der Kerl doch nichts anderes gewesen als ein aufgeplusterter Pfau. Warum sahen andere Menschen nie so tief wie er selber, dachte er. Sei’s drum! Die Eitelkeit war abgehakt.
Nun würde er sich der Feigheit widmen. Der Feigheit mit dem Namen Thomas. Eine Zeitlang hatte er überlegt, ob er sich wirklich Thomas vornehmen sollte, und nicht vielleicht besser diese schreckliche Frau mit dem noch schrecklicheren Doppelnamen. Dann war ihm aber klar geworden, dass die ganze Sache für diese Dame nichts weiter gewesen war als ein Verwaltungsakt. Thomas dagegen kannte ihn schon seit Jahren, und hatte nichts unternommen, um ihn zu schützen. Seine eigene Position, dieses lächerliche Bisschen an Bedeutung war Thomas wichtiger gewesen als die Loyalität gegenüber einem alten Freund. Nun ja, Freund nicht unbedingt. Aber feige hatte sich Thomas trotzdem verhalten. Und dafür musste er ihn bestrafen.
Danach würde er der Stadt, in der er nun wie erwähnt schon vierzehn Jahre lang lebte, den Rücken kehren. Zum einen würden die Ermittler recht schnell eins und eins zusammenziehen, und damit wäre dann das Rätsel um den Uhu weitgehend gelöst. Zum anderen lagen die abschließenden Aufgaben seiner Mission außerhalb des Stadtgebiets. Und den Vorsprung, den er gegenüber der Polizei hatte, musste er nutzen.