Vorab eine Warnung: In Bremen herrscht Wahlkampf, und dieser Blogeintrag erwähnt nur eine einzige der antretenden Parteien -- und das auch noch ziemlich oft. Das ist volle Absicht! Mir geht es hier um Kritik an ebendieser Partei. Kritik muss öffentlich sein.
Die Frage nochmal konkreter: Soll in Vorständen und Aufsichtsräten der Bremer Eigenbetriebe eine Frauenquote gelten?
Als ich auf diese Frage gestoßen bin, ging mir als Erstes der folgende Text durch den Kopf:
“Die Piratenpartei steht für eine Politik, die die freie Selbstbestimmung von geschlechtlicher und sexueller Identität bzw. Orientierung respektiert und fördert. Fremdbestimmte Zuordnungen zu einem Geschlecht oder zu Geschlechterrollen lehnen wir ab. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Geschlechterrolle, der sexuellen Identität oder Orientierung ist Unrecht. Gesellschaftsstrukturen, die sich aus Geschlechterrollenbildern ergeben, werden dem Individuum nicht gerecht und müssen überwunden werden.“
Das ist ein Absatz aus dem Parteiprogramm der Piratenpartei. Folgt man diesem Link steht dort als Erklärung, was ein Parteiprogramm ist, nämlich ein Grundsatzprogramm: "Das Parteiprogramm stellt das Fundament unserer inhaltlichen Arbeit dar. Das Handeln der Partei, Wahlprogramme und konkrete alltagspolitische Positionierungen leiten sich aus ihm ab. Wir laden Sie ein das Parteiprogramm zu studieren und damit die Zukunft der Piratenpartei Deutschland kennen zu lernen." Der inhaltliche Stand ist die Beschlusslage November 2010. Die Zukunft ist also alles ab 2011. Die Zukunft ist heute.
Konkrete alltagspolitische Positionierungen leiten sich aus ihm ab... also auch die Antwort auf die Wahl-O-Mat-Frage zur Bürgerschaftswahl 2011 in Bremen "In Vorständen und Aufsichtsräten der Bremer Eigenbetriebe soll eine Frauenquote gelten". Ja, nein oder neutral. Der Landesverband Bremen hat sich für ein nein entschieden. Ich hatte für ein ja plädiert. Ein ja ergibt sich für mich direkt aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und auch aus dem Grundsatz/Parteiprogramm der Piratenpartei, aus dem sich alltagspolitische Positionierungen ja ableiten sollen...
Im Grundgesetz steht (Stand Juli 2010): "Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.". Das Parteiprogramm (im zitierten Absatz oben) sagt das auch: "Gesellschaftsstrukturen, die sich aus Geschlechterrollenbildern ergeben, ... müssen überwunden werden.". Das Programm der Piratenpartei geht nur in dem Punkt (vorbildlich) noch weiter als das Grundgesetz, in dem es "fremdbestimmte Zuordnungen" nicht nur zu Geschlechterrollen, sondern auch "zu einem Geschlecht" an sich ablehnt. In der Konsequenz macht das aber keinen Unterschied. Grundgesetz und Grundsatzprogramm rufen gleichermaßen dazu auf, die Gesellschaft so zu verändern, dass das sozial konstruierte Geschlecht eines Menschen nicht mehr seine Handlungsoptionen bestimmt.
Warum macht der LV Bremen dann sowas? Warum beantwortet er die Frage nach der Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten der Bremer Eigenbetriebe mit einem nein? Mit der Frauenquote in diesem speziellen Fall soll ja keine Unterscheidung aufgrund des Geschlechts getroffen werden, sondern eine Gegenmaßnahme zu einer Unterscheidung aufgrund des Geschlechts. Es geht um das Aufbrechen der gläsernen Decke für Frauen in öffentlichen Betrieben. Wie kann man dafür nicht eintreten?
Woran liegt es also? Ist es dieses Privatsphäre-Anliegen der Piraten? Geschlecht ist Privatsache? Der Staat hat sich da nicht einzumischen? Das kann es nicht sein, wenn man sich mal diese Definition von Privatsphäre (aus dem Jahr 1997) anschaut, die es bisher am besten trifft: "control over personal information is control over an aspect of the identity one projects to the world, and the right to privacy is the freedom from unreasonable constraints on the construction of one's own identity". Privatsphäre ist also das Recht, die eigene Identität selbst zu gestalten. Ich muss somit sowohl mein soziales Geschlecht frei wählen dürfen, also auch unabhängig von meiner Wahl bis in Führungsetagen Karriere machen können. Privatsphäre ist in diesem Fall damit nicht "mein Geschlecht geht niemanden an", sondern "mein Geschlecht geht alle an, wenn es mich daran hindert, mich frei zu entfalten".
Diese Sichtweise, den Fokus bei informationeller Selbstbestimmung nicht auf Daten, sondern auf Identitäten zu legen, ist relativ fortschrittlich. Die Konsequenz für die Geschlechterdebatte hingegen ist ein uralter Hut. Schon während der zweiten großen Frauenbewegung vor inzwischen vielen Jahrzehnten sagte man hierzu "Das Private ist politisch." (Ähnliche -- aber weit über die Geschlechterfrage hinausreichende -- Gedankengänge findet man heute in der Post-Privacy-Debatte die für mich ebenfalls untrennbar mit der Piratenpartei verbunden sein muss, weil es ein weiteres zentrales Thema des 21. Jahrhunderts ist.) Alle bisherigen Frauenbewegungen stritten übrigens nicht für Frauenrechte, sondern für Menschenrechte. Sie besaßen nur die ungeheuerliche Frechheit, auch Frauen mit zu den Menschen zu zählen. Eines der größten Themen des 21. Jahrhunderts ist der gewaltige gesellschaftliche Backlash, der diese Errungenschaften negiert. Die gesellschaftlichen Themen des 21. Jahrhunderts sind der Gegenstandsbereich der Piratenpartei -- weshalb die Geschlechterdebatte auch so deutlich im Grundsatzprogramm gefordert wird.
Warum also stellt sich der LV Bremen dagegen? Ist es, weil er generell keine speziellen Gruppen fördern will, da das zugleich eine Nichtförderung anderer Gruppen und damit defacto deren ungerechtfertigte Benachteiligung bedeutet? Das kann es auch nicht sein, da man die derzeit nicht vorhandene Chancengleichheit der Geschlechter wohl kaum als Problem einer speziellen Gruppe verstehen kann. Wer Frauen diskriminiert -- inbesondere indirekt, also in dem er gegen strukturelle Diskriminierung nicht angeht -- der diskriminiert alle Menschen. Wegsehen überwindet dieses Problem nicht. Es verursacht es.
Oder sind es pragmatische Gründe? Es gibt nicht genügend qualifizierte Frauen für Führungspositionen, also würde eine Quote zum einen die Qualifikation als Zugangskriterium geschlechtsspezifisch relativieren und zum anderen die tatsächlich qualifizierten Frauen dem Mobbing-Vorwurf "Quotenfrau" aussetzen? Das kann es erst recht nicht sein, denn man begründet dann so seine Ablehnung, das Problem adressieren zu wollen, mit den Symptomen des Problems selber!
Es ist sicherlich richtig, Quoten abzulehnen, die nicht klar auf die Bekämpfung einer bestehenden Chancenungleichheit fokussiert sind. So parke ich z.B. gerne mal absichtlich auf Frauenparkplätzen, wenn nicht erkennbar ist, wozu sie gut sein sollen. Hat z.B. ein Parkhaus aber dunkle Ecken, dann sind Frauen davon jedoch anders betroffen. Hier habe ich umgekehrt auch schon mal Männer angesprochen, die dort Frauenparkplätze blockieren. Eine Unterscheidung zwischen den Geschlechtern darf es nur geben, wenn sie einer Chancenungleichheit entgegenwirkt anstatt sie zu verstärken. Dann aber muss es sie geben. Und genau darum geht es in diesem speziellen Fall ja: Vorstände und Aufsichtsräte in Bremer Eigenbetrieben. Da kommen Frauen bei gleicher Qualifikation derzeit nicht rein.
Nein, dass sich der LV Bremen hier frauenfeindlich verhält, hat andere Ursachen. Ich glaube, es ist das "Post-Gender"-Milieu, in dem sich viele Piraten verorten, und das für einige zu einer Ideologie ausgewachsen ist, die sie noch über das Grundgesetz und über ihr eigenes Grundsatzprogramm stellen. Hier klaffen in der Partei einfach Anspruch und Realität auseinander. Der Anspruch ideologiefrei zu sein, weicht der Realität, bloß eine andere Ideologie zu haben. Und die meisten anderen Piraten sind einfach zu sehr Schisser, die Debatte um diese fatale Post-Gender-Illusion zuzulassen. Sie haben Schiss, das Parteiwachstum durch solche Debatten zu bremsen. Unter'm Strich ist die Piratenpartei dadurch aber Prä-Gender und damit prä-pupertär. Als Wähler kann man sie so noch gar nicht erst nehmen.
Wann wird sie post-pupertär? Wer die Piratenpartei über die letzten Jahre verfolgt hat, hat mitbekommen, mit welch eifernder Gewalt insbesondere Frauen aus den eigenen Reihen vertrieben wurden, die das vorsichtige Gendern wagten. Kein Wunder, dass man das nun auch bei Wahl-O-Mat-Fragen fortsetzt, in dem man erstmal prinzipiell gegen jedes Frauen-Gedöns ist. Also hier bloß nicht wenigstens neutral sein. Aus Prinzip nicht. Dass eine der extremistischsten Anti-Selbsthilfegruppen psychisch gestörter Frauenhasser im Internet offen als "Männerpolitische Initiative der Piratenpartei" agiert, wird von den meisten Piraten sogar als Belustigung empfunden -- oder zumindest stillschweigend hingenommen. Schon das zeigt, welche Wählerinnen und Wähler angepeilt werden -- und welche eben nicht. Ich denke nicht, dass die Piratenpartei so erwachsen werden kann.
Und deshalb reite ich hier auch so sehr darauf herum. Nicht weil die Mehrheiten anderer Meinung waren als ich, als es um die Antwortfindung auf diese Frage ging -- denn so ist Demokratie. So muss Demokratie sein. Wie sonst? Nein, ich reite deshalb so sehr darauf herum, weil die Piratenpartei transparent basisdemokratisch ist. Konkret heißt das, dass sie sich von dem Prinzip "nach innen zerstritten, nach außen geschlossen" nachdrücklich lossagt. Sie repräsentiert keine konsolidierten Meinungen, sondern sie fordert zum Selberdenken auf. Die Piratenpartei sucht den öffentlichen Diskurs. Kritik muss öffentlich sein.
Und Kritik ist in diesem Punkt bitter nötig, denn die AG Männer wirkt. Sie wirkt in die Köpfe der Menschen in und im Umfeld der Piratenpartei. Und sie filtert Aktive und Interessierte. Ihr Auftritt im Netz gleicht dem von Politically Incorrect, einem weiteren Hass-Portal, in das der Abschaum der Republik seine verfassungsfeindliche Hetze scheißt. Leute wie Eva Herman schreiben da, und auch Stefan "Aaron" Koenig, ein vertriebener Ex-Bundesvorstand der Piratenpartei. (Er war kurz bevor er auf einem Parteitag hingerichtet worden wäre, aus der Partei ausgetreten. Ich hatte ihn hier in diesem Blog schon im November 2009 als rechtsradikal identifiziert.)
Es war immer klar, dass die Piratenpartei die Faschisten aus den eigenen Reihen nach und nach entsorgen wird. Die Piratenpartei distanziert sich von rechtem Gedankengut genauso wie vom wirtschaftsliberalen Freiheitsbegriff der FDP, vom Sozialismusbegriff der Linken, vom Konservativismus der Union und von den auf das 21. Jahrhundert nicht anwendbaren Konzepten der Sozialdemokratie. Nur das Thema Frauenhass schweigt sie noch tot. Sie ist gegen das Thema an sich, und allein deshalb auch gegen eine Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten der Bremer Eigenbetriebe. Ich kann nicht anders, als das hier in aller Deutlichkeit zu kritisieren. Öffentlich. Zum Mitdenken für alle.
Und ich habe auch noch eine Kritik: Nämlich daran, dass anlässlich des aktuellen Wahlkampfes in Bremen plötzlich einige meinen, die Piratenpartei solle eine Partei wie jede andere werden -- nur mit anderen Themen. Ich hatte es immer genau umgekehrt verstanden: Die Piratenpartei soll ihre Themen in die anderen Parteien tragen (also als Exklusivthemen abgeben) -- aber selbst anders sein und vor allen Dingen bleiben. Die Piratenpartei sollte sich insbesondere nicht nur auf Wahlkämpfe konzentrieren, sondern vor allen Dingen auf die Arbeit an sich selbst. Auf das Projekt, die Partei des 21. Jahrhunderts zu werden.
Nochmal zur Erinnerung: Der Gegenstand der Piratenpartei ist der Schutz und die Förderung des Gemeinwohls und der Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert. Die Piratenpartei hat sich gegründet, weil zu dem Zeitpunkt alle anderen Parteien auf die Herausforderungen der digitalen Revolution Antworten gegeben hatten, die gesellschaftlich inakzeptabel sind. Das Ziel der Piratenpartei ist es, dies zu ändern, also das Bewusstsein, dass andere Antworten möglich sind, in allen Parteien zu stärken.
Wenn Wahlen anstehen, muss die Piratenpartei wie alle anderen Parteien agieren, d.h. sie muss sich nach innen verwalten und nach außen bewerben. Sie muss Kandidaten für Mandate benennen und versuchen, Wählerstimmen auf diese zu kanalisieren. Der Wahlerfolg macht sich bei ihr jedoch nicht am Wahlergebnis fest, sondern an ihrem Einfluss auf das Programm der anderen Parteien und auf das Selberdenken der Wählerinnen und Wähler. Das primäre Ziel ist also nicht der schnelle Einzug in Parlamente, sondern der langfristige Einzug in die Köpfe der Menschen.
Die Themen der Piratenpartei sind Urheberrecht, Grundeinkommen und Transparenz, denn das sind die Themen, die für den Schutz und die Förderung des Gemeinwohls und der Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert beackert werden müssen. Auch Patentrecht, Bildung und Datenschutz gehören dazu. Allgemeiner formuliert: Geistiges Eigentum, gesellschaftliche Teilhabe und informationelle Selbstbestimmung. Dazu gehören auch Geschlechterpolitik und Post-Privacy-Fragen (siehe oben).
Die Piratenpartei will die Freiheit, die Gewaltenteilung, den Rechtsstaat und das Grundgesetz, Bürgerrechte und Menschenrechte bewahren, sowie die politischen Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsoptionen der Bürgerinnen und Bürger deutlich ausbauen. Medien sollen unabhängiger werden und deren Informanten, insbesondere Whistleblower, besser geschützt.
Vor allen Dingen aber: Die Forderungen der Piratenpartei sind in ihrer Ernsthaftigkeit angemessen radikal im Sinne von wurzelhaft, d.h. Piraten haben eine Vision einer anderen Gesellschaft. An Missständen verwaltender “Alternativlos”-Politik teilzunehmen, ist nicht ihr Bestreben. Kernforderungen sind eine kompromisslos öffentliche Infrastuktur und eine bedingungslose gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen. Für mich heißt das, dass u.a. auch Lebensmittelversorgung, Gesundheitssystem, Energieerzeugung und die Grundlagen analoger und digitaler Mobilität den Märkten zu entziehen sind. Außerdem ist das Geldsystem grundlegend zu ändern. Die strukturelle (rechtliche wie technische) Netzneutralität des Internets, sowie der freie Zugang zu Bildung gehören zu den wichtigsten Forderungen. Ebenso ein garantiertes Einkommen zur Entfaltung der wirtschaftlichen und sozialen Potenziale aller Bürgerinnen und Bürger.
Was der Piratenpartei aber noch fehlt, ist Kompetenz bzw. ausgewiesene Kompetenzträger. Die Piratenpartei besetzt in der politischen, gesellschaftlichen, akademischen und intellektuellen Diskussion kein einziges ihrer Themen, weil sie keine entsprechend spezialisierten Leute hat. Stattdessen verzettelt sie sich auf Regionalebene mit den gleichen schwammigen Floskeln wie dutzende anderer Wählervereinigungen auch ("mehr Bürgerbeteiligung", usw.), sowie mit absurden Projekten wie der Bremer Kulturtankstelle -- einer Plattform, in die kein ernstzunehmender Mensch Inhalte einstellen würde, da sie dadurch zu Werbematerial einer politischen Partei verkommen. Marketing statt Inhalte. Das können/machen die anderen Parteien auch. Warum also sollte man ausgerechtet die Piratenpartei wählen? Damit kann sie allenfalls ihr bestehendes Wählerpotential aktivieren -- aber keine neuen Wählerschichten erobern.
Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Die Partei ist jung, die Wählerinnen und Wähler auch. Es wird sich noch viel verändern, und vielleicht wird's ja auch noch was mit der Genderkompetenz...
Ach ja: Bei Telepolis hieß es heute übrigens "Die neugegründete Interessensgemeinschaft Antifeminismus stellt politische Forderungen". Und klickt man auf deren Seite liest man "Der Feminismus gehört auf den Müllhaufen der Geschichte!" und er "zerstört die abendländische Kultur, die doch gegen den Islam verteidigt werden soll". Es ist immer das gleiche Muster: Hass. Hass gegen Muslime, "Hartzies", und immer mehr auch ... gegen Frauen.
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