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Über den Umgang mit digitalen Menschen
Die meisten von uns haben vermutlich täglich Umgang mit Menschen. Warum also sollte das Thema 234 Jahre nach Erstveröffentlichung immer noch ein Thema sein?

Die Menschen haben sich gar nicht verändert. Nur ihre Umwelt hat gerade durch die neuen Medien eine bedeutsame Veränderung erfahren. Facebook lockt uns mit dem Metaversum, Microsoft bot uns vor vielen Jahren schon das second life an – und natürlich all die anderen Plattformen im Netz, die Kommunikation ermöglichen.

Festzuhalten ist, daß es sich um eine qualitativ neue Form der Kommunikation handelt. Sie ist wesentlich gekennzeichnet durch die Interaktion digitaler Identitäten. Neu ist nicht nur das Medium, neu sind auch die Akteure. Wer kommuniziert denn tatsächlich? Sind es wirklich wir, mit all unseren unzähligen Facetten? Oder doch eher reduzierte digitale Klone, mit großen weißen Flächen, die unserem Gegenüber viel mehr Raum zur Interpretation (und auch Übertragung) geben als bei der bislang üblichen Form der Kommunikation. Die alten Affen mit den Trieben von Jahrmillionen werden auf einmal über Glasfaser verschickt.

Plötzlich besteht die Kommunikation aus vier Akteuren. Da ist zum einen der Mensch aus Fleisch und Blut, der auf dieser Seite des Kabels am Rechner sitzt, der sein altes Primatenerbe in den Genen mitschleppt, der auf der Ebene des Verstandes wunderschöne Texte schreibt oder Bilder macht – und der (nicht unbedingt bewuß) auf der Gefühlsebene wahrgenommen, gesehen werden will. Das scheint mir ohnehin ein beachtenswertes Phänomen zu sein, das Gesehen-werden-wollen. Wer sucht, findet interessante Texte über Demonstranten, die sich gelbe Westen anziehen, um gesehen zu werden.

Der nächste Beteiligte ist der virtuelle Mensch im Rechner, aber auf dieser Seite des Kabels. Zwangsläufig ist dieser Akteur, dieser Avatar reduziert im Vergleich zum Menschen vor dem Rechner. Und, was nochmals zu betonen ist, er wird nur zum Teil bestimmt vom Menschen diesseits vor dem Rechner, und zu einem anderen Teil von den Erwartungen, die über das Kabel an diesen Avatar herangetragen werden, von den Erwartungen und Bildern, die sich andere Akteure vor deren jeweiligen Rechnern über die digitalen Identitäten (und die dahinterstehenden Menschen) machen.

Ebenso finden wir diese beiden Akteure auch auf der anderen Seite des Kabels.

Damit sind schon ein paar Schlußfolgerungen möglich.
  1. Die Kommunikation selbst ist reduziert, alle nonverbalen Kanäle (Gesten, Mimik, Ausdruckslaute) fehlen.
  2. Die Kommunikation erfolgt zwischen zwei reduzierten Avataren, die zu einem bestimmten Teil von den Vorstellungen des Gegenübers geprägt sind und nicht allein vom dahinterstehenden Individuum.
  3. Die Emotionen sind bei den Menschen immer noch vorhanden, werden aber noch weniger übertragen.

Die Fehleranfälligkeit der virtuellen Kommunikation ist also höher als bei der real-life Kommunikation. Der Rückkanal ist eingeschränkt, viele der Reaktionen des Gegenübers fallen weg.

Überspitzt formuliert: Man kommuniziert im Netz nicht mit einem anderen Menschen, sondern nur mit einer (oftmals auch noch abweichenden) Meinung. Und sofort sind die Emotionen wieder da: Ich habe recht und zwar allein. Die angebliche Kommunikation mit dem Gegenüber ist zu gewissen Anteilen eine Kommunikation mit sich selbst, mit seinen eigenen, eingeschränkten Interpretationen der paar Bytes, die da übers Netz kommen.

Gefahr erkannt. Gefahr gebannt? Ich befürchte nicht. Es reicht wohl nicht aus, sich einmal diesen Artikel durchzulesen, notwendig ist vielmehr, sich immer bewußt zu machen, mit wem man tatsächlich kommuniziert: Nur mit einem Abbild, einem Avatar.
Wenn ich allerdings auf den Avatar eindresche, treffe ich immer auch die Person dahinter – und die weiß vielleicht gar nicht, warum.
Was also tun? Sich den Menschen hinter dem Avatar bewußt machen, beim Streit in der Sache immer auch an die Menschen denken – und meinetwegen auch an den alten Immanuel und seinen Imperativ.

In diesem Sinne allen einen schönen Sonntag.

4 comments

Tanja - Loughcrew said:

Danke vielmals…es trifft‘s zu mehr als 100%…und so lass ich das stehen und mehr braucht‘s ned ❤️
2 years ago ( translate )

Ingo Krehl said:

Meinen Senf dazu.
Kommunikation ist ja nicht die Übermittlung von Worten, die Worte sind nur eine Kodierung von Ideen. Eigene Ideen, Gedanken, Inhalte sehe ich eher selten.
Ich vermute, viele wollen zu ihren übernommenen Ideen nur Übereinstimmung haben, damit sie sich nicht so allein damit fühlen. Andere wollen vielleicht nur Aufmerksamkeit haben und schrecken dafür vor nichts zurück. Hass ist keine Meinung – Es ist ein Gefühlszustand!
Selbst so von Angesicht zu Angesicht hat man es oft mit einem „Avatar“ zu tun bis der andere bereit ist seinen „Avatar“, seine gesellschaftliche Persönlichkeit abzulegen und man direkt und offen Kommunizieren kann.
2 years ago ( translate )

Taormina said:

Die Menschen haben sich sehr wohl verändert.
Und die Plattform "Internet" zeigt uns das auch ganz deutlich.
Wir gehen aufeinander los, ohne einander zu kennen.
Respektieren andere Meinung nicht und interessieren uns auch nicht dafür.
Jede Lüge wird zu einer eigenen Wahrheit gemacht
und auch an andere so weitergegeben.
Wäre das Internet ein Raum, in dem wir wie in einem Lokal etwas zu essen bestellen,
dann käme unsere Bestellung nie an und wenn doch, wäre das, was wir bekommen,
nicht das, was bestellt haben. Und das, was wir serviert bekommen soll
und dann aber doch bitteschön schmecken. Natürlich zahlen wir und Nörgeln,...
morgen kommen wir ja auch gerne wieder.
2 years ago ( translate )

Bergfex said:

Dein Ratschlag am Schluss Deines Artikels erinnert an die innere Haltung von Psychoanalytikern beim Zuhören: Quis loquitur? Cui bono?
16 months ago ( translate )