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Aggression ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Angst
Unsere Existenz als Spezies ist in vieler Hinsicht eine Unmöglichkeit. Wissenschaftlich gesehen sind wir die am schlechtesten ausgestattete und verletzlichste Spezies. Wir haben keine Klauen und kein Fell. Wir sind nicht besonders stark oder schnell.

Was es der Menschheit möglich gemacht hat zu überleben, ist unsere Anpassungsfähigkeit, die innerhalb der Gesellschaft auf Kommunikation und dem Austausch zwischen Individuen beruht. Unsere Fähigkeit, uns als Spezies anzupassen, basiert gänzlich auf dem, was wir Menschen besonders gut können : durch unsere Beziehungen eine soziale Harmonie erzeugen. Dass die Menschen zusammengearbeitet haben, hat es unserer Spezies ermöglicht, das Unmögliche möglich zu machen (und bisher zu überleben). ...

Die Theorie der natürlichen Auslese besagt, dass diejenigen Organismen die erfolgreichsten sind, die sich am besten an ihre Umwelt anpassen können. Wenn sich eine Spezies nicht an ihre Umwelt anpasst, ist sie nicht mit der Realität in Einklang. Deshalb kann sie keinen Erfolg haben. Darwins Theorie wurde auch das "Überleben der Stärksten", das "Überleben der Aggressiven" oder das "Überleben der Egoistischen" genannt.

In Hinsicht auf unsere Spezies verstehe ich die Idee der natürlichen Auslese lieber als das "Überleben der Guten". Ich nenne dies den Gutheitsfaktor. Wir haben in der Natur die Oberhand gewonnen, weil wir fähig sind, uns zu organisieren und zusammenzuarbeiten, indem wir beobachten, zuhören, Kompromisse schließen, uns um andere kümmern und angemessen reagieren. Wir bringen Gedanken zum Ausdruck, unterhalten uns und sorgen füreinander. Die Intelligenz und die Flexibilität unserer Spezies haben uns bis heute überleben lassen.

So gesehen ist es die Natur der Menschen, in Harmonie miteinander und mit der Umwelt zu leben, und unser Überleben ist davon abhängig.

Aggression ist das Ergebnis von Egoismus und Angst, die unsere Perspektive verengen. Aggression taucht an dem Punkt auf, wo wir offenbar kurzfristigen Gewinn machen können; allerdings verringern wir unsere langfristigen Überlebenschancen damit, denn sobald wir uns von Aggressionen verzehren lassen, wird unsere Perspektive immer enger. Wir werden rigide und verlieren unsere Flexibilität. Unser Herz verhärtet sich. Es wird immer schwieriger für uns, vernünftige oder bewusste Entscheidungen zu treffen, und wir sind kaum in der Lage uns anzupassen, weil unser Blickwinkel dermaßen eng ist, daß wir nur eine mögliche Lösung für ein Problem sehen können - die Aggression.

Aggression ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Angst, Versagen und Schwäche. Sie bedeutet, dass alle besseren möglichen Alternativen - Mitgefühl, Freundlichkeit und Beherztheit - gescheitert sind.

Es ist deshalb gefährlich, das Überleben der Stärksten mit dem Überleben der Aggressiven gleichzusetzen. So kompliziert und vielfältig die Welt auch sein mag, eine der wesentlichen Eigenschaften des Menschen ist die Stärke, und jemand, der die wahre Natur seines Geistes erkannt hat, besitzt die Stärke, energisch zu sein, wenn es nötig ist, aber auch mitfühlend, liebevoll und freundlich.

Mitgefühl ist eine Lösung auf lange Sicht, die auch einen positiven Einfluss auf unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft hat. Es stabilisiert unser Leben und das Leben anderer.

Wäre unsere Energie allein aggressiv, dann wäre sie zu kurzsichtig und schwach gewesen, um uns so weit zu bringen, wie wir gekommen sind. Doch angesichts des aktuellen Zusammentreffens von Wissenschaft und Technologie mit dem Niedergang ethischer Werte und der wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Instabilität besteht die Gefahr - trotz aller gemeinsamen Bemühungen von Individuen und Organisationen, die Welt zu verbessern - dass die Gewohnheit der Aggression stärker wird als die Gewohnheit des Mitgefühls...

Doch wenn es eine langfristige Lösung für unsere Sorgen gibt, dann beruht diese auf einer tiefen psychischen Umorientierung... Gelingt es uns in dieser Zeit des Chaos, uns für Mitgefühl statt für Aggression zu entscheiden, dann werden wir unsere Verbindung zur Natur und zueinander wieder herstellen können.

Ich glaube, dass der Schmerz und die Verwirrung in der Welt heute so intensiv und unausweichlich sind, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als sie zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht bedeutet dies, dass sich dann, wenn wir endlich die Nase voll davon haben, uns selbst, andere und den Planeten zu misshandeln, aus purer Erschöpfung eine Lücke auftun wird, in der wir zur Besinnung kommen und kollektiv einen natürlicheren Zustand wiederentdecken. Nur indem wir der Verwirrung ins Gesicht sehen - indem wir sie untersuchen und ihre Realität anerkennen - wird unsere Spezies einen Weg nach vorne finden.

Der Punkt, an dem wir ein Problem ganz und gar begreifen, ist der Moment, an dem eine Lösung aufscheint...

Zitiert mit Genehmigung des Verlags aus :
Sakyong Mipham, Das Shambhala Prinzip - Der verborgene Schatz der Menschheit, ISBN: 978-0-7704-3745-9
© 2014 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Aitrang
https://www.windpferd.de/

5 comments

Elbertinum said:

Sehr gut gesehen und es zeigt tatsächlich eine Lösung auf - danke
2 years ago ( translate )

Tanja - Loughcrew said:

Eigentlich sind wir alle gefallene Engel und unser Dasein hier wird uns mit Sicherheit nicht dorthin zurück führen…Danke für diese Zeilen…mir wird immer mehr bewusst, dass wir so einfach nicht überlebensfähig sind…frohe und gesegnete Ostern Dir, Franz!
2 years ago ( translate )

Taormina said:

Wurde das von Sakyong Mipham (Ösel Mukpo) geschrieben bevor oder nachdem er
wegen Sexuellen Fehlverhaltens an seinen Schülerinnen über Jahre hinweg beschuldigt wurde?
2 years ago ( translate )

FarbFormFreude replied to Taormina:

das hat er bevor geschrieben. Und danach wollte ich jahrelang nichts mehr von ihm wissen. Aber das hier zitierte finde ich trotzdem gut, auch wenn sich der Autor als Arschloch benommen hat.
2 years ago ( translate )

Taormina replied to :

Ja, so kann man ihn wohl bezeichnen, doch wie du sagst die Worte treffen zu.
Jede Spezies hat sich wohl an ihre Umgebung angepasst und sogar zu Zeiten
der Dinosaurier, als das Leben auf diesem Planeten vielleicht auf dem höchsten Level
war, war mit einem Knall alles vorbei.

Es gibt nur zwei Tage in deinem Leben an denen du nichts ändern kannst.
Der eine ist gestern und der andere ist morgen. Heute.... findet das Leben statt.
2 years ago ( translate )