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The New York minute [1] - Teil 1 - First impressions
„I really believe there are things nobody would see if I didn't photograph them." [2]
Neben den familiären Verbindungen in die U.S.A., die in der Praxis nie oder nur wenig ausgelebt werden konnten, war Amerika in meiner Kindheit ein Sujet, von dem ich wusste, aber es wirklich nie verstand. So viele Informationen prasselten auf mich herein, die mein kleiner Kindesverstand nicht sortieren konnte. Meine Wahrnehmungen begannen 1963 und traten in den ersten 10 Jahren nur langsam aus dem Nebel heraus. Greifbare Erinnerungen nahmen dann Ende der 1960er und Anfang der 1970er zu, das liegt in der Natur der Sache. Ich gehöre also einer Generation an, die Bilder gesehen haben, als sie noch „brandnew“ waren oder bereits die ersten Stufen in die „Hall of Fame der Fotografie“ erklommen hatten und heute zu den Meisterstücken gehören. Dafür kann ich nichts, aber ich bin froh, dass es so ist. Das gehört zu den schönen Dingen, wenn man etwas älter ist. Kein Platz für Überheblichkeit - nachfolgende Generationen werden sicherlich ebenfalls in diesen Zustand kommen, voran gegangene haben bestenfalls einen noch größeren Schatz. Alles hat eben seine Zeit. Ich habe mir übrigens erlaubt mit einem Zitat von Diane Arbus einzuleiten, weil ich ein großer Bewunderer ihrer Arbeiten bin. Sie steht hier allerdings als Vertreterin einer ganz großen Schar von Meisterfotografinnen und -fotografen.

Man sagt, dass man touristische Erstbesucher Manhattans daran erkennt, dass die zunächst über Mülltonnen und Kästen der US Mail stolpern, weil ihre Blicke ständig auf den höchsten sichtbaren Punkt der Skyscraper gerichtet sind. Ergänzend kann man vielleicht anfügen, dass sie auch „angerempelt“ werden, weil sie an roten Fußgängerampeln stehen bleiben. Wenn das Klischee so stimmt, dann werden sie mittlerweile aber von einem ganz anderen Klientel „überholt“, denn immer wieder hört und liest man die Warnung „Keep your eyes on the road, not on the phone!“. Und damit sind nicht nur die Autofahrer gemeint. Die Anwaltskanzlei Sullivan Papain Block McGrath Coffinas & Cannavo P.C. rät sogar auf ihrer Website: „Cell phones are a common distraction, and some pedestrians may read and write text messages or even watch video content while walking. This is more dangerous than it may sound as there have been numerous reports of pedestrians walking into street signs, lampposts, enclosed bus stops, and even down subway stairs and into open manholes because of cell phone distraction. If you are walking in New York City, stop and move to the side of the sidewalk if you need to read or respond to a text message or use your phone in any way that diverts your eyes away from your walking path.“ Ob jetzt Fußgänger auch Videos schauen, weiß ich nicht, aber während ihres „walks“Videos drehen, das ist wahrscheinlich. Dabei wirkt es schon skurril, wenn Leute ihrem Selfistick hinterherlaufen. Fast glaubt man das traditionelle Kinderlied zum Laternelaufen zu hören: „Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir...“. Schlimmstenfalls beim Herunterstürzen der Treppe zur Subway könnte es dann wirklich lauten: „...rabimmel, rabammel, rabum....“.

Kommen wir noch einmal auf das Arbus-Zitat zurück: „Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografieren würde.“ Ich denke, dass viele versuchen ihre ersten Eindrücke auf Biegen und Brechen visuell festzuhalten. Und wenn sie nicht pausenlos fotografieren oder filmen, werden sie sich nie wieder daran erinnern. Vergleichbar geben Konzertveranstalter mittlerweile den Hinweis heraus, dass man das Konzert einfach genießen sollte, anstatt versuchen es lückenlos zu filmen. Denn - bei diesen Eindrücken schwingt sehr viel Emotion mit: das erste Mal in NYC, diese hohen Häuser, dieser Stadtlärm... und was einem sonst noch so durch den Kopf geht. Vielleicht singt der ein oder andere lautlos - etwas abgeändert - den Udo Jürgens Klassiker: „Ich bin jetzt erstmals in New York...“.

Ich war und bin nicht frei davon. Als ich erstmals meine Tochter in New Jersey besuchte, schwang mit der Freude, sie nach Jahren das erste Mal in ihrer neuen Heimat zu treffen auch die Aufregung mit, dass ich bald New York City live erleben werde. So begleitete ich sie schon bald morgens auf dem Weg zur ihrer Arbeitsstelle, die mitten in Midtown Manhattan lag. Workin' 9 to 5 [3] bedeutete für sie, dass sie 1,5 Std vor Arbeitsbeginn den New Jersey Transit (NJ Transit, Raritan-Valley-Linie) - Zug [4] in Dunellen, NJ erreichen musste, um pünktlich über Newark in Midtown anzukommen. Zielbahnhof war dann die Pennsylvania Station, umgangssprachlich kurz Penn Station im Westen von Midtown Manhattan. Danach schloss sich noch ein hektischer Fußmarsch durch die Rush Hour an, je schneller desto besser. Und da zeigt sich schon, warum nichttouristisch motivierte Menschen die einfach nur pünktlich im Büro sein wollen, es überhaupt nicht leiden können, wenn man vor einer roten Fußgängerampel stehenbleibt um auf Grün zu warten. Natürlich wird - ziemlich erfolglos - von offiziellen Stellen davor gewarnt, bei Rot die Straße zu überqueren, da aber in Manhattan fast alles Straßen One-ways sind, genügt ein Blick in eine Richtung um schnell zu realisieren, dass aus dieser keiner kommt. Übrigens beginnt um 5 p.m. der Run auf die Bahnhöfe. Will man ungefähr in dieser Zeit Manhattan verlassen, sollte man versuchen vorher einen Zug zu bekommen, der einen sicher aus der Gefahrenzone bringt.

Die Penn Station befindet sich hauptsächlich unterirdisch, unter dem Madison Square Garden [5] , d.h. ich verließ den Bahnhof über eine Rolltreppe, die mich direkt an der 7th Avenue / Nähe West 33rd Street inmitten einer der vielen Häuserschluchten herausließ. Ich gebe zu, der allererste Eindruck auf der Straße ist überwältigend, besonders wenn man aus dem Untergrund kommt und auch ich richtete reflexartig den Blick nach oben aus. Das unterschied mich jetzt erstmal nicht vom Vulgärtouristen, aber ich trat zur Seite, stellte mich in eine Ecke und genoß den Anblick. Möglicherweise lag es daran, dass ich mich jedesmal aufregen kann, wenn Leute kurz nach betreten eines Kaufhauses schlagartig mitten im Gang stehen bleiben. Auffahrunfälle sind da vorprogrammiert. Nun fehlt dem Homo laborans [6] in seinem gewöhnlichen Lebensraum etwas, von dem ich hier als Homo viator massenhaft hatte: Zeit. Nachdem ich meine „Aufregung“ also etwas gelegt hatte und mir bewusst war „Ja, ich bin hier.“, machte ich mich beobachtend auf den Weg. Ein kurzer Blick auf den Stadtplan von Manhattan, den ich mir im Vorfeld besorgt hatte, zog ich los - Kamerarucksack auf dem Rücken, die Kamera vorne angehängt.

Dieser erste Tag in Manhattan - es folgten in den Jahren danach noch etliche mehr - diente ausschließlich der Orientierung, geografisch gesehen und auch emotional. Zwei Dinge, die mich im Unterbewusstsein bewegten, mussten auf ein kreatives Niveau zurück gestutzt werden: Die touristischen Neugier und der Blick auf Manhattan, der von großen Streetphotographer der 1960er und 1970 Jahre geprägt war. Der eigene Blick musste erst noch entstehen.

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[1] Als New York minute bezeichnet man die Zeitraum zwischen dem Grünwerden der Ampel und dem Hupen des Fahrers hinter dir… also nur ein Augenblick.
[2] „Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografieren würde.“ - Zitat von Diane Arbus, geb. Nemerov (* 14. März 1923 in New York City; † 26. Juli 1971 ebenda), amerikanische Fotografin und Fotojournalistin.
[3] 9 to 5 ist ein Country-Pop-Song von Dolly Parton aus dem Jahr 1980.
[4] New Jersey Transit ist für die Bahnverbindungen in New Jersey zuständig. Mehrere ihrer Linien führen unter dem Hudson hindurch und beginnen bzw. enden an der Pennsylvania Station.
[5] Die Pennsylvania Station wurde 1910 von der Pennsylvania Railroad errichtet, die ihr den Namen gab. Der ursprüngliche Beaux-Arts-Bahnhof wurde 1963 abgerissen, um für den Madison Square Garden und dem Penn Plaza Platz zu schaffen. Dieses ist - durch Bürgerproteste verhindert - der Grand Central Station (ebenfalls ein Beaux-Arts-Bahnhof und 2013 von der American Society of Civil Engineers in die List of Historic Civil Engineering Landmarks aufgenommen.) erspart geblieben, für die es auch schon Abrisspläne gab.
[6] Homo laborans = der arbeitende Mensch; Homo viator = der reisende Mensch. Wobei es auch arbeitende Menschen gibt, die die Ruhe weg haben und reisende Menschen, die sich hektisch fortbewegen.

2 comments

Albrecht Girle said:

Wow! Ein lesenswerter Text mit mehr als Gebrauchswert:
Mir gefällt die Mischung aus Report - Sagen, was ist - (Selbst-)Reflexion, Anekdote und nützlichen Fußnoten für einen Noch-nie-dort-Gewesenen wie mich.

Sie nimmt mich als Leser auf unterhaltsame Weise mit auf eine interessante Tour.

Dabei habe die die zugehörigen Bilder noch gar nicht gesucht noch gesehen, will aber schon mal meinen Beifall bekunden, Andreas...
2 months ago ( translate )

Arlequin Photographi… replied to Albrecht Girle:

Vielleicht hier ;-) : www.ipernity.com/doc/arlequin_photographie/album/1247646

Vielen Dank :-)
2 months ago ( translate )