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1914 - Lest we forget - damit wir nie vergessen!
Hier mal ein Artikel aus dem Archiv, etwas überarbeitet. Ich schrieb diesen Artikel 2014 für den Gemeindebrief der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Johannis zu Lüneburg zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruch 1914.

Die Debatte über das was war, ist noch lange nicht beendet und wird es auch zukünftig nicht so schnell sein. 100 Jahre sind eine lange Zeit und doch – irgendwie auch nicht, zumindest ist das was war zwar vorbei, doch die seismischen Schwingungen dieses Weltenbebens und der Geruch des Weltenbrandes ist durchaus noch zu wahrzunehmen.

Ich hatte beschlossen eine Brücke zu schlagen. Die Idee ist und war nicht neu. Bereits 1999 habe ich für meine Heimatgemeinde ähnliches in Angriff genommen. Ja, Angriff – in Anbetracht des Themas ein vielschichtiger Ausdruck.

Bonn, 28. Juni
Es ist der 28. Juni 2014 – genau 100 Jahre nachdem die Lunte angezündet wurde und niemand sich in der Lage sah, sie zu löschen – als ich auf dem Parkplatz des Bonner Nordfriedhofes abbiege. Dieser Friedhof befindet sich nördlich der Innenstadt, zwischen den Ostteilen Auerberg und Buschdorf. Es regnet in Strömen, ach was sage ich, es schüttet aus allen Löchern, die der Himmel bereit ist zu öffnen. In Minuten ist man nass bis auf die Unterhose. Was bleibt ist ein Ausharren im Auto und auf die Verringerung der Niederschlagsmenge zu warten. „Die Sonne scheint über Sarajewo am 28. Juni 1914. Das Unheil nimmt seinen Lauf...“, höre ich die einleitende Stimme im Radio. WDR 2 bringt einen ca. fünf minütigen Beitrag über das Attentat von Sarajevo. Namen fallen, die man dann und wann schon gehört hat: Erzherzog Franz Ferdinand, Herzogin Sophie Chotek von Hohenberg, Gavrilo Princip … Namen, die mich auf dieser Reise weniger interessieren. Der Regen lässt nach, ich wage es mit Regenjacke bekleidet die Kamera umzuschnallen und auf den Friedhof zu gehen. Recherche ist eine Sache – sich auf einem großen Friedhof zurechtzufinden, eine andere. Im Vorfelde suchte ich im Sterberegister von 1914 / 15 nach Gefallenen Gemeindegliedern von St. Johannis. Es ging dabei nur um die ersten Einträge:

Karl Waltje, + 29.08.1914 – Karl Behrens, + 24.08.1914 – Albert Lüdecke, + 08.09.1914 – Adolf Tiedge, + 29.10.1914 – Heinrich Drossel, + 24.10.1914 – Hans Knote, + 30.10.1914 – Heinrich Blanke, + 07.11.1914 – Heinrich Luhmann, + 12.11.1914 – Karl Brackmann, + 28.11.1914 – Karl Holz, + 01.11.1914 – Hermann Wachsmuth, + 30.10.1914 – Kurt Lüdecke, + 10.09.1914 – Hermann Fritzke, + 04. oder 05.12.1914 – Fritz Drossel, + 11.11.1914 – Johann Schmidt, + 27.12.1914 – Theodor Krüger, + 26.12.1914 – Hans Fressel, + 17.11.1914 – Albert Brau, + 02.12.1914 – Otto Burmester, + 14.08.1914 – Heinrich Steep, + 28.08.1914 – Robert Schlüter, + 06.11.1914 – Johann Tödter, + 06.11.1914 – Wilhelm Ritz, + 01.11.1914 – Johannes Steffen, + 17.11.1914 – Wilhelm Müller, + 21.12.1914 (durch eigene Hand) – Hans von Bülow, + 27.09.1914.


Viele weitere Einträge sollten für die Jahre 1914, 1915, 1916, 1917 und 1918 folgen und wurden mit zunehmender Zahl immer unchronologischer. Seitenweise wurde nachgetragen. Auch 1919 starben noch Menschen an den unmittelbaren Folgen ihrer Verwundung. Eine vollständige Erfassung, Recherche und Bearbeutung schafft man nicht alleine. Vielleicht sollten man es für das Jahr 2018 machen. Z.Zt. wird diskutiert, ob eine allgemeine Kriegsbegeisterung das prägende Bild Ende Juli 1914 war. Bislang tendierte man in diese Richtung, nun mehren sich die Zweifel. Inwieweit die vorgenannten Lüneburger euphorisch in den Krieg zogen oder nicht, lässt nicht klären. Der Zusatz in den Unterlagen „Kriegsfreiwilliger“ ist kein Indiz dafür. Jede Nation fühlte sich angegriffen und jeder Soldat zog in einen Verteidigungskrieg. „Wir haben den Krieg nicht gewollt, er ist uns aufgezwungen worden!“ Ob aber nun Kriegsfreiwilliger, Reservist oder in der aktiven Dienstpflicht – im Krieg wurden Menschen zu nummerierten Futter in einer Kriegsmaschinerie, die sie gnadenlos fraß.

In der weiteren Recherche ging es darum herauszufinden, welche Endgrablage dieser Lüneburger noch bekannt bzw. vorhanden sind. Viele Gefallenen wurden in den Nachkriegsjahren auf Sammelfriedhöfen umgebettet. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erhält und betreut diese Gräber. Über den Volksbund konnte ich für dieses Vorhaben zumindest acht Gräber finden. So entstand eine Reiseroute die hier in Bonn ihre erste Station hat und in Flandern ein Ende findet, unvollständig und vorläufig.


Ersatz - Reservist Christian Karl Brackmann, Arbeiter,
+ infolge seiner Verwundung in Flandern am 31.10.1914, 25 Jahre alt.

Bald nach Beginn des Krieges kamen die ersten Lazarettzüge von der Front. Bonn wurde Lazarettstadt. Etwa 67.000 Verwundete wurden in Bonn und Umgebung gepflegt, 1.057 Soldaten verstarben, davon wurden 569 auf dem Nordfriedhof beigesetzt. Unter ihnen befindet sich Karl Brackmann, geb. am 24. Mai 1889, gestorben am 28. November 1914. Als Endgrablage wird beim Volksbund Bonn, Nordfriedhof, Reihe 11 Grab 68 genannt. Diese Information habe ich bei mir und trotzdem suche ich vergebens nach Schildern, die Reihen bezeichnen. Letztendlich gebe ich auf und laufe Reihe für Reihe, Grab für Grab ab, bis ich endlich fündig werde. Der Regen lässt nach und ich habe mein erstes Foto im Kasten. Wie schön ist es doch, wieder in trockene Kleidung und Schuhe zu schlüpfen, während die Scheiben des Autos mehr und mehr beschlagen.

St.-Mihil, 29. Juni



Die nächste Station auf meiner Reise ist der Deutsche Soldatenfriedhof bei Saint Mihiel in Frankreich. So habe ich eine Strecke von ca. 330 km zu überbrücken. Geplant habe ich daher, die Nacht in Luxemburg zu verbringen und den Gottesdienst der Evangelische Kirche von Luxemburg zu besuchen, etwas das ich immer mache, wenn ich in Luxemburg bin. Aber das ist eine andere Geschichte. Nach dem Gottesdienst der Evangelischen Kirche verlasse ich Luxemburg, mache noch einen Abstecher nach Metz und erreiche gegen 15 Uhr St.-Mihiel im Département Meuse. Ca. 7 km West / südwestlich, links abgehend von der D 907 (Rue Porte à Nancy) im Wald von Gobessart befindet sich der Deutsche Soldatenfriedhof St.-Mihiel. Hier finde ich das Grab von Wilhelm Müller, muss allerdings einräumen, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um Wilhelm Müller aus Lüneburg handelt, der hier begraben liegt. Zu vieles, besonders der Ort Warmeriville, in dem er sich angeblich das Leben nahm, passt nicht zu St.-Mihiel, liegt er doch ca. 150 km weit entfernt. Ich war schon in der Planung skeptisch, dass es sich um den Gesuchten handelt, hatte aber den Besuch des ca. 35 km entfernten Fleury-devant-Douaumont sowieso mit eingeplant.

Fleury, 29. Juni
„Bis zum Ersten Weltkrieg führte Fleury-devant-Douaumont ein beschauliches und arbeitsreiches Dasein. Seit Menschengedenken verliefen die Arbeiten und die Tage nach dem Rhythmus der Jahreszeiten, in einem ständigen Ablauf von Saat und Ernte, Holzarbeiten und Weinlese, guten und schlechten Ernten. (...) Die Zeit, die in Fleury-devant-Douaumont stillzustehen schien, beschleunigt nach 1870 ihren Gang. Die Schmalspurbahn Verdun-Douaumont führt an Fleury-devant-Douaumont vorbei. Dann folgt der Bau von La Redoute in Souville, der Forts von Tavannes und Froidelerre und der Zwischenwerke und füllte die Straßen des Dorfs mit zahlreichen Arbeitern und Soldaten. Im August 1914 können die 400 Einwohner die Regimenter von Verdun durchmarschieren sehen, die als Deckung in die Woëvre-Ebene ziehen. Im September bringt die Marne-Schlacht die Frontlinie im Norden und Nordwesten auf wenige Kilometer an den Ort heran. 1915 ist das intakte und mit Truppen voll belegte Dorf Teil der befestigen Region von Verdun.
Fleury vor dem Krieg

Am 21. Februar 1916 erwacht Fleury-devant-Douaumont unter dem Kanonenfeuer des bevorstehenden deutschen Angriffs. Es schneit. Der Horizont steht in Flammen. Die Nachrichten sind selten und widersprüchlich. Es ergeht der Befehl, das Dorf zu räumen. Die Bewohner beladen die Karren, nehmen ihr Vieh und ziehen in Richtung Bras-sur-Meuse und Verdun davon. Unterwegs begegnen sie der Verstärkung auf ihrem eiligen Weg zur Front. Der Fall von Douaumont am 24. Februar bringt Fleury-devant-Douaumont in Sichtweite der Deutschen. Während die Dächer durch die Bombardierung zerstört werden, machen Schützengräben und Unterstände die Keller zu kleinen Inseln des Widerstands. Die Zerstörung von Fleury-devant-Douaumont nimmt kein Ende. Schon im Mai bleibt nur ein Grundriss aus rauchenden Ruinen.“ (Quelle: Conseil Général de la Meuse)
Fleury - vollständige Zerstörung

In seinem Buch „Dix mois à Verdun“ (Zehn Monate in Verdun) beschreibt Abbé Charles Thellier de Poncheville, die Leiden von Fleury: „Zuerst wurden die Häuser reihenweise durch Kugelhagel und Brand zerstört; die Dächer stürzten ein, durchlöcherte, verbrannte Mauern stürzten auf die Straße, in den Garten mitsamt ihrem schiefen, krummen Dachgebälk, ihrer geschändeten Intimität, ihren Bettresten und Matratzen (…). Der Gestank eines Massengrabes hängt in der Luft. Nicht weit von den alten Toten des verwüsteten zivilen Friedhofs, dessen Gräber offen liegen, liegen die neuen Toten in Horizontblau oder Feldgrau (…) Die Heftigkeit der Kämpfe hat alles zersprengt. Die Granaten sind auf die mit dem Blut der Kämpfenden getränkten Ruinen niedergeprasselt. Sie waren übersät mit Leichen, von den Ratten schon angefressen und in einem fortgeschrittenen Zustand der Verwesung, übersät mit den Überresten von Kriegsgerät, ver-rosteten Gewehren, abgebrochenen Schaufeln, Stacheldraht. (…) Man erkennt die Stelle, an der sich das Dorf Fleury befunden hatte, an der Farbe ihrer Steine, zerstreut wie Haufen weißen Schaums, der ununterbrochen auseinander gestoben wird.“

Ich erkenne die Stelle, an der sich das Dorf Fleury befunden hat – nun ja, sie ist beschildert. Die Steine, das Gebälk, die Ruinen, das Kriegsgerät, der Stacheldraht, die Toten – all das ist nicht mehr da oder nicht mehr sichtbar. Die Natur hat alles bedeckt, ein junger Wald wächst seit 1929 über die Unebenheiten, die auf Gräben und Bombentrichter hinweisen. Wege wurden angelegt, Schilder zeigen die Standorte der Häuser; hier der Bäcker, dort ein Bauernhof, die Schmiede, die Schule... Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich ein munteres Dorfleben in der Vorkriegszeit vorzustellen. Wo sind die Stimmen, wo der Lärm der Kinder? Heute ist es still, die Besucher unterhalten sich zurückhaltend, Vogelgezwitscher ist das lauteste Geräusch, das zu vernehmen ist.

Sollten Sie einmal in der Nähe sein oder das Schlachtfeld, die Maas-Mühle, einmal direkt besuchen, schauen Sie doch in Fleury vorbei. Besuchen Sie ein Dorf ohne Einwohner, in dem Sie keine Gastronomie finden, keine Touristikinfo, kein Hotel, keinen Platz, auf dem man Boule spielt… Gehen Sie durch die Straßen, die nicht von Platanen gesäumt sind, die keine Bürgersteige haben, noch nicht einmal gepflastert, lediglich angedeutet sind. Machen Sie sich bewusst, dass Sie an einem Ort sind, an dem Menschen lebten, arbeiteten, lachten und Familien ihre Kinder großzogen.
Wege durch Fleury

Und denken Sie über Europa nach. Lassen Sie Ihre Gedanken durch 100 Jahre wandern, durch zwei verheerende Kriege und eine lange Phase des Friedens und der Freundschaft von 1945 bis heute. Dann lassen Sie Ihre Gedanken aus der Gegenwart in die Zukunft reisen. Wenn Sie Europa dann immer noch auf Schuldenkrise und Bürokratismus reduzieren, Kritik in der Sache mit Kritik an der Sache verwechseln, nationale Abgrenzung Ihnen wichtiger ist als die europäische Integration, dann hat Fleury Sie nicht mehr erreicht.

„Hier in der Stille von Douaumont, in diesem zerstörten Dorf Fleury habe ich deutlich begriffen, dass die Mauern in Europa nicht abgetragen werden können, ohne das vorher die Völker versöhnt werden.“
Jean Guitton de l’Académie française
(1901 - 1999), Philosoph und Schriftsteller


Eine Zeitlang vor „Notre Dame de l‘Europe“ Andacht halten, welche im Jahr 1979 in die Fassade der Kapelle „Fleury“ eingesetzt wurde.

Hier am Kreuzweg der Feindseligkeiten und der Leiden kommt das friedliche Antlitz der Jungfrau, mit dem Mantel umrahmt, zum Vorschein, wie sich der Verwundete aus dem Schlamm erhebt, wie das Leben wieder aus dem Tod entsteht und die Hoffnung aus der Verzweiflung wächst - ist das freiwillige und beruhigende Symbol der Versöhnung sowie der Brüderlichkeit.

Wenn Sie vor den Kapellen stehen, welche an die zerstörten Dörfer erinnern, werden Sie daran denken, dass hier in Lothringen Männer, Frauen, Kinder gelebt haben, die das Land geliebt und seine harte, karge Erde bestellt haben. Hier haben Menschen in Frieden gelebt. Und die Asche ihrer Vorfahren ist jetzt mit der Asche der namenlosen Soldaten vermischt, die hier gefallen sind. Auf dieser Stelle wurde das Beinhaus errichtet, in dem die ewige Flamme der Barmherzigkeit brennt und in dem die Wirklichkeit der Schlachtfelder für immer gegenwärtig bleibt.

Gérard Canini, Geschichtslehrer am Gymnasium in Verdun



Douaumont, 29. Juni
Der Tag neigt sich noch nicht dem Ende, die Sonne scheint über dem Thiaumont-Rücken bei Douaumont. Ich besuche das Beinhaus – das Ossuaire de Douaumont – in dem die Gebeine von über 130.000 nicht identifizierten französischen und deutschen Soldaten aufbewahrt werden. Beeindruckend ist auch der Friedhof mit 15.000 Gräbern französischer Soldaten. Neben christlichen Kreuzen gibt es ein Feld mit Grabstellen für muslimische Gefallene, die nach Osten - Richtung Mekka - ausgerichtet sind. Die Zeit reicht noch für ein paar Fotos und es zieht mich weiter von der Maas an die Marne, das nächste Ziel ist Connantre.

Connantre, 30. Juni
„Der deutsche Soldatenfriedhof Connantre wurde im Jahre 1922 von den französischen Militärbehörden als Sammelfriedhof für die innerhalb von 67 Gemeinden in zahllosen provisorischen Feldgräbern ruhenden deutschen Gefallenen angelegt. Sie hatten während der ersten Marneschlacht Anfang September 1914 südlich des Flusses ihr Leben verloren. Da seinerzeit aus klimatischen Gründen die Toten sehr schnell beerdigt wurden, war eine spätere Identifizierung im Rahmen der Zusammenbettung nur bei etwa der Hälfte möglich. Ihre letzte Ruhestätte fanden hier auch deutsche Kriegsgefangene, die in Lazaretten ihren Wunden erlagen oder in Lagern starben. Die heute hier Ruhenden gehörten den Garde-Regimentern und Truppenteilen an, deren Heimatgarnisonen in Ost- und Westpreußen, Schlesien, Sachsen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Westfalen, Württemberg und dem Rheinland lagen. Insgesamt gehörten sie zu 92 Infanterie-, 6 Kavallerie- und 14 Artillerie-Regimentern nebst Pionier-, Flieger-, Sanitäts- und sonstigen Nachschubeinheiten, die hier seinerzeit im Einsatz waren.“

Ich verbrachte die Nacht auf einer Autobahnraststätte an der E40 / A4 südwestlich von Reims, kurz vor Châlons-en-Champagne. Um nach Connantre zu kommen, schwenke ich am Morgen des nächsten Tages südwärts. Ebenso schwenkte die 2. Armee von ihrem Westkurs durch Belgien südwärts. Bereits Ende August stand sie östlich an der Marne. Anfang September zeigten sich als Folge des schnellen Vormarsches bereits erste Abnutzungerscheinungen. Zwischen der 1. und 2. Armee klaffte mehr und mehr eine Lücke, die den französischen Verteidigern nicht verborgen blieb. Der französische Gegenangriff begann am 6. und 7. September.
Auf dem deutschen Soldatenfriedhof Connantre finde ich zwei Lüneburger, zunächst den 23jährigen Albert Lüdecke, Lehrer und einjähriger Freiwilliger.


Ebenso findet sich hier der Lüneburger Robert Schlüter. Dieser fiel am 6. September bei Charlesville. Albert Lüdecke und Robert Schlüter ruhen beide im Kameradengrab auf dem Soldatenfriedhof bei Connantre.


Menen, 30. Juni
Das nächste Ziel liegt nun ca. 310 km weiter in Belgien. „In Flanders Field“ ist das Stichwort, es geht nach Menen. Während ich in Frankreich kaum Beflaggung zur Fußball-WM 2014 wahrgenommen habe, ändert sich das in Belgien schlagartig. Ob nun in der Wallonie oder hier in Flandern - die schwarz-gelb-rote Trikolore weht an Autos und an vielen Häusern unmittelbar nach dem Grenzübertritt aus Frankreich.



Manchmal ist es schwierig, einen deutschen Soldatenfriedhof zu finden. Entweder stimmen die Ortsangaben nicht oder nur teilweise; oder vor Ort fehlt jegliche Beschilderung. Oder man verlässt sich auf eine Adresse und denkt, das Navigationssystem wird es schon finden. In Menen geht nun alles schief, was schief gehen kann - es fehlt nur noch ein Regen, wie er mir in Bonn beschert war. Vielleicht hätten mir die geografischen Koordinaten geholfen.

Die Straßenangabe hilft so gut wie nicht weiter, was daran liegt, dass die Groenestraat in Menen von der N32 durchbrochen wird. Beide Teile haben nun keine Verbindung mehr zueinander und enden jeweils in Sackgassen. Mein Navigationssystem führt mich natürlich - das entspricht wohl Murphys Gesetz - genau in den falschen Wendehammer westlich der N32. Somit bin ich ca. 3 km vom Friedhof entfernt. Wer einmal diesen Friedhof aufsuchen möchte und ein Navigationssystem benutzt, der gebe besser Groenestraat 129, 8560 Wevelgem, Belgien ein, dann klappt es sofort.

Auf dem größten deutschen Soldatenfriedhof im Westen ruhen 47.911 Gefallene des Ersten Weltkrieges. „Der Friedhof wurde 1917 von der deutschen Truppe nach den Kämpfen im Wald von Menen angelegt. Die Kämpfe in Flandern zogen sich vier Jahre hin und erreichten 1917 ihren Höhepunkt. Häufig konnten die Gefallenen nicht geborgen werden, oft wurden Gräberfelder wieder von Granaten getroffen und zerstört. Nach Kriegsende waren hier 6.340 Gefallene bestattet.

In den Jahren 1955 bis 1959 löste der Volksbund 49 Gräberanlagen im Südteil der Provinz Flandern auf, brachte die Gefallenen nach Menen und legte den Eingangsbau und Ehrenraum an. Die Namen stehen auf Platten aus belgischem Granit.“

Grabplatten mit Lüneburger Gefallene in Menen:



Offiziersstellvertreter Dr. phil. Adolf Tiedge
Oberlehrer am Johanneum in Lüneburg
+ 29.10.1914 bei Gheluvelt, 35 Jahre alt



Unteroffizier Karl Friedrich August Holz
+ 2.11.1914 bei Zandvoorde, 22 Jahre alt



Offiziersstellvertreter Johannes Heinrich Luhmann, Brauereibesitzer
+ 12.11.1914 bei Passchendaele, 35 Jahre alt



Offiziersstellvertreter August Hermann Heinrich Blanke, Zeichenlehrer
+ 7.11.1914 bei Becelaere, 28 Jahre alt



Becelaere

Ypern, 30. Juni
Wenn ich eine „Gräberreise“ mache, fange ich meistens im Süden an. Dieses ist die dritte ihrer Art. Und jedes Mal habe ich das Gefühl, dass ich mit der ersten Station, entweder im Elsass oder in Lothringen, in einen Tunnel fahre. Ich bin alleine mit mir unterwegs und meistens liegen die Friedhöfe abseits jeglicher Zentren. Abgesehen von Punkten wie z.B. Douaumont trifft man kaum auf Menschen, vielleicht bearbeitet ein Landwirt sein Feld in unmittelbarer Nähe eines Friedhofs oder man trifft ein paar Spaziergänger - ein wirklicher Kontakt kommt dabei nie zustande. Erreiche ich dann den sogenannten Ypernbogen, englisch Ypres Salient, französisch Saillant d‘Ypres, die Frontstellung um die westflämische Stadt Ypern, wird das plötzlich anders.

Der Frontbogen um Ypern war durch die Verteidigung der Stadt durch die alliierten Truppen beim Wettlauf zum Meer entstanden. Vier Jahre tobte ein Grabenkrieg, der Ypern und die umliegenden Dörfer buchstäblich in Schutt und Asche legte, tatsächlich blieb teilweise noch nicht einmal der Schutt, geschweige denn die Asche übrig. Der Begriff Kraterlandschaft beschreibt es wohl annähernd. Ich stelle mir bei den alten Fotos, die ja technisch bedingt in schwarz-weiß sind, vor, dass selbst bei Farbbildern nichts auftauchen könnte, was noch Farbe hat. Selbst die horizontblauen Uniformen der Franzosen erschienen wahrscheinlich durch den Schlamm und Dreck schon wieder in Grautönen, die deutschen Uniformen waren sowieso feldgrau. In dieser tristen, verwüsteten Landschaft passierte nun etwas, was plötzlich, vielleicht das erste Mal im Mai 1915, eine „ungewöhnliche“ Farbe ins Spiel brachte - die Mohnblüte setze ein. Mohnsamen bleiben sehr lange keimfähig und keimen, wenn der Boden gestört wird. Dies geschah nun durch das ständige Bombardement der Artillerie. Wohl inspiriert durch diesen Anblick, schrieb der kanadische Arzt John McCrae sein berühmtes Gedicht: In Flanders Field. Heute ist der Klatschmohn daher zur Blume des Gedenkens geworden, besonders in den anglophonen Ländern. Dort wird der Remembrance Day, der Kriegstotengedenktag, auch Poppy Day genannt (Poppy = engl. für Klatschmohn).

In-Flanders-Fields-Museum in Ypern

Ebenso findet in diesem Gedicht der Name eines Museums in Ypern seinen Ursprung, das „In Flanders Fields Museum“, das ich besuchen werde. Seit meinem letzten Besuch im Jahre 1999 hat es sich stark verändert, ist komplett neu gestaltet worden. In diesem Museum legt man hohen Wert auf Interaktivität, d.h. der Besucher soll sich nicht nur die Exponate anschauen, er soll mit dem Thema agieren. An der Kasse erhält man daher ein „Poppy-Armband“, in dem ein Computerchip integriert ist. An der ersten Station fragt das System einige Informationen ab, z.B. das Geschlecht des Besuchers, die Herkunft, das Alter etc. Aus diesen Informationen stellt das System indivduell für den Besucher einige Personen zusammen, die z.Zt. des 1. Weltkrieges wirklich gelebt haben. Diese erzählen an verschiedenen Stationen aus ihrem Leben und von ihren Erlebnissen. Es sind Soldaten, Flüchtlinge, Krankenschwestern, Priester etc., deren Leben und Wirken bekannt ist. Das Museum sucht immer wieder Informationen über Menschen, die in der Zeit von 1914 bis 1918 in Ypern waren, z.B. Feldpostbriefe, Bilder. Ein Besuch dieses Museums ist sehr empfehlenswert, für Schulklassen ebenso wie für den Individualbesucher. Deutsch ist dort genauso Umgangssprache wie Englisch, Französisch und selbstverständlich auch Niederländisch und Flämisch.

In-Flanders-Field Museum

Ich verlasse das Museum, kurz bevor es schließt. Mein Weg zurück zum Auto führt mich durch das sogenannte Menen-Tor. Hier versammeln sich immer mehr Menschen. Britische Schüler in Schuluniformen mit stilisierten Mohnblumenkränzen beherrschen langsam aufbauend das Bild. Das bekannte britische Kriegerdenkmal aus dem 1. Weltkrieg trägt die Namen von 54.896 Soldaten des britischen Empires aus der Zeit von Kriegsbeginn bis zum 15. August 1917.

Namen von 54.896 vermissten Soldaten des britischen Empires - Absent Friends!

Täglich um 20 Uhr findet hier seit 1928 der „Last Post“ (Zapfenstreich) statt. Nach Beendigung des 1. Weltkriegs wurde von den Bürgern der Stadt die „Last Post Association“ gegründet und auch die ehemaligen Feinde werden bei der feierlichen Zeremonie mit einbezogen. Jedes Jahr am 11. November findet um 11.00 Uhr ein besonderer Zapfenstreich als Erinnerung an den Waffenstillstand statt. Bis 20 Uhr ist noch etwas Zeit, die ich nutze, um fotografisch das zu erfassen, was ich sehe - Namen über Namen.

Irgendwann fällt mir ein Uniformierter auf, der etwas abseits steht und eine Zigarette raucht. Als ich näher komme, fragt er mich auf Englisch, ob ich trinke. Ich erkenne im ersten Moment nicht den Sinn seiner Frage und verneine. Erst als er einen Flachmann herausholt, ihn öffnet und in Richtung der unzähligen Namen mit den Worten: „Absent Friends!“ hält, verstehe ich. Er wollte mich zu einem Schluck aus seinem Flachmann einladen. „Where do you come from?“, erkundigt er sich, als er die Flasche wieder absetzt. Es stellt sich im Laufe des Gespräches heraus, dass er Musiklehrer am St John Plessington Catholic College in Bebington am River Mersey gegenüber von Liverpool ist. Desweiteren erzählte er mir, dass er viele Jahre in Hannover bei der britischen Armee stationiert war, und zwar als Heeresmusiker. Jetzt sei er mit Schülern seiner Schule hier, um einen Poppy-Kranz niederzulegen. Nun soll er beim Zapfenstreich mit seinem Clairon, einer Signaltrompete, ein Solo spielen. Daher, so erklärt er mir, sei er sehr nervös, raucht wieder eine Zigarette und nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann, auf „Absent Friends!“ - natürlich.

Mr. D. Ritchie mit Schülern des SJP nach der Kranzniederlegung

Als die Nacht hereinbricht, beschließe ich, noch ein paar Nachtaufnahmen vom Menen-Tor zu machen, das sich, sehr schön angestrahlt, aus der Dunkelheit herauslöst. Morgen steuere ich den letzten Friedhof dieser Reise an.

Menen-Tor bei Nacht

Morgens um acht verlasse ich Ypern und fahre auf dem Weg nach Vladslo noch verschiedene Punkte wie Essex Farm und Langemark an. Viele britische Schulklassen besuchen den deutschen Soldatenfriedhof in Langemark und lassen sich führen. Zwischendurch beantworte auch ich Fragen wie: „What means Landsturmmann?“ Auch hier legen die Schüler, egal welcher Nation sie angehören, Kränze nieder oder die kleinen Remembrance Crosses mit der stilisierten Mohnblüte.

Grabstein in Langemark mit einem sogenannten Remembrance Cross. Schottische Schüler haben auf das Kreuz geschrieben:
„for Kornelius, Willy and Anton, Otto, Heinrich & Johann, Georg & Ein.
Thank you from Rothesay Academy"


Vladso, 1. Juli
Persönlich mag ich den deutschen Soldatenfriedhof von Langemark nicht. Durch pervertierte Heldenverehrung und der Heroisierung mystischer Freiwilligenverbände aus studentischen Reihen findet man hier ab und zu Kränze aus der rechtsextremen Szene. 1999 stieß ich hier auf einen Kranz, dessen Schleifen mit „Der Stahlhelm e.V. - Bund der Frontsoldaten - Kampfbund für Europa“ beschriftet war. Mein belgischer Begleiter sagte damals, dass so etwas in Langemark keine Seltenheit ist. Da ist mir Vladslo doch lieber - schließt sich dort ja auch ein kleiner persönlicher Kreis.

„Um die vielen Kriegsgräber auch im Nordteil der Provinz Westflandern dauerhaft erhalten zu können, wurden ab 1956 kleinere und abgelegene Friedhöfe aufgelöst und die Toten nach Vladslo umgebettet.

Von der Straße Diksmuide-Beerst-Torhout biegt man ca. fünf Kilometer ostwärts Beerst (Wegweiser) nach links ab und erreicht nach wenigen hundert Metern den deutschen Soldatenfriedhof mit 25.645 Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Die Namen der Gefallen sind auf liegenden Platten aus Granit festgehalten. Der Friedhof wurde während des Krieges von der Truppe angelegt.

Vom Eingangsgebäude, das im Inneren einen Raum mit den Namenbüchern enthält, blickt man über die ganze Länge des Friedhofes auf die eindrucksvolle Figurengruppe „Trauerndes Elternpaar“ von Käthe Kollwitz. Die Künstlerin schuf diese Figuren, die die Gesichtszüge ihres Mannes und ihre eigenen tragen, zum Gedenken an ihren Sohn Peter. Dieser fiel im Oktober 1914 in Flandern und hat hier seine letzte Ruhestätte erhalten.“


Die Skulpturen „Die trauernden Eltern“ erstehen 1932 zunächst auf dem Soldatenfriedhof in Roggevelde. Nach dessen Auflösung und Umbettung der Gefallenen nach Vladslo ziehen auch die Skulpturen um.

Unter den 25.645 Gefallenen befindet sich nun der letzte Lüneburger auf meiner Liste, die alles andere als vollständig ist. Hier findet sich der Turnhallenwärter Karl Wilhelm Ritz, gefallen am 1. November 1914 bei Diksmuide.



und Schluss, 2. Juli
Damit ist meine Reise fast am Ende. Bevor ich den Heimweg antrete, schaue ich noch kurz bei Gerd vorbei, der auch hier seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Gerhard Hüntelmann starb 49 Jahre, bevor ich geboren wurde. Wir haben den gleichen Geburtsort. Er wäre bei meiner Geburt ungefähr so alt gewesen, wie ich heute bin, hätte wahrscheinlich eine Familie gehabt und würde heute auf dem Friedhof unserer Heimatgemeinde im Emsland begraben liegen. Zumindest wissen wir, wo er nun zur Ruhe gebettet ist, wie auch die hier genannten: Karl, Albert, Robert, Heinrich, Adolf, Karl, Heinrich und Wilhelm aus Lüneburg, Glieder der St. Johannisgemeinde. Kornelius, Willy, Anton, Otto, Heinrich, Johann und Georg, deren schottische Schüler gedenken. Und Wilhelm, der wohl nicht aus Lüneburg stammt, sowie Gerd aus Lorup, der mich das erste Mal 1999 nach Vladslo führte. 17 Namen von ca. neun Millionen gefallener Soldaten. Jede Kampfhandlung spiegelte sich in täglichen Verlustlisten wider. Zehntausende Frontsoldaten im Niemandsland zwischen den feindlichen Linien waren namenlose Tote, in den Statistiken galten sie als „vermisst“.

1 comment

Annemarie said:

excellent work, and always actuell.
3 years ago