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Straßenfotografen
oder: "Wie durch kleine Begebenheiten, Bilder eine ganz neue Bedeutung erfahren."
Ist Ihnen in der Fotografie schon einmal der Name Jacobi aufgefallen? Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch nie etwas von Lotte Jacobi, geschweige denn von ihrer Schwester Ruth gehört hatte. Es könnte sein, dass sie mir 2017 in der Ausstellung "Die Erfindung der Pressefotografie - Aus der Sammlung Ullstein 1894-1945" in Berlin "unter die Augen gekommen" sind, zumindest Lotte.

Am 24. Mai 2020 besuchte ich eine Ausstellung im Kunst- und Kulturzentrum der Städte-Region Aachen in Monschau. Im Ankündigungstext heißt es: "Lotte Jacobi wurde als Repräsentantin der „Neuen Fotografie“ bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt. Berühmt machten sie ihre Persönlichkeitsbildnisse u. a. von Lotte Lenya, Albert Einstein oder Käthe Kollwitz. Ruth stand Zeit ihres Lebens im Schatten ihrer berühmten Schwester Lotte. Das Œuvre von Ruth ist bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Die Ausstellung vereint zum ersten Mal weltweit das fotografische Werk – bestehend aus Porträts, Stillleben, Reportagen, Lichtbildern und Experimentalaufnahmen – der beiden Schwestern. Neben den Schwarz-Weiß-Aufnahmen werden im Rahmen der Ausstellung zahlreiche Briefe, persönliche Dokumente und Fotos der Familie Jacobi aus der Zeit in Westpreußen, Berlin und den USA gezeigt. Somit entsteht ein persönliches Bild einer der ältesten Fotografenfamilien im Ostdeutschland der Vorkriegszeit, das auch die nicht konkurrenzfreie Geschwisterbeziehung thematisiert." Nach dem Lockdown der Corona-Krise tat es gut, mal wieder eine Fotoausstellung zu besuchen.

Die Bilder der Ausstellung in Monschau haben mir bis auf wenige Ausnahmen (die Photogenic's waren nicht so mein Ding) gut gefallen und da mache ich keinen Unterschied zwischen den beiden Schwestern. Und es zeigt sich mal wieder - übrigens auch in der Ausstellung der Sammlung Ullstein in Berlin - wieviel durch Vorurteil, Populismus, Rassismus, Faschismus und Totalitarismus etc. zerstört wird. Glück für die, die noch rechtzeitig das Land verlassen konnten und Glück für das aufnehmende Land, in dem sie sich entfalteten. Und Pech für das so "geliebte Vaterland" in dem die Vielfalt des Kunstschaffens per Dekret beendet wird.

Und manchmal wird durch ein einzelnes Bild der Besuch einer Ausstellung noch interessanter. Mir fiel spontan ein Bild in der Reihe "Rußland 1932/33" auf, weil ich dort etwas entdeckt habe. Ich wollte darüber schreiben, fand das Bild leider nirgends im Internet (in der Ausstellung durfte man nicht fotografieren). So habe ich das Buch "Rußland 1932/33. Moskau, Tadschikistan, Usbekistan", Broschiert – 1. November 1990 von Lotte Jacobi (Autor), Marion Beckers (Mitwirkende), Elisabeth Moortgat (Mitwirkende), gekauft, welches nur noch im Antiquariat erhältlich ist.

Auf Seite 27 fand ich das angesprochene Bild. Es entstand 1932 in Moskau und trägt den Titel "Straßenfotograf". Es ist nicht der Straßenfotograf (oder Streetphotographer) in unserem Verständnis. Hier zieht keiner durch die Straßen Moskaus und fängt "Situationen" ein. Der Straßenfotograf arbeitet an der Straße, baut Tag für Tag sein "Atelier" in einer ruhigeren Ecke auf und ab, während Menschen an ihm vorbei ziehen oder direkt aufsuchen. An seiner "unhandlichen" Kastenkamera hängt eine gerahmte Platte und zeigt Beispiele seiner Arbeit. Beindruckend ist auch die Verwendung eines anscheinend selbst bemalten Hintergrundbild für die Portraitaufnahmen. Er wird nicht der einzige Fotograf in Moskau gewesen sein, der in den 30er Jahren so seinen Lebensunterhalt bestritt.

Lotte Jacobi: Straßenfotograf, Moskau 1932

Lotte Jacobi muss an dieser Szene ein besonderes Interesse gehabt haben. 1932 ist jedenfalls weit entfernt jeglicher digitaler Fotografie, die Anzahl der mitgeführten Filme daher begrenzt, und, etwas das man nicht vergesen darf: Wir befinden uns 1932 in der Stalinisierung der Sowjetunion. Lotte Jacobi äußerte sich später: "Schwieriger als in der Sowjetunion zu fotografieren sei es gewesen, die Fotos herauszubekommen." Alle diese Widrigkeiten führen letztendlich dazu, seine Motive mit Bedacht auszuwählen.

Ca. 70 Jahre später war ich im Norden Afghanistan unterwegs. Im Gepäck hatte ich die erste DSRL, die unter 1000 € zu haben war. Beeindruckt von der völlig anderen Kultur und Lebendsart in Zentralasien, unabhängig von analogen Filmrollen und auch keine Problem, die Bilder anschließend außer Landes zu bekommen, fotografierte ich alles, was mein Interesse weckte. Natürlich war für mich als Straßenfotograf im ganz anderen Sinne die Geschäftsstraße im afghanischen Taloqan eine Fundgrube an Motiven. Zwischen kleinen Läden und Verkaufsständen im Freien (es war Dezember, nasskalt und die Straßen waren mit Matsch aus Schnee und Sand überzogen) fand ich ihn, meinen Straßenfotografen. Ohne damals von Lotte Jacobi zu wissen, geschweige denn von ihrem Bild, fotografierte ich eine Szene, die sich vom Straßenfotograf 1932 in Moskau von Lotte Jacobi nicht groß unterscheidet.

Arlequin Photographie: Straßenfotograf, Taloqan 2004

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die Details, die uns begegnen und dadurch einem Bild eine andere Wertung geben. Ein 2004 aufgenommenes Bild erfährt 2020 durch ein Bild aus dem Jahre 1932 eine ganz neue Wertschätzung.


9 comments

Bergfex said:

Einfach unglaublich, und sehr berührend.
3 years ago ( translate )

Arlequin Photographi… replied to Bergfex:

Vielen Dank :-)
3 years ago ( translate )

Thorsten said:

Ein interessanter Artikel. Monschau ist leider ein bisschen zu weit weg. Lotte Jacobi ist mir irgendwann schon einmal "über den Weg gelaufen". [Oje, wie wird der Übersetzer diesen Satz übersetzen :-)) ] Allerdings habe ich sie wieder vergessen. Deine Gedanken beim Vergleich der beiden großartigen Fotos kann ich aber gut nachvollziehen und belegen vielleicht zudem meine These: Die Zeiten ändern sich, die Motive weniger . Ich wollte nicht "nicht" schreiben, weil es ja z.B. auch den technischen Fortschritt gibt.
3 years ago ( translate )

Arlequin Photographi… replied to Thorsten:

Die Austellung in Monschau ist auch schon vorbei - also bitte nicht mehr auf den Weg machen :-)))

Ich sage mir immer, dass die Zeiten sich eigentlich gar nicht verändert haben. Vielleicht hat sich der Umgang mit den Geschehnissen verändert - die Technik verändert zwangsläufig Herangehensweisen - aber sind wir soweit entfernt von den fotografischen Welten von Robert Capa, Elliott Erwitt oder Lotte Jacobi? Der Blick in die Vergangenheit ist eben ein anderer als das Beobachten der Gegenwart oder der Blick in die (Möglichkeiten) der Zukunft. Vielleicht hat Vivian Maier ganz ähnlich über ihre Bilder nachgedacht, wie wir es heute mit unseren eigenen tun - man weiß es nicht. Aber der Blick in die Vergangenheit ist immer ein Blick auf eine Sache, die unwideruflich "eingefroren" ist. Die Vergangenheit wird sich nicht ändern und wir kennen das Ende. In der Gegenwart bahnt sich die Zukunft an, das Ende kennen wir nicht. Natürlich bewundere ich die Bilder der "großen Meister" (ich schreibe bewusst, die Bilder, denn ich habe diese Fotografen nie persönlich kennengelernt), aber ich verkläre sie nicht. Und wenn ich die Motive vermisse, die diese Fotografen hatten, dann bin ich blind, denn die Motive sind noch da.
3 years ago ( translate )

Schussentäler said:

Danke für diesen sehr interessanten Artikel
3 years ago ( translate )

Jenny McIntyre said:

Brilliant article, explaining certain ideas - wonderful
2 years ago

Jenny McIntyre said:

Wéi interessant - Ech hunn net geduecht datt dëst geschitt, awer Dir hutt eis gewisen, net nëmmen d'Fotoen, déi gemaach goufen, awer d'Fraen déi se huelen. Faszinéierend.
2 years ago ( translate )

Albrecht Girle said:

Vielen Dank für die Informationen zu Leben und Werk der beiden Fotografinnen - und für deine "bildhaften" und persönlichen Erinnerungen.
9 months ago ( translate )

Arlequin Photographi… replied to Albrecht Girle:

Ich habe zu danken :-) Kaum einer ließt hier die Artikel.
9 months ago ( translate )