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Valizas

Erinnerungen, Gedanken, Überlegungen
zu dem gleichnamigen Album
mit Fotos von Albrecht Girle

Hinter den letzten Hütten am Dorfrand, nach einem krautigen Sandhügel, öffnet sich in der Wintersonne ein weites Landschaftspanorama: Ein Flüsschen, das sich türkisfarben in den Südatlantik ergießt, und dahinter eine schier endlose Sanddüne. Vorn, am Ufer, zwei hölzerne Fischerboote, flankiert von Männern, Frauen und Kindern. Ein jeder von ihnen verrichtet andere Handgriffe: Die Netze leeren und ordnen, Kisten stapeln, den Fang sortieren. Improvisierte Tische, an denen Fisch filetiert wird. Daneben der einachsige Karren mit einem stoisch wartenden Pferd. Und die Hunde, welche in Seelenruhe die Skelette kleiner Haie kauen.

Mich fasziniert diese Gruppe von Fischern in ihrem wortlosen Reigen der Arbeitsteilung. In einiger Entfernung richte ich die Kamera ein, will Fotos haben und möchte doch nicht stören. Nur zögernd und schrittweise komme ich näher. Da helfen mir die Kinder mit ihrer Neugier auf Fremdes: Sie mustern mich kritisch, bevor sie mir ihre Beute vom Beifang zeigen: Köderfische und handtellergroße Cangrejos, die in der Luft hilflos mit ihren Scheren rudern. Dann winkt mich beiläufig einer der Erwachsenen heran – nicht unfreundlich, mit blutverschmierten Händen.

Irgendwann gegen Mittag stehe ich mit ihnen bis zur Hüfte im Wasser, das Auge am Sucher und überall. Verstehe ihre Sprache kaum, doch ich darf meine Bilder machen. Als am Ende die Flasche mit Clarete kreist, bin ich eingeladen mit zu trinken auf das Wohl von Mirta, die an diesem Tag Geburtstag hat.

Wendepunkt
Die Bilder dieses Albums, entstanden während einiger unvergesslicher Stunden am 16. September 2006, bekamen für mich eine bleibende Bedeutung, weil sie einen Wendepunkt in meinem Leben markieren. Kurz zuvor war ich in dieses mir (fast) unbekannte Land gekommen mit der Frage, ob ich bleiben könnte. Und die Fischer schienen mir zu sagen: Du darfst! (Gerade hatte ich in der Landeshauptstadt, knapp drei Autostunden entfernt, das Haus gefunden, in dem ich heute lebe).

Fischerdorf


Wir sind in Valizas, einem Fischerkaff am Südatlantik, in Uruguay www.youtube.com/watch.

Jetzt, im Winter 2006, leben hier elf Familien mit 50 Menschen. 30 davon bilden die Fischereigenossenschaft. Der geht es schlecht, seit Hochseetrawler und Fabrikschiffe widerrechtlich in die Hoheitsgewässer eindringen und alles wegfangen. Der Almacen, ein Tante-Emma-Laden mit Whisky-Theke, hat täglich geöffnet. Aber der Bäcker heizt den Ofen nur zweimal in der Woche an; mehr lohnt nicht.

Im Hochsommer, während der kurzen Ferien-Saison zwischen Silvester und Ende Februar, leben und feiern hier bestimmt 10.000 Strandbewohner in diesem Dorf, das nur über eine Schotterpiste zu erreichen ist.

Dann zieht ein vorwiegend junges und alternatives Völkchen in die Strandhütten, schlägt in den Vorgärten Zelte auf oder schläft einfach unter einer Plane in den Dünen. Sogar der offizielle Internet-Auftritt spricht von Hippies und einem Ruch von Rebellion ;-) www.portaldevalizas.com.uy/es/valizas

Rastalockige Pärchen bessern mit selbstgemachtem Schmuck, den sie auf Decken am Boden anbieten, ihre Reisekasse auf. Und sie tanzen, auch tagsüber, auf den unbefestigten Wegen zu Klängen von Cumbia, Reggae, Rock, Candombe und Latino-Jazz. Überall wird Musik gemacht, Betrunkene trifft man wenig, aber irgendwo glimmt immer ein Joint.

Rebellion?
Dass junge, unkonventionelle Leute dieses Fleckchen Erde für sich entdeckt haben, ist kein Zufall. Dahinter steckt eine bewegende, schöne und auch tragische Geschichte. Und die hängt mit den 12 Jahren von 1973 bis 1985 zusammen, als in Uruguay eine zivil-militärische Diktatur herrschte, die als grausames Folter-Regime im Gedächtnis geblieben ist. Die geistige Elite des Landes, Oppositionelle und Widerständler waren entweder im Exil oder im Gefängnis - oder im eigenen Land abgetaucht. Das Schicksal vieler "Verschwundener" ist bis heute ungeklärt.

Unruhe...


Es war in den späten 1960er Jahren, da kriegten die Fischer allmählich Nachbarn aus der Stadt; die bauten sich aus Treibholz und anderen Fundsachen Sommerhütten in den Dünen sowie improvisierte Zisternen (denn Strom und Wasser gab es nicht). So entstand in den Dünen eine Art Künstlerkolonie, denn die Stadtleute zogen Freunde und Gleichgesinnte nach.

Der Standort erwies sich als gut gewählt. Denn während im Land der Druck auf Oppositionelle wie Gewerkschafter, Intellektuelle und Kulturmenschen immer größer wurde, bewährte sich Valizas als Rückzugsort. Der Ort war, wie schon erwähnt, nur über eine unbefestigte Piste zu erreichen, sodass Polizeirazzien oder Militärkonvois nie unbemerkt blieben. Und wenn sie kamen, kriegten sie es mit den Fischern zu tun.

...im Schmugglernest

Die Fischer von Valizas sind seit jeher ebenso sturmerprobt wie freiheitsliebend.
Sie beliefern den Markt nicht nur mit Frischfisch und den besonders geschätzen Camarones (Garnelen). Sie waren auch stets in ihrem "Zweitjob" als Strandräuber erfolgreich. Denn dieser Küstenstrich war bei den Seefahrern gefürchtet. Seit hier 1516 eine spanische Galeere auf Grund lief, ist die Gegend "gespickt" mit Schiffswracks - die meisten aus der Segelschiffs- und Dampfschiffsepoche und lieferte Treibgut und Schmuggelware. Ein inniges Verhältnis zur Obrigkeit hatten die Fischer nie.

Widerstand...

Jetzt, nach dem Staatsstreich 1973, merkten sie, dass es nebenan in den roh gezimmerten Strandbuden beim Grillfeuer konspirative Treffen gab. Dort entstanden Flugblätter und Aufrufe gegen die Diktatur. Proteste wurden geplant und in aller Heimlichkeit vorbereitet. Valizas wurde eines der Widerstandsnester gegen die Unterdrückung. Das konnte nur gelingen, weil die Fischer und die "Studierten" der Militärjunta gemeinsam die Stirn boten.

...und Beistand
Manche der Oppositionellen, wenn sie überall gesucht wurden, verdankten ihr Leben den Bootsleuten. Kamen im Morgengrauen in Fischerkluft mit tiefgezogenen Hüten an Bord und wurden an einem einsamen Strand abgesetzt, wo man sie erwartete für die Flucht ins Ausland.

Und die Fischer? Die kriegten durch die Akademiker Zugang zur Meeresforschung und lernten so, verbesserte Methoden zur Aufzucht, Vermehrung und zum Fang der Garnelen anzuwenden. Und siehe da: Wenn das Garnelenfischen früher bloß ein Nebenwerwerb für wenige Wochen im Februar und März war - heute ist es die Hauptertragsquelle der Fischereigenossenschaft.

Die camarones von Valizas sind in Lateinamerika eine berühmte Delikatesse und immer ausverkauft. Gefangen werden sie in speziellen Reusen des Nachts mit Licht (www.youtube.com/watch ab min. 1:35)

Ein Comic
Du fragst, warum ich das hier erzähle? Als ich die Fotos machte, wusste ich von alledem nichts. Gute Freunde hatten mich mitgenommen und konnten es mir sagen, weil sie Verfolgung, Einzelhaft und Folter überlebten und mir die Schönheit von Valizas zeigen wollten.

Unter den schriftlichen und mündlichen Zeugnissen von dieser Zeit sticht ein kunstvoller Comic-Band hervor, der den "Alltagshelden" dieses kleinen Dorfs gewidmet und schlicht "Valizas" betitelt ist. Der Autor Rodolfo Santullo (Uruguay) und der Zeichner Marcos Vergara (Argentinien) zeigen die Geschichte eines Fischers und seines kleinen Sohns, Ulises und Felipe, die mit den Gräueln der Militärjunta konfrontiert werden und Partei ergreifen müssen:
historieteca.mitiendanube.com/productos/valizas/.
Ein hartes Stück Zeitgeschichte vor einer atemberaubenden Landschaftskulisse.

Der "Wanderdünenwalzer"
Wenn du diese Stimmung auch im Ohr haben möchtest - diese Mischung aus Idylle und Realität, jene trotzige Melancholie, die Töne zwischen Widerstand und Nostalgie, dann empfehle ich dir "El vals de la Duna". Dieses Lied von Daniel Viglietti (1939-2017) drückt das alles für mich aus. www.youtube.com/watch.

Aus seinem Exil in Paris wurde Daniel in den 1970er Jahren zu einer Stimme Lateinamerikas gegen die Gewaltherrschaft, zusammen mit Victor Jara, Mercedes Sosa u.a. Ich bin froh, dass ich ihm schon 2006 begegnet bin (Foto).

Dieses Album habe ich heute, am 27. Juni 2023, fertiggestellt. Ein markantes Datum, weil genau 50 Jahre zuvor mit einem Staatsstreich jenes Gewaltregime begann, das zwölf Jahre andauerte. Beendet wurde es ohne Hilfe von außen von den vielen "kleinen Leute" wie diesen Fischern aus Valizas, weil sie die Furcht in Widerstand verwandelt haben.



3 comments

Max Biobauer said:

Interessante Geschichte, Deine offenbar auch. Ich habe 1990 als Student beschlossen, mit 60 genug Geld verdient zu haben, um dann keins mehr verdienen zu müssen und die Welt zu erkunden. Der Tag rückt nun langsam näher, es sind keine vier Jahre mehr. Langsam sollte ich mir überlegen, wie ich den Plan umsetzte. Meine Partnerin scheint meinen Plan auch interessant zu finden. Woher kamst Du ursprünglich?
9 months ago ( translate )

aNNa schramm said:

Wie oben Jens bereits sagt eine wunderbare Geschichte und ich denke auch eben die Deine !!!
Gratulation für dieses Album - Ich danke sehr dafür.
Grüße aNNa

www.youtube.com/watch?v=K_lkkRrbMYY&list=RDEMcm6PfBlLxHjSl4kfAGDc5A&start_radio=1&rv=Grzed7Ir1D0
9 months ago ( translate )

Mikus said:

Eine sehr eindringliche und gut geschriebene Reportage. Sie macht Lust auf mehr über Land und Leute. Vielen Dank für diesen auch sehr persönlichen Einblick.
6 months ago ( translate )