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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 31
Malins Wohnung lag in einem Apartmentblock am Stadtrand. Die Zufahrt zur Tiefgarage kontrollierten zwei uniformierte Beamte. „Auch der Hauseingang wird kontrolliert“, sagte Espensen.
Mit dem Lift fuhren sie in den siebten Stock. Delamotte überlegte: einerseits würde die Lage es einem Eindringling schwer machen, überhaupt bis zur Wohnung vorzudringen. Andererseits: war er einmal drin, gab es im Prinzip keinen Fluchtweg.
Eine rothaarige Polizistin öffnete die Wohnungstür. Delamotte bemerkte bereits im Flur den Kontrast zwischen der Wohnung von Malin Gjelland und derjenigen ihres ehemaligen Partners. Die Wände waren in hellen, freundlichen Farben gestrichen, auch das Mobiliar war überwiegend hellbraun oder beige. Das Sofa und die Sessel im Wohnzimmer, in das die Beamtin sie führte, hatten einen sommerlichen Orangeton. Die Farbgestaltung erinnerte ihn ein wenig an Brittas Zuhause. An den Wänden hingen Fotos, überwiegend wohl von Malins Söhnen, auf dem Weg vom Kind zum jungen Mann. Auf Schränken und Regalen erkannte Delamotte Figuren und anderes schmückendes Beiwerk, über einem kleinen Computertisch hing ein Mobilé, ähnlich dem, das ihm im Flur aufgefallen war. Sie befanden sich in der Wohnung einer Frau, ganz eindeutig.
Die Bewohnerin empfing sie am Esstisch. Sie hatte Kaffee gekocht und einen großen Teller Kekse hingestellt. Man konnte Malin Gjelland ansehen, dass sie um die Fünfzig war, aber die Fältchen taten ihrer Attraktivität keinen Abbruch. Eher im Gegenteil, empfand Delamotte. Die schlanke, großgewachsene Blondine trug einen dunkelblauen Sweater und eine hellblaue Jeans. Sie bat die Gäste, Platz zu nehmen und sich zu bedienen.
„Sie glauben also“, eröffnete sie das Gespräch, „dass der Vater meiner beiden Söhne ein mehrfacher Mörder ist.“
„Überrascht Sie das?“, fragte Pesch.
Malin Gjelland überlegte eine Weile, schüttelte dann den Kopf: „Nicht so wirklich, um ehrlich zu sein. Es schockiert mich, dass es dann so weit gekommen ist, aber überrascht bin ich deshalb nicht.“
Delamotte schaltete sich in die Diskussion ein: „Mich würde schon interessieren, warum.“
„Osterfeld hatte schon immer etwas Dunkles, Brütendes“, antwortete sie.
„Es gibt viele Menschen, auf die so eine Beschreibung zutrifft“, sagte der Psychologe, „und beileibe nicht alle davon werden zu Mördern. Bei manchen mag dieser Eindruck sogar extrem stark täuschen.“
Malin blickte ihn ziemlich lange an. „Es gab Zeiten, da habe ich genau das, was sie gerade gesagt haben, auch von Osterfeld gedacht“, erklärte sie, „und wenn ich an diese Zeiten denke, dann möchte ich ihn wieder Leo nennen. Aber das war eine vergleichsweise kurze Zeit, allerhöchstens fünf Jahre.“
Sie trank einen Schluck Kaffee. „Wir lernten uns im Sommer 1979 kennen“, erzählte Malin, „sogar das genaue Datum kann Ihnen nennen, wenn Sie wollen.“ Delamotte schüttelte lächelnd den Kopf. „Er war damals schon Lehrer, Anfang Dreißig. Ziemlich still, introvertiert, ein bisschen abweisend sogar. In sich gekehrt, nennt man das wohl. Was mir direkt an ihm auffiel, waren die Augen – ein sehr intensiver Blick, ein bisschen durchdringend sogar. Und es war dieser Blick, der mich von Beginn an faszinierte – ich musste diesen Burschen näher kennenlernen.“
Es fiel der Frau nicht leicht, all diese Erinnerungen wieder hervorzukramen – dies war Delamotte klar. „Wissen Sie, ich war damals immerhin schon 25 Jahre alt“, fuhr sie fort, „aber wirklich erwachsen war ich noch nicht. Ich war eine Abenteurerin, tingelte durch Europa, kehrte ab und zu wieder nach Norwegen zurück, nur um dann recht bald wieder aufzubrechen. Meine materiellen Bedürfnisse waren überschaubar – es reichte mir, ab und zu mal ein paar Wochen zu jobben, um wieder etwas Geld in der Tasche zu haben. Ich wollte einfach leben.“ Malin Gjelland stutzte, korrigierte sich dann: „Falsch. Der Ausdruck ist zu schwach. Ich lebte. Und ich genoss das Leben. Sorglos. Nennen Sie es ruhig auch leichtfertig.“
Delamotte hatte sich entschieden, die Frau einfach reden zu lassen. Pesch und Marino folgten seinem Beispiel. „Ich glaube, diese Sorglosigkeit war es, was Osterfeld an mir interessierte“, erzählte sie. „Wir trafen uns also auf diesem Konzert in Dortmund. Ein paar Tage später besuchte ich ihn in Minden, eigentlich sollte es nur ein verlängertes Wochenende werden. Es waren Sommerferien, Osterfeld hatte viel Zeit. Und aus einem Wochenende wurden schließlich über acht Jahre. Ich zog zu ihm, jobbte mal hier mal da. Deutsch sprach ich damals schon fließend, ich hatte es in der Schule als zweite Fremdsprache nach Englisch gelernt. Und ja, für uns beide war es eine spannende Zeit, glaube ich. Seine besonnene, abgeklärte Art gefiel mir, ich kam an seiner Seite endlich mal zur Ruhe. Umgekehrt, denke ich, färbte meine Lebensfreude auf ihn ab. Er wurde lockerer, gesprächiger, entwickelte sogar einen etwas abgründigen Sinn für Humor.“
Draußen waren Wolken aufgezogen, ein plötzlicher Regenschauer ging nieder, es wurde schlagartig überraschend dunkel. Malin schaltete die Deckenlampe über dem Tisch an und sprach weiter: „Ich wurde schwanger, im Sommer 1982 kam Gunnar zur Welt. An unserem Glück änderte das erst mal nichts, im Gegenteil. Osterfeld bemühte sich sehr, ein fürsorgender Familienvater zu sein, und eine Weile gelang ihm das auch ganz gut. Als moderne junge Leute hielten wir beide die Ehe für nicht mehr zeitgemäß. Auch als dann im Frühjahr 1984 Henning geboren wurde, schien sich erst mal nichts zu ändern.“
Sie holte einmal tief Luft, bevor sie fortfuhr: „Ich habe gerade gesagt, dass Osterfeld ein fürsorgender Vater war. Das kann ich ihm nicht absprechen. Aber was er, fürchte ich, nie empfand gegenüber den beiden Jungs, war Liebe. Das, was Osterfeld antrieb, war vielleicht Verantwortung, Pflichtgefühl – tut mir leid, wenn ich das so schrecklich deutsch darstelle, aber so war er eben. So etwas wie Liebe, Nähe, Hingabe – ich weiß nicht, ob Leo Osterfeld so etwas jemals in sich hatte. Verantwortung übernehmen, Aufgaben erledigen, Erwartungen erfüllen – das war seine Stärke. Mir reichte das aber nicht. Mir fehlte etwas, und ich bemerkte, dass es den beiden Kindern auch fehlte.“
„Etwa ein Jahr nach Hennings Geburt“, führte Malin Gjelland aus, „änderte sich Osterfelds Verhalten uns gegenüber spürbar. Heute glaube ich, er war mit seiner Rolle als Partner und Familienvater überfordert, vielleicht fiel er in alte Verhaltensmuster zurück, aus der Zeit, bevor wir uns kennengelernt hatten. Manchmal hatte ich das Gefühl, er merkte gar nicht, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte.“ Sie deutete auf ihre Stirn: „Also, hier, da wusste er das durchaus, aber…“ Ihre Hand wies auf ihr Herz: „Aber hier, da war nichts. Da schien er ganz alleine in seinem Loch zu hausen. Er blieb nun immer öfter lange weg. Was er da gemacht hat, weiß ich nicht. Anfangs glaubte ich, er habe vielleicht irgendwo eine Geliebte. Heute kommt mir der Gedanke lächerlich vor.“
„Ich fühlte mich alleine, suchte etwas Halt an den Kindern“, sagte sie, „aber da war ja mehr in mir als nur die Mutterrolle.“ Delamotte sah, wie schmerzhaft es für die Frau war, von diesem Teil ihres Lebens zu erzählen. „Anfang 1986 lernte ich einen Mann kennen, einen Assistenzarzt am Krankenhaus. Recht bald entwickelte sich eine Affäre, aber er hatte keine weitergehenden Interessen an mir.“
Sie seufzte: „Ich ließ ihn fallen, aber er blieb nicht der einzige. Es fiel mir nicht schwer, Männer für mich zu gewinnen. Ich sah gut aus, strahlte immer noch Lebensfreude aus, auch wenn das damals schon mehr und mehr gespielt war. Im Sommer 1986 traf ich dann Henri Franzen bei einer Vernissage. Ich glaube, wir waren uns vorher schon einmal begegnet.“
Ein Lächeln erschien auf Malins Gesicht: „Eigentlich war es eine Verrücktheit, eine amour fou, wie es die Franzosen nennen. Aber der Junge gefiel mir, seine Lebensfreude war nicht gespielt, er erinnerte mich an meine eigene Jugend. An seiner Seite fühlte ich mich wieder jung. Und er war ein hübscher Kerl, ziemlich sportlich noch dazu. Erst nach einem guten halben Jahr wurde mir klar, dass ich mich auf etwas eingelassen hatte, das ich nicht kontrollieren konnte.“
Sie stand auf, ging kurz in die Küche, und kam mit einer Flasche Aquavit zurück. „Möchte jemand von Ihnen auch ein Glas?“, fragte sie. Das Kopfschütteln ihrer Gäste schien sie einen Moment lang zu verunsichern: „Ich hoffe, es stört sie nicht, wenn ich mir um diese Zeit einen Schnaps genehmige.“
Pesch antwortete: „Ist ganz in Ordnung, Frau Gjelland, wir verstehen das sehr gut.“ Delamotte nickte ihm anerkennend zu. Malin goss sich ein relativ großes Glas ein, aus den Erzählungen Tatjanas kannte er den Begriff „sto gramm“ für einen großen Schuss Wodka. In Norwegen schien es diese Ration für Aquavit zu geben. Die Gastgeberin stürzte den Schnaps schnell hinunter.
„Sehen Sie“, erzählte sie weiter, „für Henri schien unser Verhältnis eben doch mehr zu sein als eine Affäre. Er bedrängte mich, von Monat zu Monat stärker, Osterfeld zu verlassen und mit ihm etwas Neues zu beginnen. Im Nachgang klingt es fast bezaubernd. Romantisch und verrückt.“
Kurz erschien ein verträumter Ausdruck auf ihrem Gesicht, aber dann brach die Realität wieder hervor. „Ein Kunststudent“, sagte Malin Gjelland kopfschüttelnd, „wie will er denn eine Familie über Wasser halten? Das habe ich ihm damals versucht beizubringen, möglichst schonend. Aber bringen Sie so einen verliebten Jüngling mal zur Vernunft. Das funktioniert nicht. Zumindest hat es bei Henri nicht funktioniert. Vielleicht war ich auch einfach nicht überzeugend genug.“
„Schließlich, im September 1987, sah ich nur noch einen Ausweg“, berichtete die Gastgeberin, „und ich hatte Leute, die mich unterstützten und bestärkten. Meine Mutter, meine Schwester, ein paar alte Freunde. Ich wäre bei einem Neuanfang in Norwegen nicht ganz auf mich alleine gestellt. Und Osterfeld fuhr morgens, nach einem weiteren schweigsamen Frühstück, zur Schule. Und ich zog die Jungs an, packte ein paar Klamotten in einen Koffer, hob noch etwas Geld vom Konto ab, und verließ Osterfeld. Und Henri. Und Deutschland. Es war so etwas wie eine Flucht.“
Sie blickte Delamotte direkt an: „Ich habe gehört, Henri habe meinen Abschiedsbrief von damals die ganzen Jahre über behalten.“ Der Psychologe bestätigte dies. Malins Gesichtsausdruck wirkte gleichzeitig traurig und liebevoll: „Das hätte ich nie gedacht. Ausgerechnet Henri, der sensible Junge, war wirklich ernsthaft an mir interessiert. Was sagt man dazu?“ Sie fragte Delamotte, wie es Henri Franzen seither ergangen war, und er rekapitulierte in kurzen Worten, was er über den Maler und Bildhauer wusste.
Als sie schließlich an der Wohnungstür standen, erklärte Malin: „Immerhin, durch diese ganze Geschichte bin ich dann doch endlich irgendwann erwachsen geworden. Erst mit über Dreißig, aber immerhin. Ich habe mich darauf konzentriert, Gunnar und Henning großzuziehen, und ich denke das ist mir gut gelungen. Ich bin auf jeden Fall stolz auf die beiden.“ Und sicherlich war die Frau auch stolz auf sich selbst, dachte Delamotte, und sie hatte jedes Recht dazu.

Auf dem Weg zum Hotel hatte sich das Wetter bereits wieder gedreht, die Wolken waren verschwunden und die drei Besucher aus Marßen saßen bei überraschend schönem Spätsommerwetter in einem von Solberg empfohlenen Restaurant am Hafen. Der Weg dorthin war allerdings ein Hindernislauf durch verschiedene Baustellen gewesen. Es war noch hell, bis zum Sonnenuntergang hatten sie noch über eine Stunde Zeit. Nachdem sie bestellt hatten, wandte sich Pesch an Delamotte mit der Frage, ob das Gespräch mit Malin Gjelland irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht hatte.
Der Psychologe überlegte kurz, bevor er ausholte: „Ich denke schon. Malins Version der Geschichte erklärt zumindest, warum die beiden ein Paar wurden.“
Marino warf lächelnd ein: „Gegensätze ziehen sich an.“
Delamotte nickte bestätigend: „Ja, das fasst es sehr gut zusammen. Der introvertierte, etwas mürrische und grüblerische Mann. Die lebenslustige, etwas leichtsinnige Frau. Und für ein paar Jahre hat diese Verbindung funktioniert, für beide.“
„Aber sie funktionierte nur unter idealen Bedingungen“, bemerkte Pesch.
„Vor allem Osterfeld funktionierte nur unter idealen Bedingungen“, korrigierte Delamotte, „mit den Kindern brachen seine negativen Eigenschaften stärker hervor.“
„Hat er denn überhaupt positive?“, fragte Marino.
„Zumindest hatte er welche, das hat Malin ja erzählt“, sagte Delamotte und zählte auf: „Fürsorglichkeit, Verantwortung, Pflichtgefühl.“
„Aber keine Liebe, keine Gefühle“, erwähnte Pesch.
Der Psychologe schüttelte den Kopf: „Das würde ich so eindeutig nicht sagen wollen. Die letzten Monate zeigen uns doch, dass Leo Osterfeld sehr starke Gefühle hat – allerdings nur für sich selbst.“
Beim Essen stellte Marino die Frage in den Raum, warum Osterfeld zu so einem Monster geworden war.
„Für mich stellt sich diese Frage momentan gar nicht“, warf Delamotte ein.
Die Ermittler waren verblüfft. „Ich hätte erwartet, dass sowas gerade dich interessieren würde“, sagte Pesch.
„Weil ich ein Psychologe bin, meinst du“, erwiderte Delamotte. „Wenn ich Therapeut wäre, und Osterfeld mein Patient, dann müsste ich die Frage nach dem Warum in den Vordergrund stellen. Beides ist aber nicht der Fall. Ich arbeite für die Polizei, und Osterfeld ist ein Serienmörder. Punkt. Die Frage, warum er einer ist, interessiert mich nur dann, wenn ihre Antwort dabei hilft, ihn zu identifizieren oder zu lokalisieren. Ultimativ: ihn zu stoppen. Alles, was darüber hinausgeht, ist akademischer Natur. Zumal mir persönlich diese Frage nach dem Warum zu oft gestellt wird, um die wichtigere Frage nach der Schuld zu umgehen.“ Er bemerkte bei beiden Ermittlern ein leichtes, zustimmendes Nicken. „Aus allem, was wir über ihn wissen“, fuhr Delamotte fort, „können wir mit Sicherheit eines ableiten. Die Schuld für Leo Osterfelds Handeln liegt nicht bei Malin Gjelland. Nicht bei Henri Franzen. Nicht bei Bussmann oder Strack oder irgendeinem anderen Opfer. Die Schuld liegt bei Leo Osterfeld selbst.“
Kurz nachdem die Kellnerin den Tisch abgeräumt und Pesch noch drei Bier und drei Aquavit als Absacker bestellt hatte, ging über dem Hafen die Sonne unter. Alle drei zuckten ihre Handys, stellten sich an die große Fensterfront und machten ein paar Schnappschüsse. Sie waren nicht die einzigen Gäste, die das taten.
Zurück am Tisch, sinnierte Marino: „Was meinst du, Alter, wo steckt Osterfeld genau jetzt?“
Delamotte fiel die Antwort nicht schwer: „Er ist definitiv schon hier in der Stadt. Nenn es Bauchgefühl – Ray hat das immer als geronnene Erfahrung bezeichnet.“ Pesch grinste breit, die Formulierung gefiel ihm offenkundig. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass er bereits Malins Nähe sucht“, sprach Delamotte weiter, „sie bereits auskundschaftet. Sie wahrscheinlich schon etwas ausgekundschaftet hat. Lange wird er nicht warten wollen. Er wird ahnen, dass er nicht wirklich viel Zeit hat.“

Am Vormittag kamen Espensen und Solberg zu einer weiteren Besprechung ins Hotel. In einer lauschigen Ecke der Lobby drückte der norwegische Kommissar seine Zuversicht aus, die Lage unter Kontrolle zu haben. „Alle Zufahrtstraßen in die Stadt werden kontrolliert“, betonte er.
Während Pesch und Marino diplomatisch schwiegen, wurde Delamotte deutlich. „Eine solche Maßnahme hat bestenfalls symbolischen Charakter“, warf er ein. Espensen reagierte vorsichtig ausgedrückt verständnislos, und Delamotte konkretisierte seine Skepsis: „Osterfeld ist schon längst in der Stadt, seine ganze Geschichte lässt keine anderen Schlüsse zu. Ihm ist klar, dass wir nicht weit weg sind. Warum sollte er unnötige Risiken eingehen? Zum Beispiel das Risiko, in eine dieser Kontrollen zu geraten?“
Espensen reagierte sichtlich genervt: „Frau Gjelland steht zusätzlich permanent unter Polizeischutz.“
„Und das wird der Uhu zumindest ahnen“, erwiderte Delamotte, „sofern er es nicht schon gesehen hat. Letzteres ist wahrscheinlicher. Und glauben Sie mir eins: das wird ihn von seinen Plänen nicht abhalten.“
„Und was würden Sie mir dann empfehlen?“, war Espensens Frage, gestellt in sarkastischem Tonfall.
Delamotte ging ganz ernsthaft darauf ein, ohne sich provozieren zu lassen: „Stellen Sie sich einfach die Frage, wo Malin am angreifbarsten ist. Osterfeld stellt sich diese Frage garantiert. Vielleicht hat er in der Zwischenzeit auch schon die Antwort gefunden.“
Wenig später stimmte Pesch Espensens Angebot zu, Malin Gjelland einmal an ihrem Arbeitsplatz zu besuchen. Solberg begleitete die Gäste aus Marßen zum Hafen und verschaffte ihnen Zutritt zu dem durch uniformierte Beamte abgeschirmten Bürokomplex, in dem sich auch die Agentur befand, für die Malin arbeitete.
„Ich war wohl etwas zu direkt zu Espensen“, sagte Delamotte selbstkritisch, als sie auf das Gebäude zugingen und dabei aufpassen mussten, nicht unter eines der vielen Baufahrzeuge zu geraten, die auf dem Gelände unterwegs waren.
„Nun ja, Espensen ist ein bisschen sehr von seinem Apparat und seinen Standards überzeugt“, antwortete Pesch, sehr zu Delamottes Überraschung.
„Und deshalb habe ich versucht, ihn recht kräftig zu rütteln“, erklärte der Psychologe, „aber leider ohne Erfolg, fürchte ich.“
„Vielleicht stellt er ja doch das eine oder andere in Frage“, bemerkte Marino.
„Schön wär’s“, erwiderte Delamotte, „viel Zeit hat er jedenfalls nicht mehr, schon alleine weil Osterfeld sich selber auch nicht mehr viel Zeit gibt.“

Malins Schreibtisch war der einzige in dem recht großen Büro, der besetzt war. „Die anderen Mitarbeiter sind gerade mit Besuchergruppen unterwegs, oder sie haben heute frei“, erklärte sie. In der Ecke saß ein norwegischer Beamter in Uniform, der sie vermutlich auch bei Führungen begleitete, dachte Delamotte. „Wir haben ein bisschen Zeit“, sagte Malin, „die deutsche Reisegruppe, die ich durch das alte Hanseviertel führen werde, kommt erst in einer guten halben Stunde.“
Sie plauderten eine Weile, nach gut fünf Minuten entschuldigte sich Pesch. Er verließ den Raum, um den Rückflug am Nachmittag zu bestätigen.
„Wie lange, glauben Sie, wird dieser Ausnahmezustand noch andauern?“, fragte Malin mit Blick auf den uniformierten Polizisten.
„Schwer zu sagen“, antwortete Delamotte. Es missfiel ihm, dass ein einziger Beamter für Malin Gjellands Schutz abgestellt war. Das war ihm am Vortag in ihrer Wohnung schon aufgefallen. Falls Osterfeld bis an diesen Punkt vordringen könnte, müsste er nur eine bewaffnete Person ausschalten und hätte dann freie Bahn. Vielleicht könnte Pesch Espensen dazu bewegen, den einen oder anderen Mitarbeiter von seinen Straßenkontrollen abzuziehen und stattdessen für den Schutz der gefährdetsten Person Bergens einzusetzen. Auf das Votum eines Psychologen schien Espensen wenig Wert zu legen.
„Können Sie mir etwas über die Leute erzählen, die Osterfeld ermordet hat“, bat die Norwegerin und blickte Delamotte mit ihren hellblauen Augen an.
Der Psychologe versuchte, eine Antwort zu geben: „Streng genommen Zufallsopfer. Oh, er hat sie durchaus gezielt ausgesucht, so ist es nicht. Er hielt sie für rücksichtslose oder übermäßig risikobereite Autofahrer.“
„Was hat er denn mit der Fahrweise anderer Leute zu tun gehabt?“, fragte sie überrascht. „Als junger Mann war er selber ein Raser.“
„Irgendwann nach dem Ende Ihrer Beziehung“, erklärte Delamotte, „erschuf er sich eine eigene Gegenrealität. Da er mit seinem Scheitern als Familienvater nicht klar kam, baute er sich eine Welt auf, in der Sie und die Kinder bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Und nach einiger Zeit übernahm diese eigene Welt immer stärker sein Denken und Empfinden. Wobei ich durchaus glaube, dass auch diese Gegenrealität ein Zufallsprodukt war, entstanden aus einer Laune heraus.“
„Und dann hat er Leute getötet – um was zu tun?“, fragte Malin. „Um sich zu rächen? Um uns zu rächen?“ Ihre Augen weiteten sich bei dem Gedanken.
Delamotte versuchte sie zu beruhigen: „Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Frau Gjelland. Ich denke, der Anlass war Osterfeld relativ egal – er wollte töten. Und ausgelöst wurde sein Handeln dann durch seine Suspendierung vom Dienst, nach einer Auseinandersetzung in der Schule.“
Marino stand auf und fragte: „Gibt es hier irgendwo ein WC?“
Malin nickte: „Ja, das schon, aber da müssen Sie einmal draußen um das Gebäude herumgehen und auf der gegenüberliegenden Seite wieder reinkommen. Der direkte Weg ist momentan versperrt – Sie sehen ja, hier wird fast überall gebaut.“ Claudio bedankte sich und verließ den Raum.
„Die ganze Geschichte scheint Sie auch persönlich sehr zu berühren“, sagte Malin zu Delamotte.
„Sieht man mir das so sehr an?“, fragte er lächelnd.
Sie erwiderte sein Lächeln: „Sie sind ein Mann, mein Lieber. Eine Frau kann Männern sehr vieles ansehen. Leider nicht alles, wie man an meiner langjährigen Beziehung mit Osterfeld sehen kann.“ Ein Geräusch unterbrach ihren Redefluss, der norwegische Polizist nahm einen Anruf auf seinem Handy entgegen.
„Nun“, fuhr Malin fort, „sind Sie bereit, mir zu erzählen, warum dieser Fall für Sie so eine persönliche Bedeutung hat?“
Delamotte zögerte nicht – die Frau war sehr lebenserfahren, und er vertraute ihr. „Es ist Ihr Verhältnis mit Henri Franzen, das bei mir alte Erinnerungen weckt“, erzählte er. Sie blickte ihn erstaunt an. „Es war nur wenige Jahre später. Ich war ungefähr in dem Alter, in dem Henri zur Zeit Ihrer Beziehung mit ihm war. Sogar ein bisschen jünger, es war mein letztes Jahr in der Schule. Ich hatte eine Affäre mit einer verheirateten Frau.“ Er hielt kurz inne, sprach dann weiter: „Für sie war es wahrscheinlich nur eine Affäre – für mich war es lange Zeit mehr als das.“
Dass das Telefonat des norwegischen Beamten etwas hektischer klang, bemerkte Delamotte nicht. Er war auf Malins Gesicht konzentriert, das fast ein wenig schuldbewusst aussah. „Wie ist die Sache ausgegangen?“, wollte sie wissen.
„Sie blieb bei ihrem Mann“, sagte er. „Ihr Mann hatte einen Beruf, in dem er sich eine Scheidung nicht leisten konnte. Und sie auch nicht.“ Er atmete einmal durch: „Zumindest rede ich mir das seither gerne ein.“
Ein ungewöhnliches Geräusch erklang, gefolgt von einem dumpfen, nicht übermäßig lauten Knall. Delamotte drehte sich um. Der Norweger war vom Stuhl gerutscht, lag zuckend am Boden und hielt sich den Bauch.
„Keine Sorge, er wird es überleben, wenn alles weitere schnell vonstattengeht“, sagte der Mann in Bauarbeiterkluft, der auf sie zukam, eine Pistole mit Schalldämpfer in der rechten Hand. Trotz des Helms erkannte Delamotte Osterfeld sofort.
„Es ist nur ein Bauchschuss“, sagte der Uhu, „tut zwar höllisch weh und macht den Mann kampfunfähig, tötet ihn aber nicht, es sei denn durch Blutverlust, wenn wir hier Zeit verschwenden. Ich habe mir das extra angelesen, wissen Sie. Schließlich tut der arme Mann ja nur seine Pflicht. Ich hege keinen Groll gegen ihn.“ Er schenkte Delamotte ein Lächeln, das direkt aus der Hölle zu kommen schien. „Genauso wenig wie gegen Sie, Herr Delamotte. Ja, da staunen Sie, was? Ich kenne Sie offenbar besser als Sie mich. Wobei ich Ihnen schon meinen Respekt aussprechen muss. Ich hätte die Marßener Polizei nicht so früh in Bergen erwartet. Das war wohl Ihre Idee, hmm?“
Delamotte stellte sich schützend vor Malin, die blass und fassungslos das Geschehen verfolgte. „Ach, Herr Delamotte, was soll denn diese alberne Heldennummer“, tadelte Osterfeld, „die ganze Zeit über habt Ihr mich nicht stoppen können. Habt gerätselt, wer denn dieser mysteriöse Uhu sein könnte. Der Name gefällt mir übrigens sehr gut. Und ja, dieser Kerl von der Stasi wäre schon ein perfekter Uhu gewesen, was? Obwohl ich einen Verdacht hege – Sie haben diesen Brückner nicht für den Uhu gehalten, stimmt’s?“ Unwillkürlich musste Delamotte nicken. „Sehen Sie“, grinste Osterfeld, „Sie sind einer der wenigen intelligenten Burschen in Ihrem ganzen Verein. Umso mehr täte es mir jetzt in der Seele weh, Ihnen etwas antun zu müssen. Mit dieser ganzen Sache haben Sie doch nichts zu tun. Es geht hier nur um Rachsucht.“
„Wofür zum Teufel wollen Sie sich denn rächen, Mann?“, fragte Delamotte, dessen Nerven zum Zerreißen gespannt waren.
Osterfeld blickte völlig überrascht: „Wer redet denn von mir?“ Er wies an Delamotte vorbei auf Malin und rief aus: „Sie ist es doch gewesen, die mit ihrer verdammten Rachsucht diese ganze Tragödie erst in Gang gesetzt hat. Mit doppelter Rachsucht sogar. Sie unterstellte mir Fehlverhalten als Partner und rächte sich, indem sie sich mit diesem jungen Bengel einließ. Aber das reichte ihr nicht. Auch als Familienvater warf sie mir Fehler vor. Mir! Ausgerechnet mir! Und um sich zu rächen, entzog sie mir meine Söhne. Das ist Rachsucht! Und jetzt gehen Sie mir bitte aus dem Weg, Herr Delamotte. Ich erledige Malin, danach erledige ich mich selbst. Sie haben mein Wort.“
Ein Gedanke durchfuhr Delamotte. Irgendwann würden Pesch, Marino oder beide zurückkommen. Er musste Osterfeld so lange ablenken, musste ihn am reden halten. Und ihn aus der Ruhe bringen, seine Aufmerksamkeit so sehr in Beschlag nehmen, dass er nichts anderes mehr bemerkte. „Sie reden unendlich wirres Zeug, Osterfeld“, sagte er.
Der Mann mit der Pistole wirkte ehrlich enttäuscht: „Nanu. Wollten Sie mich nicht Herr Osterfeld nennen?“
Delamotte lachte schallend: „Was, wie dieser Rettich? Da sind Sie bei mir aber sowas von falsch verbunden! Die Anrede Herr muss man sich verdienen. Osterfeld.“
„Was? Habe ich mir das etwa nicht verdient?“, fragte Osterfeld mit fast schon kokettem Tonfall.
„Das haben Sie mitnichten“, antwortete Delamotte, „dafür haben Sie viel zu viele Fehler gemacht.“
Osterfeld widersprach wie ein ungehöriges kleines Kind: „Habe ich nicht. Gut, zweimal habe ich die falschen Leute erwischt, aber…“
„Sie haben immer die falschen Leute erwischt, Osterfeld“, unterbrach ihn der Psychologe barsch, „Bussmann hatte volles Verständnis für Sie, sogar nachdem Sie auf diesen Jungen losgegangen sind, bloß weil er einen flotten Spruch über Untreue losgelassen hatte.“
„Woher wissen Sie das?“, rief Osterfeld zitternd.
Volltreffer, dachte Delamotte und fuhr fort: „Auch der Anwalt und sein Mandant waren bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen“, sagte er, „Ihre Suspendierung ging allein auf diese Frau aus dem Kultusministerium zurück.“
„Sie lügen“, flüsterte Osterfeld, „Sie lügen.“
Delamotte lächelte spöttisch: „Sie wissen, dass ich nicht lüge, Osterfeld. Eigentlich wissen Sie alles. Sie wollen es nur nicht wahrhaben. Sie wissen, dass Sie nach der Suspendierung neun völlig unbeteiligte Menschen ermordet haben – und all das nur, weil Sie sich ihrem Versagen nicht stellen wollten.“
„Versagen?“ Osterfelds Stimme klang tonlos.
„Ja, natürlich Versagen, was denn sonst“, sagte Delamotte. Er wusste, dass er gerade auf einer Rasierklinge tanzte, aber er konnte jetzt nicht einfach aufhören. „Sie haben als Partner versagt. Sie haben als Vater versagt. Sie haben als Lehrer versagt. Herrje, Sie haben sogar als Serienmörder versagt. Das nenne ich mal ein Versagen auf der ganzen Linie, Osterfeld.“
„Nennen… Sie… mich… nie… wieder… Versager“, sagte Osterfeld, seine Augen waren weit aufgerissen, die Hände zitterten und die Pistole schwankte hin und her.
„Warum denn das nicht?“, fragte Delamotte. „Hat Ihr Vater Sie etwa so genannt? Oder war das Ihre Mutter? War es das? Du bist ein Versager, Leo?“
„SIE SOLLEN MICH NICHT VERSAGER NENNEN“, brüllte Osterfeld. Es knallte einmal. Delamotte schloss die Augen. Es knallte ein zweites Mal. Delamotte spürte nichts. Er öffnete die Augen, wunderte sich warum er noch stand. Er drehte sich um, Malin stand ebenfalls. Sie zitterte wie Espenlaub, aber sie stand.
Wer nicht mehr stand, zumindest nicht aufrecht, war Osterfeld. In seinem Gesicht stand völlige Überraschung. Ungläubigkeit. Die Pistole fiel zu Boden, dann fiel Osterfeld. Als sein Kopf aufschlug, löste sich der Bauarbeiterhelm und rutschte ein Stück weit davon. In der Tür stand Claudio Marino, blass und mit zitternden Knien, seine Dienstwaffe in beiden Händen. „Auch ich nenne dich einen Versager, du Arschloch“, knurrte er.