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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 29
XVI.

Pesch erwartete ihn bereits. Delamotte hatte den Hauptkommissar noch am Vorabend um ein Gespräch über Osterfeld gebeten. Sie saßen sich gegenüber, der Psychologe hatte seine Gedanken in Stichworten zu Papier gebracht und ausgedruckt.
„Wo steckt er jetzt, was hat er vor?“, wollte Pesch wissen.
Delamotte hob die Hand und äußerte seinen Einwand: „Lass uns den Faden vom anderen Ende her aufwickeln: wo kommt er her, und was hat er bisher gemacht?“ Pesch nickte, während Delamotte fortfuhr: „Da gibt es nämlich einige bemerkenswerte Dinge, die Fragen aufwerfen.“
„Gut, dann schieß los“, sagte Pesch.
„Was wir mit Sicherheit wissen“, erläuterte Delamotte, „ist, dass Osterfeld 1990 nach Marßen gekommen ist. Das geht zum Beispiel aus seiner Personalakte klar hervor.“
„Das stimmt“, bestätigte Pesch, „das passt auch zur Rückmeldung vom Einwohnermeldeamt. Mitte 1990, und ab da immer die gleiche Adresse.“
Der Autounfall, bei dem seine Partnerin und seine Kinder ums Leben gekommen waren, musste schon vorher passiert sein. „Aber hier sind wir schon an einem Punkt, den wir nicht wissen“, betonte Delamotte, „wir wissen nicht wann, wir wissen nicht wo, wir wissen nicht wie. Eigentlich wissen wir gar nichts. Und interessant ist: niemand hat diese Vorgeschichte Osterfelds jemals hinterfragt. Nicht seine Vorgesetzten, nicht einmal Rechtsanwalt Strack. Was wir haben ist das, was Osterfeld erzählt hat. Und das hat sich dann verselbständigt.“ Pesch folgte den Einlassungen des Psychologen mit offenkundigem Interesse. „Offiziell verheiratet war Osterfeld schon mal nicht“, sagte Delamotte.
„Ja, so steht das auch in den Unterlagen des Einwohnermeldeamts“, ergänzte sein Gegenüber, „er war immer ledig.“
„Was ich in dem ganzen Zusammenhang auch spannend finde“, fuhr Delamotte fort, „seine Schule befindet sich im Stadtbezirk Berschweiler, im äußersten Westen der Stadt. Doch er wohnt in Kaiserbruch.“
Pesch verstand den Einwurf: „Weit im Osten.“
„Einen weiteren Arbeitsweg kann man sich in dieser Stadt kaum vorstellen“, ergänzte Delamotte.
„Nun, vielleicht hat er im Westen keine passende Wohnung gefunden“, vermutete Pesch.
Sein Gesprächspartner widersprach: „Frühe 90er Jahre, das war doch der erste große Boom von TeleCity. Und damit einher ging ein Bauboom in den westlichen Bezirken. Und selbst wenn Osterfeld nicht direkt eine Wohnung nach seinem Geschmack gefunden hat: warum ist er vierzehn Jahre lang immer diesen Weg zur Arbeit gefahren? Irgendwann hätte er doch mal umziehen können.“ Pesch zuckte mit den Schultern.
Um sich nicht länger mit dieser Nebensache aufzuhalten, wechselte Delamotte zum Verhalten des Lehrers am Albrecht-Dürer-Gymnasium. „Die ersten beiden Jahre an der Schule verhält Osterfeld sich unauffällig. Dann, ab 1992, häufen sich bei ihm cholerische Ausfälle – fast immer gegen Schüler der älteren Jahrgänge, und soweit ich das verstehe ausschließlich gegen Jungs.“ Er beugte sich vor. „Angesichts der späteren Entwicklung hätte ich eigentlich erwartet, dass sich dieses Verhalten im Laufe der Zeit verschlimmert, bis es dann in diesem Übergriff im letzten Jahr eskaliert. Aber das ist gar nicht der Fall, fast im Gegenteil.“
Pesch blickte überrascht. „Ja, der Höhepunkt dieser Vorfälle ist Mitte der 90er“, erklärte Delamotte, „dann geht es zurück, und ab 1998 finden sich in seiner Personalakte kaum noch Beschwerden über sein Verhalten.“ Er schaute Pesch fest an. „Und da ist mir eine Sache aufgefallen, vielleicht ist es ein Zufall, aber…“
„Sprich es ruhig aus“, ermunterte Pesch ihn.
„Kurz davor, im Herbst 1997“, berichtete Delamotte, „da war doch diese Sache mit Sötenich, von der seine Exfrau erzählt hat. Dieser Fremde, der ihnen mehrmals über den Weg gelaufen ist.“
„Falls das überhaupt Osterfeld war“, schränkte der Hauptkommissar ein.
„Richtig“, sagte Delamotte, „deshalb habe ich Manni gestern gebeten, Manuela Sötenich mal das Foto von Osterfeld zu zeigen.“
Er atmete einmal tief durch, bevor er zum nächsten Punkt kam. „1992 ist aber auch in Bezug auf einen anderen Punkt interessant: seine Karteikarten.“
„Ist nicht dein Ernst“, rief Pesch verblüfft aus.
„Doch“, bekräftigte Delamotte, „die ältesten Karten aus diesem Holzkasten beziehen sich auf ‚Tathergänge‘, wie Osterfeld das nannte, aus dem Jahr 1992. Dabei gibt es aber zwei Auffälligkeiten. Zum einen finden wir zwischen 1992 und 1997 relativ wenige Karten, erst ab da werden es deutlich mehr. Und bei den älteren Karten scheint die wichtigste, zuerst genannte Information das Kennzeichen zu sein. Firmenaufschriften erfasst er da nur nebenbei. Ab Mitte 1997 – auch wieder so eine Überschneidung – fokussiert er sich dann ganz auf die Aufschriften, die auf den Fahrzeugen stehen. Das Kennzeichen ist nun die Nebensache, er hat das komplett gedreht.“
„Was leitest du daraus ab?“, fragte Pesch.
„Nun, ich fasse einfach mal zusammen“, antwortete Delamotte. „Etwa zwei Jahre nach seinem Umzug nach Marßen beginnt Osterfeld damit, Daten vermeintlicher Verkehrsrüpel zu sammeln. Ungefähr gleichzeitig beginnt sein auffälliges Verhalten im Beruf. Ob er damals schon konkret überlegt hat, Menschen zu töten, wissen wir nicht. Aber es könnte schon an ihm gekratzt haben.“
„Und das könnte dann auch seine Ausfälle in der Schule erklären“, warf Pesch ein.
„Guter Punkt“, lobte Delamotte. „Und dann, nach etwa fünf Jahren, ändert sich was. Meine Vermutung ist: es wurde ihm klar, dass die meisten gesammelten Daten für ihn wertlos waren. Ein Kennzeichen brachte ihm gar nichts, an die Daten der Halter kam er als Lehrer nicht ran. Aber da gab es ja Verkehrsteilnehmer, die ihm ihre Daten bereitwillig mitteilten.“
Pesch blickte auf: „Diese ganzen Geschäftsleute und Freiberufler mit ihren Firmenaufdrucken.“
„Die meisten seiner alten Karteikarten wird Osterfeld entsorgt haben“, erklärte Delamotte, „er behielt nur die, auf denen er durch Zufall solche Aufschriften erfasst hatte.“
Pesch goss sich einen Kaffee aus seiner Thermoskanne ein. „Nun beschaffte er sich also Daten von Leuten, die er für Verkehrssünder hielt“, sagte er, „und die er – was auch immer – bestrafen wollte oder sowas.“
Delamotte nickte: „Und da kommt nun der Schützenklub ins Spiel.“
„Die haben uns die angeforderten Daten inzwischen komplett rausgerückt“, berichtete Pesch, „und ja, das passt durchaus. Osterfeld ist Mitte 1996 Mitglied geworden.“
„Und er hat eine Waffenbesitzkarte, und besitzt ganz legal zwei Pistolen“, ergänzte Delamotte, „aber was wir natürlich nicht wissen: wo und wann hat er sich die Mordwaffe beschafft?“ Den Psychologen streifte der Gedanke, ob sie diese Frage jemals beantworten würden.
„Und so sammelt er also weiterhin Daten und bildet sich peu a peu zu einem exzellenten Pistolenschützen weiter“, sagte Delamotte, „aber ohne irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Bis 2003 ist er allenfalls ein manchmal auffälliger Sonderling – wobei die sonderlichsten Dinge an ihm gar nicht auffallen, von denen bekommt keiner was mit. Und dann, wie aus heiterem Himmel, diese körperliche Auseinandersetzung mit einem Schüler.“
„Mit diesem Felix Breuer“, warf Pesch ein.
„Ich habe Manni gebeten, das Thema des Unterrichts an diesem Tag herauszufinden“, erzählte der Psychologe, „so ein Streit bricht ja nicht ohne Grund aus.“ Pesch nickte anerkennend. „Osterfeld wird in der Folge suspendiert und muss sich einer Therapie unterziehen“, sagte Delamotte, „und auch da gibt es sehr interessante Aspekte.“
„Sein erster Therapeut, seit Mitte Mai letzten Jahres, war Reinhard Schultes, ein früherer Kollege von mir“, erklärte er.
„Die Therapie hat Osterfeld doch schnell abgebrochen, oder“, warf Pesch ein.
Delamotte nickte: „Das stimmt, aber Reinhard Schultes ist ein sehr erfahrener Psychotherapeut. Ein Vorgespräch und zwei Sitzungen waren genug, damit er einige Erkenntnisse über Osterfeld gewinnen konnte. Bereits nach dem zweiten Therapiegespräch notierte er seinen Verdacht, der Patient versuche etwas zu verbergen.“
„Na ja, im Nachgang ist das ja auch klar, dass Osterfeld was zu verbergen hatte“, sagte Pesch mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Streng genommen eigentlich nicht“, korrigierte Delamotte, „sicher, er hat Daten gesammelt und schießen gelernt, aber justiziabel ist das alles nicht. Höchstens der unerlaubte Waffenbesitz, falls er damals die spätere Mordwaffe schon hatte. Klar, das mit dem Karteikasten würde er keinem Therapeuten erzählen – aber ein Mörder war Leo Osterfeld zu dem Zeitpunkt noch nicht. Von daher würde ich mal fragen: was hatte er damals denn zu verbergen?“ Er sah Pesch an, dass der Hauptkommissar dem Gedanken folgen konnte.
„Auffällig ist auf jeden Fall, dass Osterfeld partout nicht über den Unfall reden wollte, der ihm doch die Personen genommen hatte, die ihm wichtig gewesen waren. Aber kein Wort. Keine Chance, etwas aus ihm rauszubekommen.“ Er schloss die Schilderungen mit dem Abbruch der ersten Therapie durch Osterfeld ab. „Am 24. Juli – genau vier Tage bevor er Sötenich ermordete.“
Delamotte musste sich etwas sammeln, bevor er zur zweiten Therapie des Uhu kam. „Um eine weitere Therapie kam Osterfeld nicht herum, sein Dienstherr setzte die Daumenschrauben an. Aber Osterfeld ließ sich Zeit – erst im Januar begann er die Therapie bei Simon Rettich.“ Er atmete durch. „Ich kenne den Kollegen nicht, kann nicht sagen, wie erfahren er ist. Von dem Telefonat mit ihm blieb bei mir aber der Eindruck: Erfahrung mit wirklich schweren Fällen hat er nicht. Und ich glaube, genau deshalb hat Osterfeld ihn auch gewählt.“
„Was hat dieser zweite Therapeut denn erzählt?“, fragte Pesch.
„Das, was zu erwarten ist“, erwiderte Delamotte, „Osterfeld war sehr formell, sehr verschlossen, sagte Termine oftmals kurzfristig ab. Bis er dann gesprächiger wurde, irgendwann im Mai. Also ungefähr um die Zeit, als er Anita Becker tötete.“
Pesch hakte nach: „Und inwieweit wurde er gesprächiger?“ –
„Unter anderem erzählte er von dem Tod der Frau und der Kinder“, berichtete Delamotte, „und er deutete Schuldgefühle deswegen an.“
„Schuldgefühle? Warum das denn?“, brach es aus Pesch hervor.
Diesmal war es an Delamotte, eine wegwerfende Handbewegung zu machen: „Vergiss das einfach. Der Uhu hat mit dem Therapeuten gespielt, hat ihn manipuliert. Bei Schultes hat er sich das nicht getraut – bei diesem Rettich dagegen schon. Und Osterfeld kann Leute manipulieren, wenn er will.“
Er schloss diesen Teil der Geschichte ab: „Am 21. Juli hatte er seine letzte Sitzung bei Rettich – eine Woche vor dem Mord an Monika Zerres. Am 23. August blieb er dann unentschuldigt einem Termin fern – am nächsten Tag tötete er Rechtsanwalt Strack.“
„Und seitdem“, kam Delamotte zum Ende seiner Überlegungen, „ist der Uhu ausgeflogen. Verständlich, denke ich. Dass wir spätestens durch die Kombination von Strack und Bussmann auf seinen Namen kommen würden, muss Osterfeld klar gewesen sein. Aber da sind noch zwei Punkte.“
Peschs Aufmerksamkeit hatte noch nicht nachgelassen. Delamotte erwähnte den verschwundenen Computer. „Warum hat er den entsorgt?“, fragte er. „Was ist auf dem Rechner drauf? Es muss irgendwas sein, von dem er nicht will, dass wir es finden.“
„Wir haben einige Kollegen der Schutzpolizei losgeschickt, bei Annahmestellen für Elektroschrott anzufragen“, erklärte Pesch, „ob die das Gerät finden ist natürlich die Frage. Und was ist der zweite Punkt? Das Foto mit der Frau und den Kindern?“
„Genau das“, bestätigte Delamotte. „Die Berichte über die Verwechslung von Rosen und Zerres rütteln ihn auf. Er jagt keine Verkehrssünder mehr, sondern tötet den Anwalt und den Chef, die in seinen Augen für seine aktuelle Misere verantwortlich sind. Und gleichzeitig schmeißt er das Bild seiner Frau und seiner Kinder in den Hausmüll. Das erschließt sich mir nicht.“
Pesch stimmte ihm zu: „Mir auch nicht, das kannst du mir glauben.“

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Lüttges ins Zimmer platzte, hinter sich Marino und Henseler. „Die Kollegen aus Minden haben sich gemeldet“, sagte er. Ein bisschen atemlos, hatte Delamotte den Eindruck.
„Geht es um den Unfall?“, fragte er.
„Nein“, sagte Lüttges, „es geht um einen Mordversuch. Gestern um die Mittagszeit. Und einen Waffenfund. Und bei allem geht es um den Uhu.“ Pesch und Delamotte sprangen beide auf.
„So wie es aussieht, hat Osterfeld gestern in Minden versucht, einen Künstler zu ermorden“, führte Manni Lüttges aus, „Henri Franzen, 38 Jahre alt, Maler und Bildhauer. Geschieden. Das ist wohl im Atelier dieses Mannes passiert, wie auch immer Osterfeld da reingekommen ist.“
„Woher wissen die Kollegen denn, dass es Osterfeld war?“, fragte Pesch.
„Das wissen sie nicht, aber es liegt auf der Hand“, erklärte der großgewachsene Kommissar, „es gab nämlich ein Handgemenge, ein Besucher von Franzen griff dem Täter beim Schuss in den Arm. Deshalb reden wir ja auch nur von einem Mordversuch – Franzen ist mit einem Schuss in die Schulter davongekommen und liegt im Krankenhaus. Bei diesem Kampf hat der Täter seine Waffe verloren – es ist eine Zastava, und mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es die Mordwaffe bei den Uhu-Fällen.“
„Hat das Opfer den Täter vielleicht erkannt?“, wollte Delamotte wissen.
„Laut den Mindener Kollegen nicht“, antwortete Lüttges, „aber die Beschreibung, die Franzen und sein Besucher gemacht haben, passt ganz gut zu Osterfeld. Etwas über Fünfzig, ein Meter achtzig groß, schlank.“
Pesch überlegte eine Weile, bevor er sich entschied: „OK. Manni, du hältst hier mit Niclas und Jutta die Stellung. Ihr wollt ja eh noch Sötenichs Ex befragen, und so ein paar andere Sachen klären.“ Er blickte zu Marino und Delamotte: „Wir drei fahren sofort nach Minden. Ich will dort für klare Verhältnisse sorgen, bevor das verdammte LKA wieder auf die Idee kommt, sich einzumischen. Und wir nehmen noch diesen…“
Er wandte sich direkt an Delamotte: „Wie heißt noch mal dein Kumpel von der Ballistik?“
„Alvarez“, erwiderte der Psychologe.
„Den nehmen wir auch mit“, sagte Pesch, „dann kann er sich diese Pistole direkt mal anschauen.“

Kurz hinter Hamm durchbrach Pesch die Stille einer bis zu dem Punkt weitgehend schweigsam verbrachten Fahrt. Nur Marino hatte ab und an versucht, vom Beifahrersitz aus ein Gespräch zu initiieren, aber über ein paar kurze Sätze war das nie hinausgekommen.
Nun aber drehte sich Pesch, den Verkehr vor ihm ein wenig zu sehr ignorierend, zu Delamotte zurück, der auf der Rückbank rechts hinter Marino saß. „Also, was das Alter angeht, passt das mit diesem Franzen ganz gut, finde ich.“
Delamotte konnte diesem plötzlich wie ein Meteor einschlagenden Gedanken nicht recht folgen. „Was meinst du damit?“, fragte er.
Pesch blickte wieder auf die Fahrbahn, sprach aber deutlich lauter, um auch auf der Rückbank verstanden zu werden. „Dieser Franzen ist 38. Osterfeld ist vor vierzehn Jahren nach Marßen gekommen“, führte er aus. „Der tödliche Unfall seiner Familie muss also, sagen wir mal, sechzehn bis neunzehn Jahre zurückliegen. Da war Franzen neunzehn, Anfang zwanzig. Das ist so ziemlich das Alter, in dem junge Leute – junge Männer ganz besonders – Gefahren nicht richtig einschätzen können. Und in dem sie gerade erst kurz zuvor den Führerschein gemacht haben.“
Claudio schaltete sich ein: „Du denkst, dieser Franzen könnte derjenige sein…“
„Der damals den Unfall verursacht hat, ja“, sagte Pesch.
„Aber Osterfeld hat doch, soweit ich das mitbekommen habe, im Kollegenkreis immer behauptet, der Schuldige an dem Unfall sei nie erwischt worden“, äußerte Marino.
„Vielleicht meinte er damit einfach, der Bursche sei nie bestraft worden“, antwortete Pesch, „könnte ja sein, dass damals die Beweislage nicht eindeutig war. Die örtlichen Kollegen müssten das eigentlich schnell rausbekommen.“
Claudio drehte sich nach hinten: „Was denkst du, Alter?“
Delamotte hätte sich gerne noch ein wenig zurückgehalten, aber nun war er direkt um seine Meinung gebeten worden und kam nicht umhin, sie zu äußern. „Ich wäre erst mal schon zufrieden“, sagte er vorsichtig, „wenn wir mit Sicherheit wüssten, ob es diesen Unfall überhaupt gegeben hat.“
Pesch war zumindest überrascht: „Warum sollte es ihn nicht gegeben haben?“
„Die Frage kann man auch umdrehen, Jakob“, erwiderte der Psychologe, „warum sollte es ihn gegeben haben? Alles, was wir darüber haben, ist Osterfelds eigene Version. Die Aussage eines Mannes, der vermutlich elf Menschen ermordet hat.“
Es dauerte eine Weile, bis die anderen die Aussage verdaut hatten. Einen Versuch unternahm Pesch noch: „Aber warum sollte er so eine Räuberpistole erfinden?“
Delamotte verzichtete auf den Versuch einer tiefschürfenden Begründung. „Gelegenheit macht Diebe, den Spruch kennen wir doch alle“, sagte er. Zumindest Alvarez nickte zustimmend. „Nun, vielleicht macht sie auch Lügner.“

Offen gesagt hatte sich Delamotte Kommissar Brocker anders vorgestellt. Als Pesch den Namen erwähnt hatte, war im Kopf des Psychologen ein Bild entstanden, Hauptkommissar Hans-Jakob Pesch nicht unähnlich. Der Kommissar Brocker auf diesem Bild war ein großer, kräftiger Mann mit rotem Gesicht, den man sich genauso gut auf einem Traktor oder im Stall eines Milchviehbetriebs vorstellen konnte.
Der Mann, der die Besucher aus Marßen am Mindener Krankenhaus in Empfang nahm, hatte mit Delamottes Erwartung lediglich die Körpergröße gemein. Der reale Kommissar Brocker war ein ausgesprochen schlanker Mann mit schmalen, scharf geschnittenen Gesichtszügen, der Mitte oder Ende Vierzig sein mochte. Wäre Brocker ein Schauspieler, dachte der Psychologe, würde man ihm in Historienfilmen jederzeit die Rolle des asketischen Einsiedlers anbieten. Als der örtliche Beamte ihn bei der Begrüßung aus beeindruckend tiefblauen Augen anblickte, korrigierte sich Delamotte – auch als glaubensstrengen Abt eines Klosters könnte man Brocker ohne weiteres besetzen.
„Und dieser Franzen ist vernehmungsfähig?“, hörte er Pesch fragen, als Brocker drei der Marßener Gäste vom Parkplatz zum Eingang des Krankenhauses führte. Hugo Alvarez war mit einem Kollegen Brockers zur örtlichen Polizeistation unterwegs, um sich die am Tatort gefundene Pistole anzuschauen.
„Ja, Henri Franzen hat Glück gehabt“, antwortete der einheimische Kommissar, „er hat zwar einiges an Blut verloren, aber sonst hat die Kugel keine größeren Schäden verursacht.“
„Und den Täter erkannt hat er nicht?“, bohrte Pesch nach.
„Nein, weder er noch sein Gast kannten den Schützen“, sagte Brocker.
Auf dem Gang des Krankenhauses ergänzte er: „Was Ihre Anfrage nach diesem Autounfall angeht – hier bei uns in diesem Landkreis hat es derartiges nicht gegeben. Wir haben die Daten der kompletten achtziger Jahre durchsucht – kein einziger Unfall, bei dem eine Mutter und zwei Kinder ums Leben gekommen sind. Deshalb haben wir die Anfrage nun an die Kollegen in den Nachbarkreisen weitergegeben. Wir suchen jetzt also in der ganzen Region, auch jenseits der Landesgrenze.“ Delamotte fühlte sich bestätigt, was die Diskussion auf der Hinfahrt anging.

Henri Franzen lag in einem Einzelzimmer, vor dessen Tür ein uniformierter Beamter Wache hielt. Man sah dem Künstler an, dass ihn das Erlebte sowohl körperlich als auch seelisch mitgenommen hatte. Doch es war auch nicht zu übersehen, dass Franzen ein ziemlich athletischer Typ war – nicht unbedingt, was sich Delamotte unter einem Künstler vorgestellt hatte. Maler und Bildhauer, erinnerte er sich. Bildhauer – Steinblöcke mit Hammer und Meißel in die gewünschte Form zu bringen, dürfte anstrengender sein als so manches Workout, dachte er sich.
Auf einem Stuhl neben dem Bett saß ein blonder Mann, der in Franzens Alter sein mochte. Brocker stellte die Anwesenden vor: „Um Sie mal miteinander bekannt zu machen, das hier sind die Kollegen Pesch, Marino und Delamotte von der Kripo in Marßen.“
Er verwies auf die beiden Männer: „Dass der Herr im Bett Henri Franzen ist, können Sie sich ja denken. Sein Besucher ist Herr Kraushaar. Er ist dem Schützen gestern in den Arm gefallen; normalerweise fällt er ja eher der Polizei in den Arm.“ Mit einem Zwinkern machte Brocker klar, dass Letzteres nicht ganz ernst gemeint war.
Kraushaar ging dennoch darauf ein: „Ich mache nur meine Arbeit als Rechtsanwalt, Herr Kommissar.“
„Das weiß ich ja“, beschwichtigte Brocker, „und ganz ehrlich, ich weiß es auch zu schätzen. Aber nun sollten wir vielleicht den Marßener Kollegen die Möglichkeit geben, ihre Fragen zu stellen.“
Mit Fragen zum Tathergang hielt sich Pesch nicht auf, er ging zu Recht davon aus, dass die Mindener Kollegen bereits alles minutiös aufgenommen hatten. „Wenn ich es richtig verstanden habe, hat keiner von Ihnen beiden gestern den Täter erkannt“, eröffnete er. Die beiden Männer bestätigten dies. „Sagt Ihnen denn gegebenenfalls der Name Leo Osterfeld etwas?“, kam der Hauptkommissar rasch zur Sache.
Franzen blickte überrascht auf: „Ja, natürlich sagt mir das was. Herr Osterfeld war zwei Jahre lang mein Deutschlehrer. Oder waren es drei Jahre? Es war auf jeden Fall in der Mittelstufe, beim Abitur habe ich nichts mehr mit ihm zu tun gehabt.“
„Auch nicht außerhalb der Schule?“, hakte Pesch nach. Franzen schüttelte den Kopf. „Könnten Sie sich denn irgendeinen Grund vorstellen“, formulierte Pesch, „warum Leo Osterfeld einen Groll gegen Sie hegen sollte?“
„Moment mal“, rief Franzen, „wollen Sie gerade andeuten, Herr Osterfeld hätte gestern auf mich geschossen?“
Kraushaar blickte zusehends kritisch, während Pesch auf seine vorherige Frage zurückkam: „Noch einmal: hätte er denn einen Grund dafür?“
Der Rechtsanwalt versuchte einzugreifen: „Ich verstehe nicht, was Sie mit diesen Fragen bezwecken. Man könnte fast meinen, Henri würde hier nicht als Opfer eines Mordversuchs befragt, sondern als Verdächtiger verhört.“ Delamotte gefiel der Mann; sollte er jemals einen Verteidiger brauchen, könnte er sich Kraushaar durchaus in der Rolle vorstellen.
„Lass mal gut sein, Bert“, sagte Franzen und blickte Pesch an: „Wenn das gestern wirklich Leo Osterfeld war…“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber das wäre doch völlig krank“, brach es aus dem Künstler hervor, „diese Geschichte liegt doch schon über fünfzehn Jahre zurück!“
Pesch hatte Blut geleckt und setzte nach: „Was für eine Geschichte liegt über fünfzehn Jahre zurück?“ Als Franzen nicht direkt antwortete, fuhr er fort: „Sie sind hier nicht der Verdächtige, auch wenn Ihr Freund das eben so verstanden hat. Aber wir müssen wissen, warum Leo Osterfeld auf Sie geschossen hat. Wir müssen es verstehen. Der Mann ist ein elffacher Mörder.“ Franzens Augen weiteten sich. „Wenn Ihr Freund gestern nicht eingegriffen hätte, wären Sie das zwölfte Opfer geworden. Und Osterfeld läuft immer noch frei herum; und auch wenn er gestern eine Pistole verloren hat – er besitzt noch mindestens zwei weitere. Und ich will nicht, dass er das Dutzend voll macht. Der Alptraum läuft eh schon zu lange.“
Franzen nickte: „Es ist so lange her – und doch erinnere ich mich manchmal daran, als sei es erst vor Kurzem gewesen. Sommer 1986, da hat es angefangen. Im Spätsommer oder Herbst 1987 war es dann vorbei.“ Der Künstler bemerkte das Fragezeichen auf Peschs Stirn und erklärte: „Ich hatte damals eine Affäre mit Malin – der Lebensgefährtin von Herrn Osterfeld.“ Er wirkte auf einmal endlos traurig: „Ich würde es viel lieber eine Liebesbeziehung nennen…“
Es dauerte eine Weile, bis Pesch sich einigermaßen gefangen hatte: „Um mal etwas Klarheit zu gewinnen: wir reden hier doch beide von der Frau, mit der Osterfeld zwei Kinder hatte, oder?“ Der Künstler bestätigte die Aussage. „Und die dann mit den beiden Kindern bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist“, ergänzte Pesch.
Franzen wirkte schockiert: „Autounfall? Was für ein Autounfall? Hatte sie etwa in Norwegen einen Autounfall?“
Hans-Jakob Pesch schien nun endgültig verloren zu sein: „Norwegen? Warum denn ausgerechnet in Norwegen?“
Trotz der Dramatik konnte sich Delamotte ein Lächeln nicht verkneifen. Die Mosaiksteinchen fielen allmählich zusammen und ergaben so etwas wie ein Bild.
Henri Franzen setzte an, die ganze Geschichte zu erzählen: „Ich studierte damals an der Kunsthochschule in Braunschweig. Jedes zweite Wochenende kam ich zurück nach Minden, schließlich waren hier meine Familie und meine Freunde. Und in den Sommerferien war ich eh hier. Malin hatte ich bereits im Jahr davor kennengelernt, noch als Abiturient, in einem Café in der Innenstadt. Ich war mit einem Freund unterwegs – der hatte Deutsch als Leistungskurs bei Herrn Osterfeld, daher kannte Malin ihn. Sie hatte einen Kinderwagen dabei, das muss der kleine Henning gewesen sein. Gut ein Jahr später liefen wir uns nochmal über den Weg, bei einer abendlichen Vernissage. Keine Ahnung warum sie da auftauchte, zumindest kann ich mich nicht entsinnen, Osterfeld dort gesehen zu haben. Wir teilten uns eine Flasche Wein, plauderten, mochten uns.“ Er atmete durch: „Also, zumindest ich mochte sie. Wir trafen uns dann öfter, manchmal einfach zum Spazieren. Irgendwann dann auch…“ Er zögerte kurz. „Gott, sie war so eine Schönheit! Und damit meine ich nicht nur ihr Aussehen. Ich habe nie verstanden, warum sie ausgerechnet mit Osterfeld… Nun ja, zu dem Zeitpunkt lief ihre Beziehung mit ihm schon nicht mehr gut, um es vorsichtig auszudrücken. Was mich nie wunderte, einen größeren Kontrast als zwischen diesen beiden Persönlichkeiten konnte man sich kaum denken.“ Franzen trank einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr: „Was sie wohl bei mir gesucht hat? Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht einfach Ablenkung, Lockerheit, gute Laune. Was auch immer.“
Pesch war die Ungeduld anzusehen. „Und was hat das alles nun mit Norwegen zu tun?“, wollte er wissen.
„Malin war Norwegerin, habe ich das noch nicht erwähnt?“, erwiderte Franzen. „Und irgendwann im Spätsommer 1987 – es könnte auch Herbst gewesen sein – hat sie dann wohl die beiden Jungs, Gunnar und Henning, in ihr Auto gepackt und ist zurück in ihre Heimat gefahren. Ich nehme an, damit wollte sie auch sicherstellen, dass Osterfeld keinen Zugang zu den Jungs bekommt. Das hätte er als Vater unehelicher Kinder zwar auch in Deutschland nicht gekriegt, aber… Na ja, vielleicht hatte es auch mit mir zu tun, ich habe mir zumindest lange Zeit entsprechende Vorwürfe gemacht.“ Er stockte kurz. „Wissen Sie, ich habe Malin damals ziemlich bedrängt. Herrje, ich war jung, noch sehr unreif und bis über beide Ohren verliebt. Habe ihr gesagt, sie sollte Osterfeld verlassen und mit mir ein neues Leben beginnen. Hört sich richtig unreif an, nicht wahr? Auf jeden Fall, einige Monate später bekam ich dann einen Abschiedsbrief von ihr. Ohne Absenderadresse. Abgestempelt irgendwo in Norwegen.“
„Haben Sie diesen Brief eventuell aufbewahrt?“, fragte Pesch. Delamotte schien es immer stärker, als ob der Hauptkommissar irgendetwas beitragen wollte, aber nicht so richtig wusste, was eigentlich.
Der Künstler reagierte reichlich gelassen: „Ja, das habe ich in der Tat.“ Er sprach Kraushaar an: „Bert, könntest du bitte mal in meine Wohnung fahren und den Brief holen? Er liegt in meinem Schreibtisch – in der Schublade ganz unten. Du kannst ihn nicht übersehen. Etwas anderes liegt da nicht.“ Kraushaar stand auf und nahm von Franzen den Wohnungsschlüssel entgegen.
Pesch machte Marino ein Zeichen, mitzugehen. Delamotte verstand ihn immer weniger. Offenbar galt das auch für Claudio, er blickte seinen Kumpel an und verdrehte die Augen.
Als die beiden Männer das Zimmer verlassen hatten, mischte sich Delamotte erstmalig in das Gespräch ein. „Wie heißt Malin eigentlich mit Familiennamen?“, fragte er Franzen.
Der Künstler gab rasch die Antwort: „Gjelland.“ Er buchstabierte den Namen, zum Glück war er leicht zu merken.
Der Psychologe stand auf und öffnete die Zimmertür. „Ich brauche nicht lange, hoffe ich“, sagte er.
„Aber was ist denn jetzt eigentlich mit diesem Autounfall, von dem Sie gesprochen haben?“, hörte er Franzen fragen.
Delamotte nahm Pesch die Antwort ab: „Den hat es wahrscheinlich nie gegeben.“