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Der Ring - Fortsetzungsroman, Teil 20
Recht früh am Morgen betrat Delamotte wieder das Gebäude des Junggesellenvereins Paulushof. Es ging nicht mehr ganz so hektisch zu wie am Vortag. Pesch saß mit Marino an einem der Tische und frühstückte.
Der Hauptkommissar winkte Delamotte zu sich. „Der Bursche ist wie vom Erdboden verschluckt“, sagte er, „aber wir wissen jetzt, wo er die letzten paar Tage verbracht hat.“ Brückner hatte vor knapp einer Woche eine Ferienwohnung in Ernbach bezogen, unter dem Namen Mario Wilhelms. „Gebucht für zwei Wochen“, erklärte Pesch, „es ist also nicht sein dauerhafter Unterschlupf. Die Ferienanlage liegt ruhig, ganz am Rande des Ortes – Apartmenthaus Sonnenberg heißt der Laden.“ Pesch überlegte eine Weile: „Warum macht er sowas? Wenn er doch eh hier in der Gegend lebt, warum mietet er eine Ferienwohnung an?“
Marino wandte ein: „Jakob, wir wissen nicht, ob er hier lebt. Ja, auf sein Konto hat er meistens von Geldautomaten in und um Marßen zugegriffen. Aber das bedeutet nichts – mit all seinen Identitäten kann er Gott weiß wo seine Hauptwohnung haben.“ Claudio erinnerte an den Umstand, dass Brückner sich seine Post nach Aachen nachschicken ließ. „Vielleicht wohnt er da“, sagte er, „oder doch jenseits der Grenze in Belgien oder Holland.“
Delamotte widersprach zunächst: „In Holland hat er nicht ein einziges Mal Geld abgehoben.“ Dann kam ihm ein anderer Gedanke: „Es sei denn, Brückner ist so intelligent, dass er im Land seines geheim gehaltenen Wohnsitzes weder sein Konto noch seine Kreditkarte nutzt.“
Die Durchsuchung der Ferienwohnung hatte wenig Brauchbares zutage gebracht – außer einem kleinen Karton mit Munition, Kaliber 9 Millimeter Parabellum. „Das gleiche Kaliber wie bei den Morden“, erinnerte sich Delamotte.
„Aber leider nicht die gleiche Waffe, zumindest nicht bei den gestrigen Schüssen auf den Kollegen“, erwiderte Pesch. Hugo Alvarez hatte das Projektil aus der Schutzweste des Beamten im Labor untersucht. Er konnte definitiv ausschließen, dass die Kugel aus der Waffe stammte, mit der die Opfer des Uhu erschossen worden waren.
„Was natürlich noch nichts bedeutet“, betonte Marino, „er kann ja mehrere Waffen haben.“
„Mehrere Identitäten hat er ja auch“, ergänzte Pesch.
Delamotte hatte einen Einwand: „Aber wenn er über mehrere Waffen verfügt – warum nutzt er sie dann nicht? Warum tötet er, vorausgesetzt er wäre der Uhu, alle seine Opfer mit der gleichen Waffe? Einen Sinn sehe ich darin nicht.“ Es war ja nicht zuletzt dieser Punkt gewesen, der den Ermittlern ermöglicht hatte, die verschiedenen Taten miteinander zu verknüpfen: immer die gleiche Waffe.
„Wo zum Teufel steckt der Kerl jetzt?“, fragte Pesch. Die Suchaktion im Wald war jedenfalls erfolglos verlaufen. „Was sagt dir dein Bauchgefühl, Markus?“, wollte der Hauptkommissar von Delamotte wissen. „Wo könnte Brückner jetzt sein?“
Delamotte antwortete mit einer Gegenfrage: „Wer ist Brückner überhaupt, oder besser: was ist er?“ Pesch und Marino sahen etwas ratlos aus, also präzisierte Delamotte seine Überlegung: „Gestern Abend habe ich über diese Frage nachgedacht. Ich ging primär davon aus, dass Brückner der Uhu ist, und ließ alle anderen Betrachtungsweisen außer Acht.“ Die beiden Ermittler blickten ihn nun interessiert an. „Ich hatte das mit der Suchaktion ja mitbekommen“, fuhr der Psychologe fort, „und meine Erwartung war: früher oder später stoßen die Kollegen in diesem Wald auf Brückner. Auf einen ziemlich erschöpften, verwirrten, desorientierten und verzweifelten Brückner. Einen Brückner, der nichts mehr zu verlieren hat.“ Er holte einmal tief Luft: „Mein Gedankengang war gestern Abend nicht: hoffentlich erwischen sie ihn. Er war: hoffentlich erwischen sie ihn lebend.“
„Darauf könnte ich zur Not verzichten“, warf Pesch ein. Marino nickte, sehr zu Delamottes Missvergnügen.
„Könntet ihr das wirklich, ganz im Ernst?“, fragte er ein wenig zu heftig. „Ich für meinen Teil könnte das nicht“, sprach er etwas ruhiger weiter, „denn wir wissen nicht, ob Brückner der Uhu ist. Ein lebendiger Brückner könnte uns das sagen.“
Pesch schien etwas ungeduldig, aber Delamotte ließ sich nicht unterbrechen: „Ich ahne, was du sagen willst, Jakob. Und ja, da gebe ich dir recht, in irgendwelche krummen Sachen ist Brückner verwickelt. Und zwar in richtig krumme Sachen. Kein Mensch schießt auf einen Polizisten, nur weil er ein paar Kleinigkeiten verbergen will.“
Jemand war an den Tisch getreten, Delamotte blickte hoch. Vor ihm stand eine junge Frau in einer Tracht, die zu einem Hausmädchen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert gepasst hätte. Über dem schwarzen Kleidchen trug sie eine weiße Schürze, und auf dem Kopf ein weißes Häubchen. Ihre Beine steckten in Strümpfen oder wohl eher einer Strumpfhose, und die Füße in eleganten, geschlossenen Schuhen mit recht hohen Absätzen. „Möchten Sie etwas trinken?“, fragte sie und wies mit der Hand auf den Getränkewagen neben ihr. Delamotte entschied sich für einen Cappuccino und bedankte sich bei der Frau.
Er trank einen Schluck, zu seiner Überraschung war der Kaffee noch angenehm warm. Den von der Kellnerin aufs charmanteste unterbrochenen Gedankengang aufnehmend, fuhr Delamotte fort: „Um bis hierher zusammenzufassen: lebend wäre Brückner viel mehr wert als tot.“ Er beugte sich vor: „Nun haben wir ihn aber weder in dem einen noch in dem anderen Zustand. Und das bringt uns dann zu der Frage: wer ist er? Was ist er?“
Pesch musste nun etwas loswerden, er hatte für seine Verhältnisse schon lange zugehört: „Na, Supermann ist er jedenfalls nicht.“
„Ganz richtig“, rief Delamotte aus, „er ist weder Supermann noch ein Zauberer. Er hat in diesem verdammten Wald nicht einfach ‚Hokuspokus‘ gesagt und sich in Luft aufgelöst. Und trotzdem haben wir ihn nicht erwischt. Und im Wesentlichen kann das nur zwei verschiedene Gründe gehabt haben.“
„Und die wären?“, fragte Pesch.
„Zum einen: riesiges Glück“, antwortete der Psychologe, „genau da, wo Brückner gerade auftaucht, verspürt einer der Kollegen ein dringendes körperliches Bedürfnis und verschwindet hinter einem Baum. Irgendwas in dieser Art. Ihr wisst so gut wie ich, dass solche Zufälle verdammt selten sind.“
Ein Grinsen erschien auf Marinos Gesicht: „Oder aber…“
Selbst von seinem Kumpel wollte Delamotte sich den Moment nicht aus der Hand nehmen lassen: „Oder aber, Claudio ist auf dem richtigen Weg, oder aber: Brückner hatte einen Helfer.“
Pesch war skeptisch: „Es hat ihn einer da rausgeholt? Ich wüsste nicht, wie. Wir haben alle Fahrzeuge kontrolliert, die irgendwo aus diesem Waldgebiet rauskamen.“
„Er war mal bei der Stasi“, gab Marino zu bedenken.
Delamotte griff den Gedanken auf: „Habt ihr die Fahrzeuge genauso kontrolliert, wie die Stasi das früher an der innerdeutschen Grenze gemacht hat?“
Ein paar Momente lang schwiegen die Männer. Pesch gab sich geschlagen: „Er könnte also überall und nirgends sein.“
Delamotte nickte: „Wenn die Annahme mit dem Helfer zutrifft: ja, auf jeden Fall.“
„Irgendwo da draußen steckt dieser Brückner, gesund und munter“, brummte der Hauptkommissar.
„Das, mein Lieber“, sagte Delamotte und grinste breit, „ist eine völlig andere Frage.“

Zuhause schaltete Delamotte seinen Computer ein, bevor er sich in der Küche einen Kaffee machte. Zurück im Arbeitszimmer fand er rasch eine Email in seinem Posteingang, gesendet von Saskia Jensen. Sie hatte die Geschichte, die sie ihm am Telefon erzählt hatte, noch einmal kurz zusammengefasst, und sogar die aktuelle Adresse des ehemaligen Freundes ihres Mannes rausgesucht. „Falls Sie den Mann als Zeugen befragen wollen“, hatte sie hinzugefügt. Ein Stück weit bewunderte Delamotte die Frau.
An der Mail befanden sich mehrere Dateianhänge. Er öffnete sie nacheinander. Die Bußgelder waren an verschiedenen Orten erhoben worden – keines davon allerdings in Marßen selber. Ein Mitarbeiter der örtlichen Polizei oder Verwaltung hätte also vermutlich keinen Zugriff auf diese Daten bekommen. Delamotte erinnerte sich an den Motorradpolizisten, der Anita Becker belästigt hatte – Mölders, der Name fiel ihm wieder ein. Nein, jemand wie Mölders wäre an die Daten von Jensen wohl kaum gekommen.
Er öffnete das Foto, dass der Mail beigefügt war. Zwei junge Männer, beide lachend, vor einem Transporter. Auf der Seite des Fahrzeugs prangte eine Aufschrift – Kleintransporte Rolf-Rüdiger Jensen, gefolgt von der Ortsangabe, wenn auch ohne Straßenname, und einer Telefonnummer.
Delamotte stutzte – die Aufschrift erinnerte ihn an etwas. Er kramte in seinem Gedächtnis, schließlich fiel es ihm ein. Bertelinckx. The Magic Of Sound. So hatten die Aufdrucke auf dem Wagen des Tontechnikers gelautet. Waren da nicht auch Kontaktdaten gewesen? Er war sich fast sicher. Und noch eine Erinnerung pochte an seine Schädeldecke. Wieder ging es um ein Foto. Fischer, der Versicherungsvertreter. Die Mutter hatte ihm das Bild gezeigt. Angestrengt dachte der Psychologe nach, Schritt für Schritt wurde das Bild klarer. Marssonia Versicherungen – Generalagentur Silvio Fischer. Und Delamotte war sich ziemlich sicher, dass dort auch die Beyeler Adresse gestanden hatte. Er bereitete eine Liste vor, durchforstete die Unterlagen zu den Fällen. Am frühen Nachmittag griff er zum Telefon.
Viele Anrufe später, draußen dämmerte es bereits, war die Liste komplett. Sötenich hatte ein Auto mit Firmenaufschrift gefahren, inklusive Adresse und Telefonnummer, wie ihm Ines Schwandtke bestätigte. Bei Fischer war es genau so, wie er sich erinnert hatte. „Sogar mit Email“, betonte die Mutter des ermordeten Vertreters. Bei Dorn hatte er nicht einmal telefonieren müssen, in der Akte befand sich ein Foto vom Tatort, auf dem das Auto samt Aufschrift gut zu sehen war. Auch van Bentums Büro gab bereitwillig Auskunft, natürlich hatten die Fahrzeuge der Firma eine Aufschrift, zwar ohne Adresse, aber dafür mit Nennung der Homepage. Von der Polizei in Eindhoven erfuhr er, dass auch Oudwaters LKW Werbung für die kleine Ein-Mann-Firma gemacht hatte. Name und Kontaktdaten von Anita Beckers Schönheitssalon hatten die Heckscheibe ihres Autos geziert, in diesem Fall reichte Delamotte wieder ein Tatort-Foto. Und Hanelt hatte, wie ihm die Witwe des Elektrikers bestätigte, bis zur Betriebsaufgabe ebenfalls einen Wagen mit Firmenaufdruck gehabt.
Du brauchst gar keinen Zugriff auf irgendwelche Systeme der Polizei, des Straßenverkehrsamtes oder von wem auch immer. Und dass fast alle deine Opfer Selbständige waren, Geschäftsleute, Freiberufler – das ist dir wahrscheinlich völlig egal. Du hast dir einfach nur diejenigen ausgesucht, an deren Daten du am einfachsten gelangen konntest. Direkt. Ohne große Anstrengung.
War das schon immer so? Ich denke nicht. Die Idee ist dir irgendwann im Laufe der Zeit gekommen, als deine Fantasien immer intensiver wurden und der Wunsch sie umzusetzen immer stärker. Und dann? Hast du gezielt nach solchen Verkehrsteilnehmern Ausschau gehalten? Hast dich vor sie gesetzt, in der linken Spur, und das Tempo verlangsamt? Bis sie aufgeblendet haben, oder links geblinkt, oder dich schließlich rechts überholt haben? So dass du dann einen Grund hattest, sie auf deine Liste zu setzen?
Alle Opfer hatte der Uhu vergleichsweise leicht identifizieren können. Das hieß aber auch: jeder da draußen konnte der Uhu sein. Zumindest jeder, der gestört genug war. Und der hervorragend schießen konnte. Und den ein traumatisches Erlebnis soweit getriggert hatte, dass er schließlich zur Tat geschritten war. Jeder – vielleicht sogar Brückner.
Die neuen Erkenntnisse fasste Delamotte in einer Email zusammen, die er an das ganze Team schickte. Im Kühlschrank, wusste er, lagen eine Maispoulardenbrust und Champignons bereit. Dazu würde ein Weißwein gut passen – ein Chardonnay, ein Viognier, oder ein Grüner Veltliner. Vielleicht auch ein Blanc de Noir. Delamotte lächelte; er fuhr den Computer herunter und begab sich mit Vorfreude in den Keller.

Als Lüttges ihn am nächsten Tag gegen zehn Uhr anrief, dachte Delamotte zuerst, es ginge um seine Email. Doch er merkte schnell, dass dies nicht der Fall war. „Wie schnell kannst du am Präsidium sein?“, fragte der Kommissar. Eine gute halbe Stunde würde das dauern, antwortete er. „OK, ich warte auf dich am Parkplatz“, sagte Lüttges.
Delamotte war überrascht: „Worum geht es denn?“
„Sie haben Brückner gefunden. Genauer gesagt: seine Leiche“, erklärte Manni Lüttges. Dann legte er auf.

Zwei Wanderer hatten die Leiche am frühen Morgen in einer Grillhütte gefunden, wie Lüttges Delamotte im Auto mitteilte. „Sabine und ihr Team sind bereits vor Ort, auch Wittmann. Pesch und Marino ebenso“, sagte Manni.
Als er hinter Ollmarken in nördlicher Richtung auf den Ring abbog, war der Psychologe endgültig verwirrt. „Wo zum Teufel fahren wir hin?“, wollte er wissen.
„Der Fundort liegt in der Nähe von Kochenbach“, erzählte Lüttges, und bevor Delamotte fragen konnte, ergänzte er: „Das liegt im Bezirk Altensteiner Land.“
„Das ist aber ziemlich weit weg von Paulushof“, bemerkte Delamotte.
„Das kannst du laut sagen“, antwortete Lüttges.
Außerhalb des Ortes Kochenbach ging ein Feldweg rechter Hand von der Landstraße ab. Lüttges bog ab, sie fuhren ein ganzes Stück durch Rapsfelder, der intensive Geruch war fast schon unangenehm. Nach einiger Zeit machte der Weg eine Biegung nach links, sie fuhren auf einen Wald zu. Am Waldrand wandte sich der Weg nach rechts, und bereits nach wenigen hundert Metern sah Delamotte eine ganze Reihe geparkter Fahrzeuge.
Lüttges stellte den A4 hinter dem letzten Auto ab. „Ich glaube, von hier geht es zu Fuß weiter“, sagte er.

Sie liefen den Weg weiter, irgendwann entdeckte Delamotte Peschs Mercedes, an der Einmündung eines schmaleren Waldweges standen zwei Uniformierte. Lüttges zeigte seinen Dienstausweis. „Die Hütte liegt ungefähr dreihundert Meter bergauf an diesem Weg“, sagte einer der Kollegen.
Schon von Weitem erspähte Delamotte Hans-Jakob Pesch, der rotblonde Schopf war nicht zu übersehen. Der Hauptkommissar sprach mit einigen Schutzpolizisten, die nach der Ansage teils nach unten Richtung Feldweg, teils in die Gegenrichtung bewegten.
Pesch kam auf Lüttges und Delamotte zu: „Noch sind zum Glück keine Journalisten hier, aber ich befürchte, das wird sich bald ändern“, sagte er. „Die Burschen sollen den Weg von beiden Seiten absperren – ich kann hier keine von den Schreiberlingen brauchen.“ Er führte die beiden in Richtung der Hütte, ringsum suchten Sabines Leute nach Spuren, und Delamotte sah, wie Wittmann über einen leblosen Körper gebeugt war. Näher rangehen wollte er nicht unbedingt.
Sabine Greven gesellte sich zu den Männern. „Was haben wir bis jetzt gefunden?“, fragte Pesch.
„Er trug eine Geldbörse bei sich, mit etwas Bargeld. Ausweis, Führerschein, Bankkarte, Kreditkarte – alles auf seinen richtigen Namen“, zählte die Kriminaltechnikerin auf, „und natürlich die Pistole in seiner Hand.“
„Sieht also ziemlich nach Selbstmord aus“, warf Lüttges ein.
„Sieht vielleicht so aus, ist aber noch nicht wirklich sicher“, erwiderte Sabine, „wir werden noch nach Fingerabdrücken suchen, und Wittmann untersucht den Einschusswinkel und die Position der Waffe in der Hand. In einem Punkt ist sich Hugo bereits sicher: es ist nicht die Tatwaffe von den Morden. Das Modell passt nicht.“
Delamotte hatte eine Frage: „Was ist mit Kommunikationstechnik? Habt ihr zum Beispiel ein Handy gefunden?“
Sabine schüttelte den Kopf: „Nein. Hier genauso wenig wie gestern im Auto und in dieser Ferienwohnung.“
„Das ist merkwürdig“, sagte Lüttges, „der Vermieter der Wohnung hat gestern ausgesagt, er habe Brückner mehrmals mit einem Handy gesehen.“
„Wie weit genau sind wir hier von Paulushof entfernt?“, fragte Delamotte. „Weiß das zufällig jemand?“
Pesch nickte: „Luftlinie über zwanzig Kilometer. Auf Waldwegen deutlich mehr, selbst wenn man den kürzesten Weg nimmt. Einer der Uniformierten hier geht selber gerne Wandern. Er schätzt, dass es von Paulushof bis Kochenbach satt über dreißig Kilometer sind.“
Delamotte erinnerte sich, dass er in seiner Zeit in Amerika öfter mal mit einigen seiner Freunde wandern gegangen war. Dreißig Kilometer ohne jede Verpflegung kamen ihm sehr gewagt vor.

Wittmanns Untersuchung kam zu keinem absolut eindeutigen Ergebnis, aber da er auch keinen Beweis für Fremdverschulden fand, gingen die meisten von einem Selbstmord aus. Zu allererst die Medien: „Der Uhu hat sich selbst gerichtet“, titelte der „Blitz“ schon am Tag danach. Die anderen Zeitungen, und auch die Fernseh- und Radiosender folgten dieser Interpretation. Brückners Foto war überall präsent, schon bald ertranken die Ermittler in Hinweisen, von denen die meisten sich als nutzlos herausstellten. Und nach kurzer Zeit mussten die Ermittlungen eh eingestellt werden.
Delamotte saß gerade mit Marino in dessen Büro, als Pesch in die Tür trat. „Wir sind raus aus dem Spiel“, sagte der Hauptkommissar. Aufgrund des Falles Jensen hatte das Landeskriminalamt übernommen, soweit Pesch bekannt war auf Anordnung von ganz oben. Die örtliche Polizei musste Unterlagen und Artefakte zu Brückner an die Landesbehörde abgeben. Pesch war erkennbar angefressen, aber ihm waren die Hände gebunden.
Am nächsten Tag bat Stegmayer das Team in sein Büro. Er sprach allen Beteiligten seine Anerkennung für die gute Arbeit aus, doch nun lag die Sache nicht mehr bei ihnen und sie konnten sich wieder anderen Aufgaben widmen.
„Was ist eigentlich mit den Akten zu den einzelnen Fällen“, wollte Lüttges wissen.
Pesch antwortete: „Das habe ich mich auch schon gefragt. Angefordert hat das LKA sie nicht. Aber wenn die Jungs am Bismarckring schon die Lorbeeren haben wollen, dann sollen sie auch den Papierkram machen. Wir sammeln das Zeug und schicken es ihnen, mit Schleifchen drum.“
Henseler meldete sich vorsichtig zu Wort: „Sollten wir nicht manchen Sachen doch noch ein bisschen nachgehen? Ich denke da an die Hinweise, die Markus zuletzt gefunden hat. Darüber, wie der Uhu seine Opfer gefunden hat.“
Stegmayer schüttelte den Kopf: „Wie stellst du dir das vor, Niclas? Es ist formell nicht mehr unser Fall.“
Pesch ergänzte: „Und potentiell kommen wir in Teufels Küche, wenn wir im Revier des LKA wildern.“
„Und nur mal angenommen, der Uhu fliegt immer noch da draußen rum, was dann? Er legt vielleicht eine künstlerische Pause ein, und schlägt dann irgendwann wieder zu. Er kann gar nicht anders“, sagte Delamotte.
Stegmayer wollte etwas erwidern, aber Pesch kam ihm zuvor: „Auch wenn mir der Gedankengang nicht gefällt, aber ganz unrecht hat Markus da nicht. Er kann die Fälle ja gerne noch mal gedanklich durchspielen, und die Akten behalten wir erst mal hier. Die Kollegen haben sie ja nicht angefordert. Und falls ein oder zwei Monate ohne weitere Morde ins Land gehen, können wir den Kram immer noch an den Bismarckring schicken.“
„Mit Schleifchen und parfümiert“, warf Maas trocken ein.

Britta Kowallik wurde wach und schaute auf den Wecker. Es war kurz nach halb drei. Sie spürte Erwins warmen Körper neben sich, er übernachtete das erste Mal in ihrer Wohnung. Sie hatte diese Nacht so lange wie möglich hinausgezögert, die ersten drei gemeinsamen Nächte hatten sie bei ihm verbracht. Aber das konnte nicht ewig so weitergehen, irgendwann hätte er gefragt, warum sie ihn nie zu sich nachhause mitnahm. Sie hatte am Vorabend diese Frage für immer ausgeschlossen. Doch im Gegensatz zu Erwin, der ruhig und tief zu schlafen schien, war Britta selber alles andere als ruhig. Ihr Puls schien ihr bedenklich hoch, und einem Teil von ihr war zum Heulen zumute. Vorsichtig verließ sie das Bett und ging leise ins Wohnzimmer.
Aber dort fühlte sie sich kein bisschen besser, im Gegenteil. Sie dachte an die Abende, die sie mit Markus hier gesessen hatte. Mit Markus, der nur wenige Meter entfernt in der Nachbarwohnung schlief. Mit Markus, dessen Empfindungen ihr gegenüber Britta spätestens an dem Abend mit Nicky und Theo klargeworden waren. Mit Markus, der wie eingefroren vor Theo in der Tür gestanden hatte, endlos verunsichert, endlos verletzlich. Mit Markus, dem sie, Britta, weh tun würde. Dabei gab es doch kaum etwas, das Britta Kowallik weniger wollte, als ausgerechnet Markus Delamotte weh zu tun.
Auf emotionaler Ebene war sie bisher mit kaum einem Mann so gut klargekommen wie mit ihm. Höchstens noch mit Radi, aber auch nur in ihren guten Jahren, also vor dem Umzug nach Marßen. Sie hatte manchmal der Stadt die Schuld an ihrer Misere gegeben, hatte die Stadt fast schon gehasst. Dass dies nicht mehr so war, lag zu einem guten Teil auch – ja – an Markus.
Natürlich war sie auch von Beginn an mit Erwin gut klargekommen. Sie hatten sich in der Corrida Bar kennengelernt, sie hatten getanzt, er hatte sie umworben auf ganz klassisch männliche Art. Sie hatten sich ein paarmal getroffen, Erwin war charmant und hatte Sinn für Humor. Als Musiklehrer hatte er ein Händchen für Kinder, Timmy hatte ihn bereits beim ersten Treffen genauso ins Herz geschlossen, wie er Markus ins Herz geschlossen hatte. Britta hatte dies bemerkt und leider war dann dort sofort dieser hässliche Gedanke gewesen. Was, wenn Timmy plaudert? Was, wenn er Markus von Erwin erzählt?
Und Erwin sah vorzeigbar aus, war genau im richtigen Maße älter als sie – und er war, wie sie schon am ersten Abend festgestellt hatte, ein sehr guter Tänzer. Und wie die meisten guten Tänzer ist er auch ein verdammt guter Liebhaber, meldete sich ein kleines Biest in Brittas Hinterkopf. „Halt doch die Klappe, du Schlampe!“ Britta Kowallik biss sich auf die Unterlippe, so laut hatte sie das nicht sagen wollen.
Aber so vollkommen falsch lag dieses kleine Biest in ihrem Hinterkopf ja auch nicht. In den vergangenen vier Jahren hatte Britta eigentlich immer die gleiche Rolle gehabt. Nur diese eine. Sie war eine Mama. Und ja, sie war irrsinnig gerne eine Mama. Timmys Mama. Der Kleine war ihre Rettung gewesen, als Radi nur noch von seiner Karriere getrieben wurde. Sie hatte Timmy alles gegeben, und der Junge hatte ihr so viel mehr zurückgegeben. Aber seit sie von Radi getrennt war, wurde ihr immer klarer, dass sie mehr war als eine Mama. Sie war eine Frau. Und sie wollte sich wieder als Frau fühlen, wollte begehrt werden, wollte selber Begierde empfinden. Dieses Gefühl gab ihr Erwin, er hatte es ihr recht bald gegeben, behutsam, ohne sie zu bedrängen. Erwin war auf jeden Fall aus dem Material, aus dem man eine Beziehung machen konnte. Und selbst wenn dann nach ein paar Monaten keine feste Beziehung daraus würde, wenn es einfach bei einer Affäre bliebe – dann war es zumindest keine billige Affäre, sondern eine von der guten Sorte. Und die Ergebnisse konnten sich bislang ja allemal sehen lassen: sie kleidete sich anders, sie bewegte sich anders, sie verhielt sich anders. All die Lasten aus den letzten Jahren mit Radi waren wie weggezaubert. Sie war sie selbst. Sie gehörte sich selbst.
Für eine bloße Affäre, so ehrlich musste Britta schon sein, war Markus nun wirklich nicht der richtige Mann. Sie dachte zurück: als Teenager hätte sie jeden pummeligen Jungen, der sich für sie interessierte, ausgelacht. Sicher, jetzt war sie über zehn Jahre älter und um etliches reifer und klüger, aber ein Traummann war Markus Delamotte sicherlich nicht. Britta überlegte: was wäre wohl passiert, wenn Markus an irgendeinem dieser gemeinsamen Abende Annäherungsversuche unternommen hätte? Nicht gleich zu Beginn natürlich, aber so nach ein oder zwei Monaten. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht – doch, sie hätte wahrscheinlich nachgegeben. Nicht direkt, sondern nach einigem Hinhalten, den Spielereien eben, die zwischen Männern und Frauen so abliefen. Ja, irgendwann hätte sie nachgegeben. Und es wäre gut gewesen, und für eine Beziehung konnte Markus Delamotte vielleicht der perfekte Mann sein.
Allein, er hatte es nie versucht. Selbst in solchen Momenten nicht, in denen sie sich bemüht hatte, ihm ein paar subtile Botschaften zu schicken. Auch noch zu Zeiten, als sie sich schon mit Erwin getroffen hatte. Aber vielleicht war Markus für all das auch noch gar nicht bereit. Ab und an hatte sie probiert, das Gespräch auf seine vorherige Beziehung zu lenken. Die Versuche hatte sie immer schnell abgebrochen, weil sie diesen tiefen Schmerz in seinen Augen nicht ignorieren konnte. Seine Trennung lag noch nicht so weit zurück wie ihre, die Wunden in seinem Herz waren noch sehr frisch. Und ich blöde Kuh füge ihm gleich noch ein paar neue Wunden hinzu, dachte sie. Aber daran ließ sich ja nichts ändern – gewiss, sie hätte warten können, bis seine Wunden zumindest angefangen hatten, zu heilen. Aber wie lange würde das dauern? Könnte sie so lange warten? Wollte sie das überhaupt?
Britta Kowallik stand auf und ging ins Schlafzimmer, so leise wie sie von dort weggegangen war. Erwin schlief immer noch ruhig und fest. Britta fiel ein weiterer Vorzug auf, den Erwin hatte. In den bisherigen gemeinsamen Nächten hatte er noch nie geschnarcht.

Als sie wieder einschlief, ahnte Britta nicht, dass sie sich in einem Punkt grundlegend geirrt hatte. Delamotte schlief mitnichten – er saß in seinem Arbeitszimmer und reflektierte die jüngsten Ereignisse. Dem Umstand, dass die Landesbehörden die Ermittlungen an sich gezogen hatten, schenkte er dabei wenig Aufmerksamkeit. Sicher, an Brückner war einiges nicht in Ordnung. Und dass die Politik sich jetzt in den Fall einmischte, bestätigte Delamottes Verdacht weit eher, als dass es ihn ausräumte.
Aber die Frage, die den Psychologen beschäftigte, war keine politische. Hatten sie den Uhu, oder hatten sie ihn noch nicht? Und verdammt viele Punkte ließen ihn zur zweiten Möglichkeit tendieren. Am stärksten natürlich die Waffe, die sie bei Brückner gefunden hatten – die Waffe, mit der er auf den Beamten Graumann geschossen hatte. Die Waffe, mit der er – vermutlich – Selbstmord begangen hatte. Und die eben eine andere war als jene, mit denen der Uhu seine Morde begangen hatte. Wo war diese andere Waffe eigentlich abgeblieben? Wenn Brückner der Uhu war: warum hatte er dann die andere Waffe nicht irgendwo bei sich?
Dann war da diese enorm lange Zeitspanne zwischen den Momenten, in denen der Uhu seiner Opfer bewusst wurde, und denen in den er zuschlug. Falls Delamottes Theorie bezüglich der Aufschriften auf den Autos zutraf – und er hatte keine Zweifel an der These – dann hatte der Täter Jensen im Sommer 1996 bemerkt. Das lag noch vor Brückners Gang in die zumindest formelle Selbständigkeit. Und auch die Beobachtung Karlheinz Sötenichs durch den Uhu, etwa anderthalb Jahre später, lag lange vor dem Zeitpunkt, an dem Brückner Brandenburg verlassen hatte.
Überhaupt Sötenich. Delamotte hatte Manuela Sötenich telefonisch auf Brückner angesprochen, das Bild war ja in allen Medien präsent. Nein, Sötenichs Exfrau hatte sich ganz eindeutig geäußert, dieser Mann hatte keinerlei Ähnlichkeit mit demjenigen, der ihren Gatten seinerzeit beschattet hatte. Und von Sabine Greven hatte Delamotte erfahren, dass Brückners Fingerabdrücke nicht mit denjenigen übereinstimmten, die sie auf der Bonbonpackung aus dem Münsterland gefunden hatten.
Delamotte war sich völlig klar darüber, dass es auf jeden seiner Einwände mögliche Erwiderungen gab. Die Waffe, mit der die Morde des Uhu begangen worden waren, mochte noch in einem anderen Versteck Brückners liegen. Bei den vielen Identitäten, die der Mann hatte, konnte es noch unzählige solcher Verstecke geben. Ob der Täter seine Opfer tatsächlich anhand von Firmenaufschriften identifiziert hatte, konnte niemand wissen. Es gab einiges, das für diese Theorie sprach, aber es war eben eine Theorie. Und den heißesten Verdächtigen konnte man nicht mehr befragen. Und ob der Mann, der Karlheinz Sötenich überwacht hatte, wirklich mit dem Uhu identisch war, konnte man auch nicht mit Sicherheit feststellen. Ebenso wenig wie die Frage, ob die Packung Bonbons, die von der Polizei auf dem Autobahnparkplatz gefunden worden war, überhaupt vom Mörder Rolf-Rüdiger Jensens stammte.
Aber für Delamotte gab es noch einen weiteren Punkt, der gegen die Identität Ulrich Brückners mit dem Uhu sprach. Das war die dem Uhu sehr eigene, von ihm mühsam verborgene aber doch nicht zu übersehende Impulsivität. Out of control, hatte Henseler das genannt. Und dieser Ausdruck passte auf ihren Täter sehr gut – und es passte nicht zu dem Bild eines kontrollierten, disziplinierten Mannes, wie Delamotte ihn bei der Stasi eigentlich erwartet hätte. Aber vielleicht waren er und Henseler auch zu sehr westdeutsch geprägt, dachte er.